Fünfunddreissigste Geschichte
Wie einer vom andern zum Essen geladen wurde

[173] Einst sprach der Graf Lucanor also zu seinem Rate Patronius: Es war jemand bei mir und bot sich an, etwas sehr Wichtiges für mich zu tun; an der flauen Art aber, mit der er mir's antrug, merkte ich wohl, wie lieb es ihm wäre, wenn ich es ausschlüge. Nun sehe ich zwar einerseits recht gut ein, daß die Sache für mich sehr vorteilhaft wäre, anderseits aber trage ich großes Bedenken, seine Hilfe anzunehmen, da ich sehe, wie verdrossen er darangehet. Ich bitte Euch daher um Euren Rat, was ich nach Eurem Ermessen hierin tun soll.

Herr Graf Lucanor, entgegnete Patronius, damit Ihr hierbei handelt, wie es mir für Euch am besten dünkt, wünschte ich, Ihr vernähmet, was sich einmal mit einem begeben, der von einem andern zum Essen geladen wurde. Der Graf bat, es ihm mitzuteilen.

Herr Graf, sagte Patronius, es war einmal ein Landmann, der früher sehr reich gewesen, jetzt aber in große Dürftigkeit geraten war. Der schämte sich zu betteln und konnt es nicht übers Herz bringen, jemanden um Brot anzusprechen, und so hatte er denn nicht wenig zu leiden von Scham und Hunger zugleich. Als er nun eines Tages voller Sorgen ausgegangen war, weil er gar nichts zu essen finden konnte, kam er an dem[174] Hause eines Bekannten vorüber, der eben zu Tische saß, und da ihn dieser durch die offene Türe vorbeigehen sah, rief er ihm ganz nachlässig zu, ob er etwas essen wolle. Der Hunger war groß, jener fängt daher ohne weiteres an, sich die Hände zu waschen, und sagt: Nun meinetwegen, Herr N. N., da Ihr mich so sehr beschwört und mit Nötigen nicht ablaßt, mit Euch zu speisen, so wäre es, meines Bedünkens, unhöflich, durch Ablehnung Eurer inständigen Bitten Euch länger entgegen zu sein. Und hiermit setzte er sich an den Tisch, vertrieb sich Hunger und Sorgen, und von Stund an half ihm Gott und wies ihm Mittel und Wege, aus seiner Not zu kommen.

Und wenn Ihr, Herr Graf Lucanor, als vorteilhaft anerkennt, was jener Mann Euch angeboten, so zeigt Euch nicht abgeneigt, seinen Bitten nachzugeben, ohne Euch sonderlich drum zu kümmern, wie er seine Bitte vorgebracht, und wartet nicht erst ab, daß er noch mehr in Euch dringe, wenn er es nicht etwa von selbst tut; denn es wäre schimpflicher von Euch, ihn zu bitten, als von ihm gebeten zu werden.

Der Graf fand Rat und Beispiel gut, handelte darnach und fuhr wohl dabei, und da Don Juan einsah, daß das Beispiel vortrefflich war, ließ er es in dieses Buch setzen und machte folgenden Reim:


Wo dein eignes Glück im Spiel,

Sperre dich nicht allzuviel.

Quelle:
Don Juan Manuel: Der Graf Lucanor. Übertragen von Joseph von Eichendorff. Leipzig: Insel, 1961, S. 173-175.
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