1505. Ein Hellseher.

[287] Meine Grossmutter hat öfters das folgende erzählt: »Ein Kapuziner, ein grosser, schwerer Herr, kehrte einst auf dem Marsche nach Meien in unserm Hause am Winterweg zu Wassen ein und trank da ein Glas Wein. Als er weiterzog und durch die Meiergasse hinaufstieg, schaute ihm unser Knecht, ein Säumer, so nach und rief: ›Da gahd'r etz, der Blätech (träger plumper Dickwanst), und under dry Tagä bringet s'-ä-n-uf'm Schlittä!‹ Unsere Mutter (Frau Katharina Gerig-Muther) wies ihn zurecht und sagte: ›Dü hesch doch äu ä Goschä!‹ Er aber lachte und entgegnete: ›Lüeget de!‹ Und richtig, schon am folgenden Tage wurde der Pater in Meien vom Schlage dahingerafft, und am dritten Tage brachten sie seine Leiche auf einem Schlitten durch die Meiergasse hinunter.«

Solche Sachen hat die Grossmutter von diesem Knecht noch mehrere erzählt. Er hat überhaupt viele Todesfälle vorhergesehen.


1928, Fr. Motta-Berger, 78 Jahre alt, Altdorf.


Anmerkung: Es handelt sich um P. Adam Gisler, der im Winter 1821/22 die verwaiste Kuratkaplanei Meien versehen hat und dort einem Schlaganfall erlegen ist. Als sein Todestag wird in der Gruft des Kapuzinerklosters in Altdorf der 27. März 1822 angegeben. Wahrscheinlich ist dies aber nicht das Todes-, sondern das Beerdigungsdatum. Jedenfalls ist der Pater am 24. März in das Meiental hinaufgestiegen auf den Feiertag Mariae Verkündigung, 25. März, dort am letztgenannten Tage vom Schlage getroffen und am 26. oder 27. März, wo das Tal noch tief im Schnee lag, als Leiche nach Altdorf befördert worden.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 287-288.
Lizenz:
Kategorien: