63. Das Gebet

[347] Es kam einmal ein Zigeuner zum rumänischen Pfarrer und bat ihn, er solle ihm einen Colinder machen, der Pfarrer dachte, er meine das Gebet, welches Colinder heißt. Nur einmal sagte der Zigeuner, es solle nicht zu kurz und auch nicht zu lange sein und mit Ärmeln. Jetzt erst fiel es dem Pfarrer ein, er meine ein Kleid. »Gut, ich will dir bis Sonntag eines machen.« Sonntag früh kam der Zigeuner geritten auf einem weißen Pferd, um sich vom Pfarrer anziehen zu lassen. Der Pfarrer hatte bunt geblümtes Papier zu dem Kleid genommen. Jetzt ritt der Zigeuner stolz in dem papiernen Kleid in ein anderes Dorf, immer[347] das schöne Kleid besehend, und sang: »Gott, mein Gott, wer bin ich? Ich könnte sein der Hann, ich war es, und könnte es sein und bin es auch.« Er ritt ein wenig weiter und sang: »Gott, mein Gott, wer bin ich? Ich könnte sein der König. Ich war es, werde es sein und bin es.« Er ritt weiter und sang: »Gott, mein Gott, wer bin ich? Ich könnte sein der König Matthias, ich war es, und werde es sein und bin es.«

Ein Rumäne war nicht weit von ihm und hatte zugehört, wie er gesungen, und dachte sich einen Spaß mit ihm zu machen, weil er so stolz war. Er kam ihm in den Weg und sagte, er wäre blind, er solle ihn sehend machen. Dieser Zigeuner hatte, wie alle Zigeuner, aus seinem Haar Locken gedreht. Er sprach: »Komm herbei und wisch dir die Augen mit meiner Locke, dann wirst du sehen.« Der Rumäne ging näher, nahm das Haar und wickelte es um die Hand und zog so den Zigeuner vom Pferd herunter, daß das papierne Kleid zerriß, und lief dann zurück. Nur einmal kam ein anderer, und diesem erzählte der Arme: »Geh du auf dem breiten Weg, es steht ein Blinder versteckt, er weiß nicht was er tut, mir hat er das Haar ausgerissen, es liegt zerstreut auf dem Wege zusammengewickelt.«

Quelle:
Schullerus, Pauline: Rumänische Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal. Bukarest: Kriterion 1977, S. 347-348.
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