1086. O jeerä, ich bi scho z'spät.

[45] Bis in die neueste Zeit, so zum Beispiel in den neunziger Jahren des letztverflossenen Jahrhunderts, war es Brauch auf Ennetmärcht, dass die Leute, besonders am Abend, zu den Kalköfen, wo gerade ein Kalk gebrannt wurde, zusammen kamen und beteten. Auch Leute, die zufällig da vorbeigingen, blieben stehen und beteten etwa »Fyfi«. Man hatte dabei den Glauben, dass in jedem brennenden Kalk eine arme Seele leide, die erlöst werde, wenn man ihr mit Gebet zu Hilfe komme. Die Ofenglut dachte man sich als Fegfeuer.

Als sie einst in der Nähe des Badhäuschens zu Unterschächen Kalk brannten, sahen sie eine arme Seele herankommen, die sich dem Feuer näherte. Hart vor dem Ofen machte sie plötzlich halt und rief klagend: »O jeerä, ich bi scho z'spät!« Sie hatte sich nämlich in das Feuer stürzen[45] wollen, um da zu büssen, und bemerkte nun, dass schon eine andere arme Seele ihr zuvorgekommen.


Karl Gisler, Unterschächen und a.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 45-46.
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