57. Der Retezatu

[296] Ein mächtiger Herrscher hinterließ sterbend seinen beiden Kindern, einer Tochter und einem Sohn, sein Land, nachdem er es in zwei Hälften geteilt hatte. Als die beiden von ihrem Erbteil Besitz genommen hatten, begaben sie sich, um jedes das seine zu übersehen, vielleicht es auch gegenseitig zu messen, auf die höchsten Höhen. So stand der Sohn auf dem jetzigen Retezatu, der höchsten Bergkuppe des Hatzeger Tals in Siebenbürgen, und die Schwester, die zugleich eine Zauberin war, auf der Ruschika, welches Gebirge sich nördlich von der Almasch und westlich vom Retezatu befindet. Aus Neid nun darüber, daß das Land ihres Bruders schöner, nicht so steinig und gebirgig war wie das ihre, schleuderte sie nach ihm mit einer Pflugschar, die ihn aber glücklicherweise nicht traf, sondern nur einen großen Teil des Berges, auf dem er stand, abschnitt. Dieses ist noch bis auf den heutigen Tag an einer senkrecht abfallenden Felswand zu sehen, weswegen der Berg mit Recht »der Abgeschnittene« (Retezatu) heißt.

Quelle:
Schott, Arthur und Albert: Rumänische Volkserzählungen aus dem Banat. Bukarest: Kriterion, 1975, S. 296.
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