1115. Der gestrafte Tierquäler.

[57] Zu Wyggen hinter Göschenen lebte vor Zeiten ein geiziger Bauer, der sein Vieh ungemein knapp hielt. Er hatte die Gewohnheit, die Kühe jeden Tag um eine Stunde später zu hirten; hatte er ihnen z.B. gestern um 4 Uhr das Futter gereicht, so gab er es ihnen heute um 5 Uhr, morgen um 6 Uhr, und erreichte so, dass er von Zeit zu Zeit eine Mahlzeit überspringen konnte. Ja, was noch schlimmer war, oft[57] hielt er ihnen Futter vor die Nase und liess sie dran riechen und nahm es dann wieder weg oder ging mit Heubündeln an ihnen vorbei, ohne ihnen etwas auszuteilen. So quälte er sie absichtlich.

Er starb. Wer nun das Vieh besorgte und dabei an die Rischi kam, erhielt jedesmal einen Streich. Endlich wurde der Geist angeredet und bekannte, er sei jener hartherzige Bauer und müsse hier wandlen, wyl är das hungrig Veh zängglet heig. Wie er ihn erlösen könne, fragte der Knecht, welcher den Geist angeredet hatte, und erhielt zur Antwort: »Du musst ein Handwerk lernen und aus dem Erlös desselben eine Anzahl heiliger Messen für mich lesen lassen.« Da dachte er, das Korben sei am ringsten und schnellsten erlernt, und lernte dieses. Als er's los hatte, liess er aus dem Verdienst die geforderten Messen lesen, und bald er schien ihm der Geist ganz im Weissen und offenbarte, er sei erlöst.


J.M. Tresch, Kapläni.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 57-58.
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