1255. Freimaurersage.

[145] Vielleicht keine dreissig Jahre sind seither verflossen, da hielt sich im Hotel zum Löwen in Seelisberg ein vornehmer Herr auf, der zwar solid lebte, sich aber doch nichts versagte, was ihm Küche und Keller bieten konnten. Er tat etwas sonderbar und mied jede Gesellschaft. Weil er nicht knickerte und jeden Samstag pünktlich zahlte, war er, wie man sich's denken kann, ein überaus angenehmer und gern gesehener Gast. Da plötzlich an einem Freitagabend nahm er den Geldsäckel hervor und wollte zahlen. Das heig doch nytt z'pressierä, meinte der verblüffte Wirt. »Doch, doch, Herr Wirt, ich werde morgen auf einige Zeit verreisen.« Und wirklich waren seine umfangreichen Koffer schon gepackt. Während der Nacht fiel es den[145] Mägden auf, dass der Herr gar keine Ruhe hatte; ohne Rast ging er in seinem Zimmer aus und ein, warf die Türen ins Schloss, schaute wieder zum Fenster hinaus, und so gings bis Mitternacht. Auch die Mägde verliessen ihre Betten und passten ihm heimlich auf. Um Mitternacht kam von der Treib her ein eleganter Vierspänner vollkommen geräuschlos dahergefahren, gezogen von den vier schönsten, aufs herrlichste geschmückten Rappen, machte vor dem Hotel kehrt und hielt an. Der Herr stieg die Treppe hinunter, und das geheimnisvolle Gefährt nahm ihn auf. Der Diener holte auch das Gepäck und versorgte es am gehörigen Ort. Ebenso geräuschlos, wie er gekommen, fuhr auch der Landauer wieder von dannen, der Treib zu. Von dem Herrn und seinem Gefährt hat man niemals mehr etwas vernommen; an der Treib wollte man nichts von dem nächtlichen Besuch wissen oder bemerkt haben. Das ist jedenfalls ein Freimaurer gewesen, der sich dem Teufel verschrieben hatte und in jener Nacht von ihm abgeholt wurde. Erst jetzt fiel es den Mägden auf, dass er in seinem Bett immer so eine kuriose »Tuolä« gemacht hatte, wie wenn ein Hund drinnen gelegen hätte.


Josef Maria Aschwanden, 60 Jahre alt

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 145-146.
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