1340. Die unbekannte Magd.

[208] Zu einem Bauernhause kam ein hübsches, unbekanntes Meitli und trug sich als Magd an. Es gefiel den Leuten, und sie behielten es. Nach Schriften fragte damals niemand, und so kannten die Meisterleute weder des Mädchens Eltern noch[208] Heimat. Die Hauptsache war, dass sie eine treue, zuverlässige Magd gefunden hatten. Alle Jahre mussten sie ihr mal einige Tage frei geben, und dann ging sie mit ihrem Lohne fort, niemand wusste wohin, und zur festgesetzten Frist erschien sie wieder fröhlich und heiter bei ihren Leuten und ging munter an ihre gewohnte Arbeit.

Nach vielen Jahren fügte es sich, dass der Meister mit seinen Söhnen in eine entfernte Gegend männen ging. Einer aus der Gesellschaft trug ein Joch auf seiner Schulter. Da hörten sie hinter sich rufen: »Jochträger!«, und als sie umschauten, erblickten sie ein Mandli, das ihnen nachlief. Der Jochträger wartete ihm. Das Mandli sagte: »Jochträger, säg am Rüchgrind, dz Zytzi-Mytzi syg gstorbä!« und lief wieder zurück. Als der Mann am Abend beim Tisch sein Erlebnis erzählte, fing die Magd zu weinen an und sagte, jetzt müsse sie heim, ihre Mutter sei gestorben. Sie machte alsbald ihr Bündelchen und verliess unter Tränen die Bauersleute.


Frau Arnold-Gisler, Spiringen.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 208-209.
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