1148. Flüechä tiemmer nit.

[76] Auf Obsaum im Schächental sömmerten zwei alte Meitli ein Chüehli. Jeden Abend trug eines von ihnen Milch nach Hergerig hinunter. Eines Abends nun sahen sie von der Hütte aus ein wüstes, altes Guschi den steilen schmalen Pfad[76] hinaufsteigen und sich der Hütte nähern. Sie dachten, es wolle zu ihnen kommen, aber es kam nicht, und als sie herumguckten, wo es wohl geblieben sein möchte, konnten sie es nirgends erspähen. Jetzt wollten sie eine Mutte voll Milch ins Bräntli schütten, um sie, wie gewohnt, in's Tal hinunter zu tragen. In diesem Augenblick schlug ein unsichtbares Etwas ihnen die Mutte aus den Händen, und die Milch wurde verschüttet. Sie wurden zuerst zornig. Dann aber fassten sie sich doch und sprachen: »Flüeche wemmer nit!« Am nächsten Abend ging es wieder so, am dritten ebenfalls. Und obwohl es für die zwei Meitli ein empfindlicher Verlust war, der ihre Geduld auf eine harte Probe stellte, blieben sie doch fest bei: ihrem Vorsatz: »Jä, flüechä tiemmer nit.« Dann beteten sie für die armen Seelen: »Treescht Gott und erlees Gott die armä Seelä und gäbnä Gott die ewig Rüew und Säligkeit.« Hierauf sahen sie ein schneeweisses Wybervölchli zur Hüttentüre hinaus und davon schweben.


Katharina Kempf, 90 Jahre alt, Unterschächen.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 76-77.
Lizenz:
Kategorien: