880. Das Sennentunscheli in der Voralp.

[253] 1. Die Knechte der Voralp verfertigten aus einem alten Paar Hosen und einem verhudleten Tschoopen, die sie mit Gras und Miës ausfüllten, einen Tunsch. So formierten sie einen ganzen menschlichen Körper. Sie machten ihm auch ein Maul, legten ihn unter die Kühe und molken ihm ins Maul. Dann nahmen sie ihn zu sich ins G'liger und lagen bei ihm. Am 10. Tage wurde er lebendig, und von jetzt an sog er die Kühe selber. Sie plünderten ihn mit sich von einem Stafel zum andern. Im Herbst, als sie von Alp wegfahren wollten, hiess es, Einer müsse den Tunsch mit sich heim nehmen. Aber keiner wollte es sein. Da hiess es, der Senn müsse ihn zu sich nehmen, der habe angefangen. Da sagte er, sie sollten nur abfahren, er wolle den Tunsch schon zum Schlafen bringen, ertschleepfä. Er nahm den Tunsch und trug ihn zu einer andern Hütte, und die übrigen fuhren ab. Als der Senn nicht nachkam, kehrten sie zurück und suchten ihn, fanden aber weder vom Tunsch noch vom Senn irgend eine Spur, weder Haut noch Haar. Aber in der Alp ist's heute noch nicht richtig.


Franz Zurfluh, Amsteg


2. Es geschah vor vielen hundert Jahren, dass in der Hornfelli-Alp, einem Stafel der Voralp bei Geschenen, übermütige und boshafte Alpknechte sich aus Blätzen eine Puppe machten und mit ihr den ganzen Sommer hindurch zuerst die Gugelfuhr und hernach förmliche Bosheiten trieben. Sie nannten sie Tunscheli, gaben ihr zu essen und strichen ihr Mus ein. Mit der Zeit kam es so weit, dass Tunscheli wirklich zu essen anfing, und wenn sie ihm nicht gaben, so verlangte es mit Ungestüm. So brachte Tunscheli die Alpknechte in solchen Schrecken, dass von Spassen keine Rede mehr war. Sie vertrösteten sich auf den Herbst und die Abfahrt. Allein, wie dieser Augenblick anbrach, da befahl Tunscheli mit furchtbarem Ernst, dass der Ärgste da zu bleiben habe. Die Übrigen konnten gehen und durften erst auf dem Hochgrat noch einmal zurückschauen. Sie taten es dann alldort und sahen mit Zittern und Beben, wie Tunscheli schon die Haut dieses[253] Gesellen auf dem Hüttendache zum Tröcknen ausspreitete. Von dort an machte das Gespenst noch lange den Ort berüchtigt, und bis zur Stunde soll es dort nicht ganz geheuer sein.

3. Sie machten einen Tolgg aus Käsbulderen, legten ihm Kleider an und tauften ihn. Darauf fing der Tolgg an zu reden. Da wurde es den Älplern unheimlich; sie holten einen Geistlichen, und der brachte die Sache in Ordnung.


Fr. Furger-Mattli v. Gescheneralp.


4. Im Stafel Hornfelli bei Geschenen machten einst die übermütigen Älpler eine Puppe aus Käsmasse und behandelten und verhätschelten sie wie ein lebendiges Kind. Als nun die Alpentladung und der Tag der Abfahrt ins Tal da war, richtete sich die Puppe plötzlich auf und rief mit unheimlich drohender Stimme den erschrockenen Hirten und Sennen zu: »Einer von euch muss bei mir bleiben; wo nicht, gehts euch allen übel.« Begreiflich wollte aber keiner der Auserkorene sein, und das Los musste entscheiden. Der Zurückbleibende nahm schweren Herzens Abschied von seinen Genossen und sah sie mit schrecklicher Ahnung talauswärts ziehen. Mit furchtbarem Beben sah er, wie die Puppe ihn grässlich grinsend anglotzte und mit den Zähnen fletschte. Die Älpler waren bereits eine Strecke weit heimwärts gegangen, als der Zusenn bemerkte, dass er sein Taschenmesser in der Alphütte vergessen hatte. Er kehrte zurück, um dasselbe zu holen, und ging durch eine Nebentüre in die Hütte, fand aber weder Senn noch Puppe in derselben und wollte durch eine vordere Türe den Heimweg antreten. Als er sich noch einmal umschaute, sah er plötzlich die Puppe, die zu einem Ungeheuer mit weisser Kappe herangewachsen war, soeben beschäftigt, die frische Haut des zurückgebliebenen Sennen auf das Hüttendach auszulegen und zu schaben. Am Boden lagen grosse blutige Stücke Fleisch. Er war zum Opfer geworden für die Missetat seiner Genossen an den Gottesgaben. Der Zusenn mochte aber dem Treiben des Ungeheuers nicht lange zusehen; er kam schweisstriefend bei seinen Kameraden an und erzählte das Gesehene. Kaum heimgekehrt, packte ihn ein heftiges Fieber, an dem er lange Zeit krank lag, stets wähnend, die Puppe komme, um auch ihn zu holen und in Stücke zu zerreissen und seine Haut zu schaben.


Aus handschriftlichen Aufzeichnungen von Kaplan Florin Kindle.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 253-254.
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