1259. Martin Luther.

[147] Es war einst ein Kapuziner mit einem protestantischen Pastor aufs beste befreundet, heigets üssgezeichnet midänand chennä. Daher lud der Pastor einst den Pater auf das Martin Luther-Fest dringlich als Ehrenprediger ein; er dachte, als sein guter Freund werde dieser den Martin Luther und dessen Lehre rühmen. Der Pater sagte: »Wenn du es absolut so haben willst, so werde ich die Predigt halten.« Und der Pastor wollte es absolut haben. Das Fest war da, und der Kapuziner bestieg die Kanzel. Als Vorspruch hatte er: »Martin Luther ist verdammt. Er ist zuunterst in der Hölle und leidet die grössten Qualen. Er ist der erste nach Luzifer; und kein Angster seiner Schuld wird ihm geschenkt werden.« Das war der Vorspruch; könnt euch denken, wie die Predigt war, was für Lobsprüche Martin Luther und seine Lehre zu schmecken bekamen. Nach der Predigt ging der Kapuziner davon. Der Pastor folgte ihm rasch und lud ihn ein, zu ihm ins Haus zu kommen, er müsse[147] ihm den Lohn geben. Der Prediger ging mit ihm ins Haus, und dort zeigte er ihm zwei gedeckte Schüsseln auf dem Tisch und sagte, er solle auslesen. Er wählte eine; der Prädikant nahm den Deckel weg, zeigte auf eine Pistole, die in der Schüssel zum Vorschein kam, und sagte: »Mit dieser Pistole erschiesse ich dich, wenn du nicht haarscharf beweisest, dass Martin Luther in der Hölle ist und die grössten Qualen leidet.« Der Kapuziner erschrak nicht. Er sagte: »Wenn du es so haben willst, so werde ich es dir beweisen; ich werde Martin Luther zitieren; aber du wirst ihm die Türe auftun. Besinne dich!« Der Pastor bestand auf seinem Verlangen. Da nahm der Kapuziner sein Buch zuhanden und zitierte den Luther. Nach etwa einer Viertelstunde entstand im Hause ein entsetzliches Gepolter, ein Rumor, wie wenn sieben Teufel daher kämen. Von der Stiege her hörte man ein grausiges Kettengeklirr und Getöse. Es polterte an die Stubentüre. Da sagte der Kapuziner zum zitternden Pastor: »So, jetzt geh und mach die Türe auf!« Er ging, öffnete, und herein polterten zwei Teufel mit dem in Ketten gefesselten Martin Luther in ihrer Mitte. Der musste nun bekennen: »Ich bin Martin Luther, ich bin verdammt, bin zuunterst in der Hölle und leide die grössten Qualen. Ich bin der erste nach Luzifer.« Das genügte. Der Kapuziner entliess den Luther mit samt seiner Begleitung, die alle einen abscheulichen Gestank zurückliessen, den der Pastor nie mehr zum Hause hinaus brachte.


Frau Nell-Gisler, Spiringen.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 147-148.
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