[294] 51. Marjuschka

[294] Es war einmal ein Bauer, der hatte fürchterlich viel Kinder; und da gebar ihm sein Weib noch ein Mädchen dazu. Er hatte bereits nichts mehr, worin er das Kind einwickeln und wohin er es legen konnte, darum bedeckte er es mit Birkenrinde, trug es in den Wald und legte es an einem Baumstumpf nieder. Die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin hob das Mädchen auf, brachte es zu sich in die Kirche und pflegte und nährte es dort. Es wuchs nicht nach Jahren, sondern nach Stunden, und wuchs stattlich heran. Die Mutter Gottes gab ihm den Namen Marjuschka. Und sie sprach zu dem Mädchen: »Höre, Marjuschka, geh in die Kirche, aber schau nicht zum Altar hinein.« Sie selbst aber ging in den Altarraum. Das Kind lief in der Kirche umher – und guckte zum Altar hinein: da trug die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin Christus auf ihren Armen. Dann lief das Mädchen in der Kirche umher und schaute wieder zum Altar hinein: da wickelte die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin Christus ein. Und wiederum lief das Kind in der Kirche umher und guckte abermals zum Altar hinein: da setzte die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin Christus auf den Thron. Danach kam sie jedoch hervor und fragte: »Bist du in der Kirche umher gegangen, Marjuschka?« – »Ja«, antwortete das Mädchen. »Hast du nicht zum Altar hineingeschaut?« – »Nein, Mütterchen, ich hab nicht hineingeschaut.« – »O Marjuschka, gesteh es nur, sonst wird dir's schlecht ergehn.« – »Und wenn's mir auch schlecht ergehn soll, Mütterchen, ich hab nicht hineingeschaut.«

[295] Die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin führte Marjuschka zurück in den wilden Wald und ließ sie dort allein.

Das Mädchen ging lange, lange im Walde umher und kam endlich in einen Garten und von dort in eine Stadt. In dieser Stadt aber fand sich niemand, der für den Zaren ein Kleid nähen konnte. Was man auch zusammennähte, bald war es zu kurz, bald zu lang, bald zu eng, bald zu weit. Marjuschka rühmte sich: »Ich würd eurem Zaren ein Kleid schon nähen können.« Gleich hinterbrachte man's dem Zaren, und er rief das Mädchen zu sich und gab ihr den Stoff zum Kleide. Sie schnitt ihn zu und nähte das Kleid für den Zaren. Er legte es an, und es war nicht zu eng und nicht zu weit, nicht zu lang und nicht zu kurz, wie angegossen saß es!

Der Zar freite um Marjuschka und nahm sie zur Frau. Sie wurde schwanger und gebar ein Söhnchen. Und der Zar schickte sie mit ihren Ammen, ihren Wärterinnen und Dienerinnen ins Bad. Sie kam hin, aber die Ammen und Wärterinnen schliefen dort alle ein. Da öffnete sie die Decke, und die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin erschien. »Bist du in der Kirche umhergegangen?« – »Ja, ich bin umhergegangen.« – »Hast du nicht zum Altar hineingeschaut?« – »Nein, Mütterchen, ich hab nicht hineingeschaut.« – »Gesteh, sonst reiß ich dem Kindlein Hand oder Fuß ab!« – »Und reißt du auch Hand oder Fuß ab, ich hab nicht hineingeschaut.« Die Mutter Gottes riß dem Kinde die Hand ab und stopfte sie Marjuschka in den Mund, dann nahm sie das Söhnchen mit sich fort. Die Ammen und Wärterinnen erwachten und berichteten dem Zaren, daß sein Weib das Kind aufgegessen habe. »Die erste Schuld sei ihr verziehen«, sagte der Zar.

Hernach lebten sie miteinander, war es kurz oder lang, [296] da ward die Zarin abermals schwanger und gebar ein Söhnchen. Der Zar schickte sie mit ihren Ammen, ihren Wärterinnen und Dienerinnen ins Bad. Sie kam hin, aber die Ammen und Wärterinnen schliefen dort alle ein. Da öffnete sich die Decke, und die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin erschien. »Bist du in der Kirche umhergegangen, Marjuschka?« – »Ja, ich bin umhergegangen.« – »Hast du nicht zum Altar hineingeschaut?« – »Nein, Mütterchen, ich hab nicht hineingeschaut.« – »Gesteh, sonst reiß ich dem Kindlein den Fuß ab!« – »Und reißt du ihn auch ab, ich hab nicht hineingeschaut.« Die Mutter Gottes riß dem Kinde den Fuß ab und stopfte ihn Marjuschka in den Mund, dann nahm sie das Söhnchen mit sich fort. Die Ammen und Wärterinnen erwachten und berichteten dem Zaren: »Dein Weib hat das Kind aufgegessen. Ein Beinchen stak ihr im Munde.« – »Die zweite Schuld sei ihr vergeben«, sagte der Zar.

Wieder verging ein Jahr. Die Zarin gebar ein Söhnchen. Der Zar schickte sie mit ihren Ammen, ihren Wärterinnen und Dienerinnen abermals ins Bad. Dort schliefen die Ammen und Wärterinnen alle ein. Die Decke öffnete sich, und die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin erschien. »Bist du in der Kirche umhergegangen, Marjuschka?« – »Ja, ich bin umhergegangen.« – »Hast du nicht zum Altar hineingeschaut?« – »Nein, Mütterchen, ich hab nicht hineingeschaut.« »Gesteh, sonst reiß ich dem Kindlein den Kopf ab!« – »Und reißt du auch den Kopf ab, ich hab nicht hineingeschaut.« Die Mutter Gottes riß dem Kinde den Kopf ab und stopfte ihn Marjuschka in den Mund. Die Ammen und Wärterinnen [297] erwachten und berichteten dem Zaren: »Dein Weib hat das Kind aufgegessen. Der Kopf stak noch im Munde.« – »Nehmt sie, bindet ihr einen Stein um und werft sie mitten in den Fluß«, sagte der Zar. Sie banden ihr einen Stein um, brachten sie fort und warfen sie mitten in den Fluß. Sie dachten, daß sie ertrunken sei, aber die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin hatte sie herausgezogen.

Darauf sah man sie, wie sie am Ufer entlangging, und hinterbrachte es dem Zaren. Er sagte: »Packt sie, entzündet ein Feuer und werft sie hinein.« Sie taten, wie ihnen befohlen war, und warfen die Zarin in die Flammen, aber die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin ließ es nicht zu und zog sie heraus. Und wiederum ging sie umher. Man sagte es dem Zaren, und er befahl: »Packt sie, stoßt ihr die Augen aus und führt sie in die Wildnis.« Sie gehorchten, stießen ihr die Augen aus und führten sie in die Wildnis. Zu ihr kam aber die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin und sprach: »Bist du in der Kirche umhergegangen, Marjuschka?« – »Ja, ich bin umhergegangen.« – »Hast du nicht zum Altar hineingeschaut?« – »Ja, ich hab hineingeschaut, Mütterchen, und bin schuldig.« – »Na also, Marjuschka, längst hättest du es sagen sollen, dann hättest du keine Qualen erlitten.« Sie gab ihr das Gesicht wieder, und Marjuschka konnte wieder sehen. Die heilige Mutter und Gottesgebärerin brachte die drei Söhne herbei; inzwischen waren sie gesund und groß geworden. Die Mutter Gottes hatte nur so getan, als ob sie die Hand oder den Fuß abgerissen hätte.

So lebte nun Marjuschka teils im Walde, teils auf der [298] Steppe; aber auch ein Haus war für sie da, und dort wohnte sie. Einmal betete sie mit ihren Kindern, da sagte das älteste: »Wie wär es, Mutter, wenn hier bei uns ein Fluß vorbeiginge und Schiffe auf ihm schwämmen?« Der zweite Knabe sagte: »Wie wär es, wenn es hier Felder gäbe und die Scheuern voller Korn lägen?« Der jüngste Sohn aber sagte: »Wie wär es, Mütterchen, wenn hier an der Freitreppe eine Eiche stände und auf ihr ein Kater säße, der beim Vorwärtsgehn Märchen erzählte, beim Rückwärtsgehen schnurrige Geschichtchen?« Sie schliefen bis zum Morgen, und was die Kinder am Abend sich gewünscht hatten, alles war erfüllt: der Fluß ist da, die Scheuern sind voller Korn, und auch das übrige fehlt nicht.

Es kamen Schiffe angefahren, und die Mutter fragte: »Wer und woher seid ihr, Leute?« – »Wir sind aus dem und dem Reich.« Und sie nannten das Zarenreich, wo Marjuschka Zarin gewesen war. Die Schiffer blieben zu Gast. Nachher machten sie sich wieder auf den Rückweg und sagten: »Mütterchen, laß doch den ältesten Burschen mit uns fahren; mag er reisen und das Zarenreich kennenlernen.« Sie ließ ihn mitfahren und gab ihm ein Tüchlein auf den Weg, darein wickelte sie ein Geschenk für den Zaren. Und die Schiffsleute langten bei dem Zaren an und brachten ihm Gaben dar. Aber der Zar freute sich nicht so sehr über die Geschenke, als über den Knaben, und fragte, von wo sie den hätten. Sie erzählten, daß an jenem Ort ein Haus stehe und darin lebe eine Alte mit ihren drei Söhnen. Der Zar aber konnte sich am Knaben nicht satt sehen. Doch die Schiffsleute fuhren wieder weiter, und der Zar ließ den Knaben zu seiner Mutter heimkehren.

[299] Darauf bat der zweite Sohn: »Mütterchen, der Bruder war beim Zaren, laß nun auch mich hin und den Zaren schauen.« Die Schiffsleute fuhren fort, und die Mutter ließ auch den zweiten Knaben reisen und gab ihm ein Geschenk für den Zaren mit. Der freute sich nicht so sehr über das Geschenk, als über den Knaben, und behielt ihn eine Zeitlang als Gast. Dann kehrte der zweite Sohn heim zur Mutter.

Nun wollte der dritte mit und sprach: »Die Brüder waren fort, nur ich bin noch nicht hingefahren.« Die Mutter ließ auch den dritten Sohn mit, wickelte ein Geschenk in ein Tuch und hieß den Zaren zu sich zu Gast laden. Der freute sich nicht so sehr über das Geschenk, als über den Knaben, und sein Herz wollte fast stillestehn, als er ihn sah. Der dritte Sohn blieb beim Zaren als Gast, dann machte er sich auf, um heimzukehren, und sagte: »Zar, mächtiger Herr, die Mutter befahl, dich zu ihr einzuladen.« – »Heute hab ich keine Zeit«, sagte der Zar, »aber vielleicht morgen!«

Der jüngste Sohn kehrte heim, und die Mutter fragte: »Wie ist's, hast du den Zaren gebeten zu kommen?« – »Ja, Mutter, zu morgen hat er's versprochen.«

Am nächsten Tage befahl die Mutter, den ganzen Hof und den ganzen Weg von der Anlegstelle der Schiffe bis zum Tor mit rotem Tuch zu bedecken. Und so geschah es. Sie schauten hinaus: da kam der Zar auf dem Schiff gefahren. »Wie sollen wir ihn begrüßen, Mütterchen?« fragten die Kinder. »Wie ihr ihn grüßen sollt? Fallt auf die Knie, wenn er kommt, denn euch ist er nicht Zar, sondern Vater!« Der Zar kam eilends gelaufen. Sie beugten alle die Knie vor ihm, und auch die Mutter tat es. Er aber erkannte sie sofort. »Knie nicht nieder«, sprach der Zar, »ich bin schuldig vor dir!«

[300] »Nein, ich habe die Schuld, denn ich tat nicht Buße vor der allerheiligsten Mutter und Gottesgebärerin.« Und sie erzählte ihm, was mit ihr geschehen war. Der Zar freute sich über alle Maßen und brachte sie alle und ihr ganzes Hab und Gut auf das Schiff. Kaum waren sie aber aus ihrem Hause hinausgegangen, da war es verschwunden: die allerheiligste Mutter und Gottesgebärerin hatte es fortgenommen.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 294-301.
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