112. Der Fremde

[489] Eine junge Frau war allein zu Hause. Sehnsucht und Gram verzehrten sie. Sehnsucht nach ihrer Heimat, ihrer Mutter, Gram über ihren schlechten Mann, der immer auf Raub ausging. »O Mutter, meine Mutter, warum hast du mich fortgegeben, einem Fremden in ein fremdes Dorf?« klagte sie weinend. »Es wollten mich viele Burschen aus der Heimat, aber an jedem fandest du Fehler, keiner war gut genug für deine Tochter. Du gabst sie fort einem großen Räuber, freilich, wie konntest du wissen, was er bezahle. Ich war zu Hause nicht gewöhnt, geraubtes Brot zu essen, blutige Wäsche zu waschen.«

Als der Mann nach Hause kam, bemerkte er noch die Spuren der Tränen in den Augen seiner Frau und ihre Trauer. »Warum hast du geweint?« fragte er sie. »Geweint habe ich nicht, hatte grünes Eichenholz verbrannt, der Rauch trieb mir die Tränen in die Augen.« – »Mein junges Frauchen, warum trauerst du so sehr? Oder sehnst du dich nach deiner Mutter?« – »Nach meiner Mutter habe ich mich immer gesehnt und sehne mich auch heute.« – »Oh, mein Frauchen, gedulde dich nur ein wenig, nur bis der nächste Tag anbricht. Den Wagen will ich schmieren, die Deichsel umkehren, um dich morgen zu deiner Mutter zu bringen.«

Als es Tag wurde, befahl er dem Kutscher, die Pferde an den Wagen zu spannen, damit er zu den Schwiegereltern[489] fahre. Als dann alles fertig war, rief er ins Haus hinein: »Meine Frau, nimm dir den desagă (Zwerchsack, ohne welchen die Rumäninnen nie über Land gehen) in die Hand und komme.«

Nun fuhren sie und fuhren bis an ein Wirtshaus, das an der Straße lag. Er stieg ab, ging hinein und brachte eine Maß Wein, bot auch seiner Frau an. »Nimm du, trinke noch einmal Wein von mir, von heute an wirst du keinen mehr trinken.« – »Ich brauche deinen Wein nicht, noch sonst etwas anderes von dir, du hast mir schwere Gedanken gemacht, auch mein Herz ist schwer zum Sterben.« Nun fuhren sie weiter bis an einen See, er befahl dem Kutscher zu halten, damit die Pferde ein wenig ausruhten, bis dann solle er drei Messer wetzen. »Was sollst du denn mit den geschärften Messern?« fragte die Frau in großer Angst. »Dir den Kopf abschneiden, wie ich's schon zehn Frauen getan.« Die Frau erschrak und rief den Kutscher: »Kutscher, lieber Kutscher, geh in mein Dorf und läute die Totenglocke, damit die Leute meinen Tod erfahren. Getötet vom eignen Mann.« Sie hatte kaum ausgeredet, so lag der Kopf auch schon auf der Erde. Der Mörder hob ihn auf und legte ihn in die glugă (eine Kopfbedeckung zum Schutze gegen den Regen, aus einem wollenen Tuch kapuzenförmig zusammengeheftet). Dann fuhren sie weiter bis vor der Schwiegereltern Tor. Er schlug einmal mit dem Fuß hinein und schrie: »Mach auf, Schwiegermutter, die Frau hab' ich gelassen in einem Blumengarten mit Korn, im Blute bis an den Gürtel.« Er schlug auch zum zweiten Mal mit dem Fuße ins Tor: »Mach auf, Schwiegermutter, das Tor, die Frau hab' ich gelassen in einem Blumengarten im Blute bis an Herz.« Noch einmal stieß er mit voller Kraft ins Tor, daß es in vier Teile zersprang. Nun kam er in den Hof, wurde freundlich von der nichtsahnenden[490] Schwiegermutter empfangen, gut bewirtet mit Speise und Trank.

Erst am dritten Tage begann sie: »Wie kommt es nur, daß wir hier drei Tage miteinander gegessen und getrunken haben, ohne daß du mir etwas von meinem Kinde erzählt und ich erst jetzt auf sie frage?« – »Schwiegermutter, Schwiegermutter, du saurer Apfel, geh in den Keller und bring mir ein wenig Sauerkraut, ich überbringe dir sehnsüchtige Grüße von deiner Tochter.« Die Alte ging und brachte Sauerkraut auf den Tisch. Während sie aber noch im Keller war, hatte er den Kopf der jungen Frau auf den Tisch gestellt. Als sie zurückkam, hielt sie sich an der Stuhllehne fest, vor Schreck gelähmt, und sprach mit verlöschender Stimme: »O mein Kind, mein Töchterchen, so was hab' ich immer gefürchtet, es hat mir immer am Herzen genagt, seit du ein kleines Kind warst. Ich rief dich von der Nachbarin, wo ich dich gut aufgehoben wußte, du kamst aus dornigem Gestrüpp hervor, ich wußte dich auf blumiger Wiese, du hieltest dich zwischen harten Erdschollen auf, ich suchte dich bei guten Freunden und fand dich zwischen Feinden.«


Anisie Preda, Marpod

Quelle:
Schullerus, Pauline: Rumänische Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. Bukarest: Kriterion 1977, S. 489-491.
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