Neununddreissigste Geschichte
Was dem Löwen und dem Stier begegnete

[190] Der Graf Lucanor sprach einmal also zu seinem Rate Patronius: Ich habe einen sehr mächtigen und angesehenen Freund, und obgleich ich bisher nichts als Gutes an ihm wahrgenommen, so sagt man doch jetzt, daß er's nicht mehr so aufrichtig wie sonst mit mir meine und sogar auf Mittel sinne, sich gegen mich zu wenden. So stehe ich denn nun in zwiefacher Unruhe: erstlich, weil mir durch diesen Gegner bedeutender Nachteil erwachsen könnte, dann aber auch aus Besorgnis, daß derselbe, wenn er mein Mißtrauen und meine Vorsicht gegen ihn erfährt, desgleichen tue, und also Argwohn und Kaltsinn zwischen uns allmählich[190] wachsen wird, bis wir gänzlich zerfallen. Ich bitte Euch deshalb, um des Vertrauens willen, das ich in Euch setze, sagt mir, was Euch hierbei für mich am dienlichsten scheint.

Herr Graf, erwiderte Patronius, damit Ihr Euch hierin vorsehen könnt, wünschte ich, Ihr vernähmet, was dem Löwen und dem Stier begegnet ist. Was war das? fragte der Graf.

Der Löwe und der Stier, sagte Patronius, waren große Freunde, und da beide sehr stark und mutig sind, so beherrschten sie alle andern Tiere, indem der Löwe mit Hilfe des Stiers alle fleischfressenden, der Stier mit des Löwen Hilfe aber alle grasfressenden unterdrückte. Da nun die Tiere sahen, daß Löwe und Stier nur durch ihren wechselseitigen Beistand ihrer mächtig geworden und sie hierdurch großen Zwang und Schaden erlitten, so besprachen sich alle untereinander, auf welche Weise sie sich von diesem Joche befreien könnten. Sie kamen endlich überein, daß dies nur möglich sei, wenn es ihnen gelänge, den Löwen und den Stier miteinander zu entzweien, und da der Fuchs und der Hammel bei dem Löwen und Stier höher in Gunst standen als alle übrigen Tiere, so versprachen diese beiden, nach Kräften zu dem gemeinschaftlichen Zwecke hinzuwirken. Darauf sagte der Fuchs, der der Rat des Löwen war, zum Bären, welcher nach jenem unter allen fleischfressenden Tieren das stärkste ist, er sollte dem Löwen die Besorgnis äußern, daß der Stier irgendeinen[191] bösen Anschlag gegen ihn im Sinne führe; er habe es vor ein paar Tagen von ihm selbst gehört, und wenn es vielleicht auch nicht begründet sei, so möge er doch auf seiner Hut sein. Dasselbe sagte der Hammel, welcher Rat beim Stiere war, zum Pferde, das unter den grasfressenden Tieren das mutigste auf Erden ist, und Bär und Pferd sagten es dem Löwen und dem Stier wieder. Diese glaubten zwar nichts von alledem, und verfielen auch nicht im mindesten darauf, daß jene, die zu den Vornehmsten ihres Stammes und Gefolges gehörten, bloß so sprächen, um Schlimmes unter ihnen anzuzetteln; dennoch aber faßten sie einigen Argwohn gegeneinander, sprachen, ein jeder einzeln, darüber mit ihren Vertrauten, dem Fuchs und Hammel, und meinten, obschon der Bär und das Pferd dies vielleicht nur aus irgendeiner Schelmerei gesagt hätten, so wäre es doch gut, von nun an auf ihre Reden und Handlungen ein wachsames Auge zu haben, um zu sehen, was weiter zu tun wäre; und so wuchs das Mißtrauen zwischen ihnen täglich mehr.

Als die Tiere dies bemerkten, gaben sie dem Löwen und dem Stier immer deutlicher zu verstehen, wie sie einer den andern scheuten, was offenbar nur von den bösen Anschlägen herrühren könne, die sie heimlich gegeneinander im Herzen trügen. Der Fuchs und der Hammel aber, die falschen Ratgeber, die nur ihren Vorteil suchten und die ihren Herren schuldige Treue vergaßen,[192] täuschten sie, anstatt sie aufzuklären, und ließen nicht ab, bis sie die gewohnte Freundschaft zwischen dem Löwen und dem Stier in den größten Haß verkehrt hatten. Und jetzt fachten auch die andern Tiere den Groll durch Aufreizungen zum offenen Kampfe an, und während ein jedes seinem Herrn beizustehen versprach, hüteten sie sich wohl, sich untereinander zu bekriegen, sondern wandten vielmehr alles Unheil auf ihre Herren zurück. So kam es denn endlich dahin, daß, obgleich der Löwe noch immer viel Verderben verbreitete, während der Stier dagegen immer mehr an Gewalt und Ansehen verlor, dennoch auch der erstere fortan so machtlos wurde, daß er die übrigen Tiere, weder die seines Stammes noch die andern, nicht mehr wie ehedem zu bemeistern imstande war. Und also, weil der Löwe und der Stier nicht einsahen, wie nur ihre wechselseitige Freundschaft und Hilfe sie so angesehen und zu Herren aller andern Tiere gemacht, und weil sie diese ihre nützliche Freundschaft vor den falschen Ratschlägen nicht zu hüten gewußt hatten, so kamen beide zuletzt in dem Handel so übel weg, daß sie, gleichwie sie früher alle übrigen Tiere beherrscht, nunmehr von ihnen beherrscht wurden.

Und ebenso sehet auch Ihr Euch vor, Herr Graf Lucanor, daß diejenigen, die Euren Freund bei Euch verdächtigen, nicht etwa die Absicht dabei haben, Euch ebenso mitzuspielen wie die Tiere[193] dem Löwen und dem Stier. Ist daher jener Freund ein redlicher Mann, den Ihr stets brav und treu befunden, so vertraut ihm auch wie einem guten Freund und Gesellen und hört nicht auf das Gerede; vielmehr rate ich Euch, ihm alles wiederzusagen, was sie über ihn sprechen, so wird er Euch auch gegenseitig entdecken, was er über Euch gehört hat; und sodann züchtiget die, die solche Falschheit ersonnen, dergestalt, daß ihnen die Lust vergeht, jemals dergleichen wieder anzuspinnen. Ist aber der Freund nicht von besagter Art, sondern einer von denen, die nach Bedürfnis, Zeit und Umständen lieben, dann hütet Euch, jemals Argwohn oder feindliche Absichten gegen ihn merken zu lassen, und sehet ihm manches nach. Denn nimmermehr kann Euch daraus unversehens und ohne daß Euch vorher irgendein sicheres Anzeichen warnt, so großes Unheil erwachsen, als wenn Ihr Euch durch jene betrügerischen Ohrenbläsereien untereinander entzweiet. Einem Freunde letzteren Schlages jedoch gebt stets auf gute Art zu verstehen, daß ihm Euer Beistand nicht weniger nötig sei als Euch der seinige, im übrigen aber tut, was Ihr für ihn tun wollt, mit heitrer Miene, faßt keinen grundlosen Argwohn gegen ihn, hört nicht auf das Geschwätz schlechter Leute und drückt manchmal bei seinen Vergehen ein Auge zu. Auf solche Weise wird Eure Freundschaft dauerhaft und Ihr werdet sicher sein, nicht in den Fehler des Löwen und Stiers zu verfallen.[194]

Dem Grafen gefiel dieser Rat gar sehr, er befolgte ihn und fuhr wohl dabei, und da Don Juan das Beispiel gut fand, ließ er es in dieses Buch schreiben und machte folgenden Reim:


Verschmäh nicht mächtgen Freundes Hand

Um falscher Zeugen Lügentand.

Quelle:
Don Juan Manuel: Der Graf Lucanor. Übertragen von Joseph von Eichendorff. Leipzig: Insel, 1961, S. 190-195.
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