† Spitalpfarrer Josef Müller.

1870–1929.

[3] Am 30. Dezember 1870 wurde zu Altdorf Josef Müller geboren, als das Franzosenkriegsjahr zu Ende ging und der Winter auch im Bergtal Uri recht hart seine Schneemassen breitete. Er war das sechste und jüngste Kind der Wegmattbauern, blieb ein schmächtiges Büblein, war aber schon in der Dorfschule ein lerneifriger Schüler und las in Kalendern und Büchern, wobei er besonders die Kurzgeschichten liebte, die Sagen und Märchen der Alten. Seine Grossmutter in Amsteg hat ihm dabei gar vieles zugeschoben und aus alten Tagen berichtet. 1884–1890 besuchte er die Kantonsschule zu Altdorf, immer noch als hageres Studentlein, auf den vor allem Rektor Franz Nager und Dr. Anton Gisler von Einfluss waren, zwei Lehrer, die recht warm für die Naturwissenschaften und vor allem für die Botanik eintraten. Müller hat sich zeitlebens der Pflanzenkunde hingegeben und war ein guter Kenner der lokalen Flora des Urnerlandes. Hatte er sich anfänglich recht ernstlich dem Studium der Naturwissenschaften als Endziel zugewandt, so widmete er sich später wieder mehr den philosophischen und theologischen Studien, um so dem Wunsche der Seinen und auch eigenem Wollen voll und ganz gerecht zu werden. Nach der Kantonsschulzeit zog Müller an die bischöfliche Akademie St. Willibald in Eichstätt in Mittelfranken, wo sich damals viele Studienbeflissene aus Uri aufhielten und Stöckl schon als »alter Mann« Philosophie dozierte, während Regens Dr. Mathias Schneid mit aller Begeisterung die Jugend in seinen Bann zog. Der Studiengefährte Müllers, Dr. Eduard Wymann (Staatsarchivar in Uri), berichtet von dieser Zeit: »In Eichstätt waren wir damals mit 13 Köpfen die zweitstärkste Nation, und die einst blühende Sektion Helvetia Eystettiensis schloss mit jenem Jahr 1890/1891 endgültig ihre lange ruhmreiche Vergangenheit. Der ideale Urner (Müller) trat ihr als Kandidat des Studentenvereins bei und machte als Interner in beschränkter Weise das Sektionsleben mit, liess sich auch im Flaus photographieren, trat aber dem Verein schliesslich doch nicht bei ... Müller besuchte auch die Naturfächer bei Romstock und Schwertschlager. Wie oft musste er nachher als harmlose Neckerei hören, dass ihm das Unglück passiert war, aus Versehen einen schönen Beryll[3] während der Vorlesung in Brüche geschlagen und diesen Stein durch ›Blech‹ ersetzt zu haben!« In den Osterferien 1891 wanderte Müller zu Fuss mit seinen Kameraden durch das Altmühltal nach Kelheim und Regensburg, wobei in Donaustauf auch die Walhalla besucht wurde. Noch in spätern Jahren hat er begeistert von dieser Wanderung erzählt und mir einmal das Altmühltal mit seinen saftiggrünen Wiesengründen und dem tiefeingeschnittenen Juradurchstich und dem reich serpentinierten Flusslauf geschildert, als habe er's erst gestern durchwandert. In Eichstätt wurden damals im Dom die Wandmalereien eben restauriert. Nach Schluss des Schuljahres zog es Müller wieder seinen geliebten Bergen zu. Auf dem Heimweg wurde München besucht und in der Staatsoper Wagners »Götterdämmerung« angehört, aber nur die erste Hälfte, denn »der nicht enden wollende und unverständliche Singsang habe ihn mit seinen Kameraden lange vor dem Ende wieder davon getrieben«. In der Schweiz kam er just in den Augusttagen an, da überall festlich und mit reichem Flaggenschmuck das 600jährige Bestehen der Eidgenossenschaft gefeiert wurde. Launig hat Müller einmal erzählt, wie er und seine Kameraden frohgemut durch das schmucke Städtchen Schwyz gewandert seien, einander zuredend, das Landvolk habe ihrer Heimkehr zu Ehren beflaggt!

Müller hatte in Eichstätt in allen Fächern sehr gute Zeugnisse erhalten, so dass er die weitern Studien ungehindert im erzbischöflichen Seminar zu Mailand absolvieren konnte. Im November 1891 fuhr er durch den Gotthard. Für drei Jahre hatte er den schweizerischen Freiplatz zugesprochen erhalten, so dass er während der Mailänderzeit aller »finanzieller Sorgen« enthoben war und bei seiner angeborenen Sparsamkeit mit dem »von daheim Erhaltenen« sich zahlreiche Wanderungen unter dem italienischen Himmel erlauben durfte. So besuchte er nach Schluss des ersten Schuljahres die grosse Christoph Kolumbus-Ausstellung in Genua und zog über Savona und Turin in seine Urnerberge zurück. Im Februar 1893, anlässlich des goldenen Priesterjubiläums Leo XIII., pilgerte Müller nach Rom. Es war für ihn eine erhebende Pilgerfahrt, an der er als frommer Urner zeitlebens zehrte. Wymann erzählt von dieser Fahrt: »Nach einer langen Nachtfahrt warteten wir auf dem Heimweg von Rom frühmorgens im Bahnhof von Ancona auf eine Zugsverbindung. Müller, noch etwas bleicher und magerer als sonst, setzte sich in seinem schwarzen Klerikerkostüm auf eine harte Bank und legte den Kopf rückwärts zu kurzem Schlummer. Da bemerkte ein vorübergehender wetterharter Bauer mit einem Blick auf unsern Reisegenossen[4] fast gerührt zu seinem Begleiter: Un vero San Luigi«. – In Mailand beendigte Müller mit besonderer Hingabe seine Theologiestudien und wurde am 19. Mai 1894 durch Msgr. Paul Bellerine, Titularpatriarch von Alexandrien, im Dom zu Mailand mit ca. 100 Ordinanden des erzbischöflichen Seminars zum Priester geweiht. Er kehrte schon andern Tags nach Hause zurück und hielt am 3. Juni 1894 in der Pfarrkirche zu Altdorf die feierliche Primiz. 1894/1895 absolvierte er noch ein weiteres Studiensemester in Chur, um dann als Pfarrhelfer und Schullehrer in Spiringen im Schächental sein erstes Priesteramt anzutreten. 1899 siedelte er nach Bauen über, um die dortige Pfarrei zu übernehmen und auch da als Schulmeister zu wirken. Noch jüngst erzählte mir ein Schächentaler, wie gerne sie zu diesem Pfarrlehrer zur Schule gegangen seien, da er von Natur und Leben so begeistert erzählen konnte und immer viel mehr als andere Leute im Leben und Treiben der Natur gesehen habe. Er sei ein echter Priester gewesen, der ein Allwissender war und bei dem man mit jeder Frage anklopfen konnte, wissend, eine gute Antwort zu erhalten. Seine enge Verbindung mit dem Volke benützte Müller unermüdlich, um geschichtliche und volkskundliche Studien zu treiben, und wohl selten hat ein Urner alle Sitten und Gebräuche seines Landes bis in alle feinsten Details so gekannt, wie Müller. Von allen Gütern wusste er die Namen, leitete ihre Herkunft urkundlich ab, kannte er sich doch wie kein zweiter in den Gemeindearchiven und grundbuchlichen Akten aus.

Seine Gesundheit litt aber fortgesetzt dermassen, dass er am 11. Mai 1902 die Pfarrstelle in Bauen aufgeben und sich einer längern Erholungspause unterziehen musste. Am 3. September 1903 übernahm er dann die Stelle eines Seelsorgers im Kantonsspital zu Altdorf, »um dem Doktor nahe zu sein«, wie er sich mir gegenüber einmal mit seinem reinen Lächeln äusserte, aber vor allem auch im Bewusstsein, dass er gerade im Spital mit den vielen Leib- und Seelenkranken eine ganze priesterliche Aufgabe erfüllen könne. Während vollen 25 Jahren ist er der Spitalpfarrer, der »Spitalheer«, wie die Urner sagen, gewesen, geachtet und geehrt von allen, die in dieses Haus eingehen mussten, und besonders auch verehrt und geliebt von all denen, die mit ihm in nähern Verkehr treten durften. Immer und immer wieder ist er von Krankenbett zu Krankenbett geschritten, hat aufgemuntert, hat getröstet, hat Stärkung gegeben. Ob reich oder arm, ob Einheimischer oder Fremder, ob seines Glaubens Genosse oder anderer Konfession und Anschauung, immer war er der Gebende und Gerngesehene, denn Müller war ein selten feiner Mensch voll Takt und Wissen,[5] zu dem man aufschauen musste und durfte. Wie gerne setzte er sich zu einem hin und fing zu plaudern an, von weltentrückten Dingen oder wieder von nüchternem Geschehen, von Begebenheiten, die unbeachtet geschehen und doch so viel Wertvolles in sich bergen. Unangemeldet kam er zu einem auf Besuch, unangemeldet musste man bei ihm Einkehr halten, so hatte er's am liebsten. Während Jahrzehnten hat er zu plaudern, zu fragen und zu antworten gewusst, und hat, fast unmerklich nach aussen, in aller Stille gesammelt, ab und zu etwas vom »Erforschten« bekannt gegeben, uns aber noch kurz vor seinem Tode ein Geschenk gemacht, auf das nicht nur das Urnervolk recht stolz sein darf, sondern das auch dem ganzen Schweizervolk zu Ehre gereicht und das für die Sprach- und Volkskunde von wissenschaftlicher Bedeutung ist: seine Sammlung der Urnersagen. Das Erscheinen des ersten Bandes hat er miterlebt, am zweiten, vorliegenden Band, hat er noch auf dem Totenbette gearbeitet und mir in seinem ihm eigenen Humor gesagt, ich solle denselben ihm dann in die Ewigkeit nachschicken! Was seine Sagen zur vollen Wertigkeit wertet, ist deren Echtheit, deren unberührte Wiedergabe. Und wo er eine Deutung zu geben wagt, da ist sie sorgfältig überlegt. Jede noch so feine Variation einzelner im ganzen Land bekannten Sagen hat er herauszulesen und festzuhalten verstanden. Gerade darin liegt die Fülle und das Wertvolle seiner Sagensammlung für den, der die Volkskunde liebt und ein Volk in seinem intimen Leben und Denken kennen lernen will.

Wie ernst er aber auch sein priesterliches Amt genommen hat, mag eine kleine Episode beleuchten. Als er selber schon sehr schwer erkrankt darnieder lag und jeden Sonnenstrahl als letztes Leuchten begierig in sich aufsog, da brachte man einen Schwerkranken in das Spital. Aber alle ärztliche Kunst war vergebens. Pfarrer Müller stand an seinem Totenbette und gab ihm letzten Trost. Er habe dabei so ausgesehen, so mager und bleich und krank, dass man eigentlich nicht recht wusste, wer von den beiden näher beim Sensenmann stehe, der Kranke im Totenbett oder der Pfarrer!

Am 25. Mai 1929 hat Pfarrer Müller seine Augen geschlossen. Ein schöner, hagerer Toter, auf dessen Antlitz eine feine Zufriedenheit lag, das Enden eines Mannes, der seinen Dienst vor Gott und den Menschen im Rechten tat. Im Kirchgarten zu Altdorf schlummert sein Leib, sein Arbeiten aber lebt fort!


Altdorf (Uri).

Max Oechslin.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 3-6.
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