Eine Maus und ein Sperling lebten einmal genau dreißig Jahre in großer Freundschaft: was eines von ihnen auch fand, alles wurde geteilt. Eines Tages fand aber der Sperling ein Mohnkorn. »Was soll man da teilen?« dachte er, »pickt man ein einziges Mal hin, bleibt schon nichts mehr übrig!« Da schluckte er denn allein das Körnchen hinunter. Doch die Maus erfuhr davon und wollte mit dem Sperling nicht länger zusammenleben. »Laß uns auf Tod und Leben kämpfen«, sprach sie. »Versammle du alle Vögel, ich rufe alle vierfüßigen Tiere zusammen!« Und so geschah es: die Vögel und die vierfüßigen Tiere versammelten sich und schlugen sich lange, lange herum. In diesem Kampfe wurde ein Adler verwundet; er flog auf eine Eiche und setzte sich auf einen Ast. Zu dieser Zeit[181] jagte jedoch ein Bauer im Walde und hatte gar kein Glück. »Wenigstens einen Adler will ich schießen«, dachte der Bauer. Er hatte aber noch nicht Zeit gehabt, nach der Flinte zu greifen, als der Adler mit menschlicher Stimme sprach: »Töte mich nicht, guter Gesell! Ich hab dir ja nichts Böses getan.« Da ging der Bauer weiter und wanderte lange umher, aber bekam nicht einen einzigen Vogel zu Gesicht. Er ging zum zweitenmal zu der Eiche und wollte den Adler schießen. Und schon hatte er angelegt, als der Adler ihn wieder bat, ihm sein Leben zu lassen. Der Bauer ging weiter, wanderte lange umher und fand nichts. Wiederum kam er zum Adler, zielte und schoß ab, doch die Flinte versagte. Der Adler aber sprach: »Töte mich nicht, guter Gesell! Einmal werd ich dir von Nutzen sein. Nimm mich lieber zu dir, pflege mich und mache mich gesund!« Der Bauer hörte auf ihn, trug den Adler in seine Hütte und fütterte ihn mit Fleisch: schlachtete ihm mal ein Schaf, mal ein Kalb.
Der Bauer lebte aber nicht allein im Hause, sondern hatte eine große Familie, und die fing an zu murren, weil er alles für den Adler hingab. Der Bauer duldete es lange Zeit, endlich aber sagte er zum Adler: »Flieg fort, wohin du willst; ich kann dich nicht länger bei mir behalten.« – »Laß mich erst meine Kräfte erproben«, antwortete der Adler. Und er schwang sich hoch hinauf, ließ sich wieder auf die Erde nieder und sprach zum Bauern: »Behalt mich noch drei Tage bei dir!« Der Bauer war's zufrieden. Drei Tage vergingen. Sprach darauf der Adler zum Bauern: »Die Zeit ist gekommen, miteinander abzurechnen; setz dich auf mich.« Der Bauer saß auf; der Adler schwang sich in die Höhe und wandte sich zum blauen Meer. Er flog ein Stück über das Ufer hinaus und sprach zum Bauern: »Schau dich um und sag mir, was ist hinter uns und was ist vor uns, was ist über uns und was ist unter uns?« Der Bauer antwortete: [182] »Hinter uns ist Land, vor uns das Meer, über uns der Himmel, unter uns das Wasser.« Da schüttelte sich der Adler, und der Bauer stürzte ab; doch der Adler ließ ihn nicht ins Wasser fallen, sondern fing ihn im Fluge wieder auf. Er flog dann bis zur Mitte des blauen Meeres und fragte abermals: »Was ist hinter uns und was ist vor uns, was ist über uns und was ist unter uns?« – »Hinter uns ist das Meer und vor uns ist das Meer, über uns der Himmel, unter uns das Wasser.« Der Adler schüttelte sich, und der Bauer stürzte ab und fiel ins Meer; der Adler ließ ihn aber nicht versinken, sondern packte ihn und setzte ihn sich wieder auf. Sie näherten sich darauf dem andern Ufer, und abermals fragte der Adler: »Was ist hinter uns und was ist vor uns, was ist über uns und was ist unter uns?« Antwortete der Bauer: »Hinter uns ist das Meer, vor uns das Land, über uns der Himmel, unter uns das Wasser.« Der Adler schüttelte sich, und der Bauer fiel ins Wasser, sank ganz unter und ertrank schon um ein Haar, doch der Adler zog ihn heraus, setzte ihn sich auf und sagte: »War's dir angenehm, zu versinken? So war auch mir zumute, als ich auf dem Baume saß und du mit der Flinte auf mich zieltest. Jetzt haben wir im Bösen miteinander abgerechnet, laß uns nun im Guten abrechnen.«
Sie flogen auf festes Land; war es nah davon, war es weit? – da sahen sie auf einmal eine kupferne Säule mitten auf dem Felde stehn. »Lies die Aufschrift auf der Säule«, befahl der Adler; und der Bauer las: »Fünfundzwanzig Werst hinter dieser Säule liegt die Kupferstadt.« – »Geh in die Kupferstadt, dort wohnt meine Schwester. Bitt sie um das kupferne Kästchen mit dem kupfernen Schlüsselchen; doch was sie dir auch wird geben wollen, nimm nichts von [183] alledem – weder Gold, noch Silber, noch Edelsteine.« Der Bauer kam in die Stadt und ging geradeswegs zu der Zarin. »Guten Tag! dein Bruder schickt dir einen Gruß.« – »Woher kennst du meinen Bruder?« – »Ich hab ihn ja gefüttert, als er krank war, drei lange Jahre.« – »Dank dir dafür, Bäuerlein! Hier hast du Gold und Silber und Edelsteine; nimm, soviel dein Herz begehrt!« Der Bauer nahm aber nichts davon und bat nur um das kupferne Kästchen mit dem kupfernen Schlüsselchen. Sie verweigerte es ihm jedoch und sprach: »Nein, mein Täubchen, das ist mir gar zu teuer!« – »Ist es dir zu teuer, so brauch ich gar nichts weiter.« Er verneigte sich, ging zur Stadt hinaus und erzählte alles dem Adler. »Das macht nichts«, sagte der Adler, »setz dich nur auf mich.« Der Bauer saß auf, und sie flogen dahin.
Da stand mitten auf dem Felde eine Säule, ganz von Silber war sie. Der Adler ließ den Bauern die Aufschrift lesen, und er las: »Fünfzig Werst hinter dieser Säule liegt die Silberstadt.« – »Geh in die Silberstadt, dort wohnt meine zweite Schwester. Bitt sie um das silberne Kästchen mit dem silbernen Schlüsselchen.« Der Bauer kam in die Stadt und ging geradeswegs zu der Zarin, des Adlers Schwester. Er erzählte ihr, wie der Bruder bei ihm gelebt und wie er ihn gepflegt und gefüttert habe, und bat um das silberne Kästchen mit dem silbernen Schlüsselchen. »Es ist wahr«, sprach die Zarin, »du hast meinen Bruder gerettet; nimm daher, soviel du willst, an Gold, Silber und Edelsteinen, doch das Kästchen geb ich nicht her.« Der Bauer ging zur Stadt hinaus und erzählte alles dem Adler. »Das macht nichts«, sagte er, »setz dich nur auf mich.« Der Bauer saß auf, und sie flogen dahin.
Da stand mitten auf dem Felde eine Säule, ganz von Gold war sie. Der Adler ließ den Bauern die Aufschrift [184] lesen, und der las: »Hundert Werst hinter dieser Säule liegt die Goldstadt.« – »Geh hin; in dieser Stadt wohnt meine Lieblingsschwester«, sagte der Adler, »bitt sie um das goldne Kästchen mit dem goldnen Schlüsselchen.« Der Bauer ging geradeswegs zu der Zarin, des Adlers Schwester, und erzählte ihr, wie der Adler bei ihm gelebt habe und wie er den Kranken gepflegt und womit er ihn gefüttert und getränkt habe, und bat um das goldne Kästchen mit dem goldnen Schlüsselchen.
Die Zarin sagte nichts dagegen und gab ihm gleich das Kästchen. »Ist mir das Kästchen auch lieb, ist mir der Bruder noch lieber!« Der Bauer nahm das Geschenk und ging zur Stadt hinaus zum Adler. »Geh jetzt nach Hause«, sagte der Adler, »aber hüte dich und öffne das Kästchen nicht eher, als bis du zu Hause sein wirst.« So sprach er und flog davon.
Der Bauer blieb lange fest, obwohl ihn die Neugier plagte; er brachte es jedoch nicht fertig, die Zeit abzuwarten, und öffnete das goldne Kästchen, noch ehe er zu Hause war. Kaum hatte er es aber aufgemacht, so entstand vor ihm die goldne Stadt. Der Bauer verschlang sie mit den Augen und konnte sich nicht satt sehen; ein Wunder schien es ihm, daß aus dem Kästchen die ganze große Stadt herausgesprungen war! Unterdessen schickte aber der Zar, in dessen Land die goldne Stadt entstanden war, zum Bauern und ließ ihm sagen, er solle ihm entweder die Stadt überlassen oder das, was er zu Hause habe, wovon er jedoch nichts wisse. Die Stadt wollte der Bauer nicht hergeben und dachte bei sich: »Das wegzugeben, wovon ich nichts weiß, wird mir nicht leid sein!« Und er entschied sich für das zweite. Kaum hatte er aber seine Antwort gesagt, war die Stadt verschwunden; der Bauer stand allein auf weitem Feld, und neben ihm lag das goldne Kästchen mit dem goldnen Schlüsselchen. Der Bauer nahm das Kästchen auf und wanderte heimwärts. [185] Als er aber in sein Haus trat, kam ihm sein Weib mit einem Säugling entgegen, den sie geboren hatte, während der Bauer fortgewesen war. Jetzt erst ward er gewahr und erkannte, was der Zar des heidnischen Landes von ihm gefordert hatte. Doch nun war nichts mehr zu machen. Er ließ die goldne Stadt entstehn und zog seinen Sohn auf bis zu der Zeit, da er ihn fortgeben sollte. Und als der Sohn achtzehn Jahre alt geworden war, ließ der Zar des heidnischen Landes sagen, daß es Zeit sei abzurechnen. Weinend gab der Bauer seinem Sohn den Segen und schickte ihn zum Zaren.
Der kühne Bursch ging über Weg und Steg, kam an den Donaufluß und ließ sich dort am Ufer nieder, um sich auszuruhen. Da sah er zwölf Jungfrauen, eine schöner als die andere! Sie kleideten sich aus, verwandelten sich in graue Enten und flogen fort, um sich zu baden. Der Jüngling schlich sich hinzu und nahm einem der Mädchen das Gewand weg. Als sich die Enten genug im Bade getummelt hatten, flogen sie ans Ufer. Alle zogen sich wieder an, nur der einen fehlte ihr Kleid. Die andern flogen fort, diese aber weinte und bat den kühnen Burschen: »Gib mir mein Gewand wieder; einmal werd ich dir noch von Nutzen sein.« Der Jüngling überlegte sich's lange und gab ihr das Kleid zurück.
Darauf kam er zum heidnischen Zaren. »Hör, guter Gesell!« sprach der Zar des heidnischen Landes, »such meine jüngste Tochter unter allen zwölfen heraus; findest du sie richtig heraus, so laß ich dich frei in alle vier Winde laufen, wenn aber nicht, so gib dir selbst die Schuld!« Doch als der kühne Bursch den Palast verließ, kam ihm die jüngste Zarentochter entgegen und sprach: »Du gabst mir mein Gewand zurück, guter Gesell, drum will ich dir von Nutzen sein. Morgen wird dir mein Vater uns Schwestern alle zeigen [186] und dir befehlen, mich herauszufinden. Wir sind aber alle eine der andern gleich; drum gib acht: auf meinem linken Ohr wird eine Mücke sitzen.« Am Morgen rief der heidnische Zar den Jüngling zu sich, zeigte ihm seine zwölf Töchter und sprach: »Rate, welche meine jüngste Tochter ist!« Der kühne Bursch schaute sie sich an: auf die wies er hin, der eine Mücke auf dem linken Ohre saß. Da brüllte der Zar und schrie: »Hör, mein Bursch! Betrug ist dabei, aber mit mir ist nicht zu spaßen. Errichte mir bis morgen einen weißsteinernen Palast; meiner, schau, ist alt geworden, da will ich in den neuen ziehen. Vollbringst du's, geb ich dir die jüngste Tochter zur Frau, wenn nicht, freß ich dich lebendig auf!« Da ward der Jüngling traurig und verließ den heidnischen Zaren, die Zarentochter aber kam ihm entgegen und sprach: »Gräm dich nicht, bet zu Gott und leg dich schlafen; bis morgen wird alles fertig sein.« Der kühne Bursch legte sich zur Ruhe und schlief ein.
Am Morgen schaute er zum Fenster hinaus: der neue Palast stand fertig da, und die Meister gingen herum und schlugen hier und da noch einen Nagel ein. Der Zar des heidnischen Landes gab dem kühnen Jüngling seine jüngste Tochter zur Frau; sein Zarenwort wollte er nicht brechen. Aber auch seine bösen Pläne wollte er nicht aufgeben, sondern gedachte den Jüngling mitsamt der Tochter lebendig aufzufressen. Die junge Frau ging nachzuschauen, was der Vater und die Mutter machten; sie kam zur Tür und hörte, wie sie Rat hielten und beschlossen, die Tochter und den Schwiegersohn aufzufressen.
Die Zarentochter lief zu ihrem Mann, verwandelte ihn in einen Tauber und sich selbst in eine Taube und flog mit ihm seiner Heimat zu. Das erfuhr der heidnische Zar und ließ ihnen nachsetzen. Die Verfolger jagten hinterher, aber holten niemand ein; sie sahen nur einen Tauber und eine Taube [187] und kehrten um. »Wir haben sie nicht eingeholt«, sagten sie zu ihrem Zaren, »nur einen Tauber und eine Taube sahen wir.« Der Zar erriet, daß sie das gewesen waren, ward zornig auf die Verfolger, ließ sie hängen und schickte neue aus. Die jagten nach und eilten dahin und kamen an einen Fluß; an diesem Fluß aber stand ein Baum. Da sahen die Verfolger, daß dort niemand zu finden war, kehrten zum Zaren zurück und erzählten ihm vom Fluß und vom Baum. »Das waren sie ja!« schrie der Zar des heidnischen Landes, ließ auch diese Verfolger hängen und jagte selbst hinterher. Er ritt und ritt und kam zu einem Gotteshaus. Er trat ein, aber dort ging nur ein alter Mann herum und zündete die Lichter vor den Heiligenbildern an. Da fragte ihn der Zar, ob er die Flüchtlinge nicht gesehen habe? Der Alte antwortete, daß sie schon längst in der goldenen Stadt angelangt seien, die hundert Werst weiter liege. Da schlug der Zar aus Wut gegen die Erde, doch zu machen war nichts mehr, er mußte umkehren. Kaum war er aber fort, so verwandelte sich die Kirche in die Zarentochter und der alte Mann in den kühnen Jüngling. Sie küßten sich und gingen zu Vater und Mutter in die goldene Stadt, die hundert Werst von dort lag. Sie kamen hin und wohnten in der Stadt und lebten glücklich und zufrieden und mehrten ihr Hab und Gut.
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