Fünfundvierzigste Geschichte
Was zweien Blinden miteinander begegnete

[220] Ein andermal sagte der Graf Lucanor zu seinem Rate Patronius: Ein Verwandter und Freund von mir, dem ich vollkommen vertraue, weil ich von seiner wahrhaften Zuneigung überzeugt bin, rät mir, mich an einen Ort zu begeben, vor dem ich große Scheu habe. Er behauptet jedoch, es sei dort nichts zu befürchten, und er wolle eher sterben, als daß ich irgend Schaden dabei nähme. Nun bitte ich Euch um Euren Rat in der Sache.

Herr Graf Lucanor, erwiderte Patronius, um dieses Rates willen wünschte ich sehr, Ihr hörtet, was einmal zweien Blinden widerfahren. Und was war das? fragte der Graf.

Herr Graf Lucanor, sagte Patronius, in einem Städtchen lebte ein Mann, der verlor sein Augenlicht, und so, arm und blind, ging er zu einem andern Blinden, der in demselben Städtchen wohnte,[220] und sagte zu ihm, sie wollten zusammen nach der andern Stadt gehen, die nicht fern von der ihrigen lag, und dort Almosen betteln, damit sie was zu leben hätten. Doch der andre Blinde erwiderte, auf dem Wege nach dieser Stadt gäbe es viele Engpässe, Löcher und Furten, und er fürchte sich vor dem Gange. Jener aber sagte, er solle keine Angst haben, er würde mit ihm gehen und ihn sicher hinbringen, und wußte ihm so viel Zuversicht und so große Vorteile von der Fahrt vorzuspiegeln, daß endlich der Blinde dem Blinden glaubte und beide sich miteinander auf den Weg machten. Als sie aber an die schwierigen und gefährlichen Stellen kamen, stürzte der Blinde, der den andern führte, und der andre Blinde, trotz seiner Vorhersagungen, verfehlte nicht, ihm nachzustürzen.

Habt Ihr demnach, Herr Graf Lucanor, gegründete Besorgnis bei jener Sache, so begebt Euch darum nicht in die Gefahr, weil Euer Freund und Verwandter Euch versichert, eher zu sterben, ehe Euch ein Schaden geschehe, denn es möchte Euch wenig nützen, wenn er stürbe und Ihr dann doch den Schaden oder selber den Tod davon hättet.

Dem Grafen gefiel dieser Rat, er befolgte ihn und fuhr wohl dabei. Don Juan aber, der das Beispiel vortrefflich fand, ließ es in dieses Buch schreiben und dichtete folgenden Reim:


Was auch der Freund für Bürgschaft bot,

Halt dich davon, wo Unglück droht.

Quelle:
Don Juan Manuel: Der Graf Lucanor. Übertragen von Joseph von Eichendorff. Leipzig: Insel, 1961, S. 220-221.
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