1194. Das entführte Kind.

[102] Ein kleines Mädchen war immer furchtbar ungeduldig, wenn ihm die Mutter seine Zöpfe flocht. Schon mehrere Male hatte sie ihm gedroht, sie werde es dem Rigelibueb übergeben, wenn es sich wehre und wüst tue. Eines Morgens machte sie ernst. Sie sagte heimlich dem Knecht, er solle vors Haus[102] gehen und an das Fenster döppelen, und dann werde sie ihm das Kind zum Fenster hinaus reichen. Der Knecht ging, als er aber an das Fenster klopfte, war die Mutter ganz verwundert. Es hatte schon einer geklopft und ihr das Kind abgenommen. Es war verschwunden.

Als der Gatte heimkam, klagte sie ihm, und dieser ging sofort zum Pfarrer und fragte um Rat. Der Pfarrer tröstete ihn und sagte, am dritten Tag müsse der Böse das Kind zurückbringen; er solle dann unter der Dachtraufe bereit stehen und das Kind in Empfang nehmen. Aber sich beileibe nicht fürchten, und wenn – Gott b'hüetis davor – der lebendige Teufel komme. Am dritten Tage stand der Mann unter der Dachtraufe bereit. Aber wer kam daher? Es war der Teufel, der das Kind brachte! Der arme Mann bekam Angst und getraute sich nicht, das Kind abzunehmen. Und nun fuhr der Böse mit dem schreienden Kleinen in die Luft, zerriss es in kleine Fetzen und zerstreute sie in alle Winde.


Frau Wipfli-Herger, 80 Jahre alt.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 102-103.
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