[57] Es waren einmal Mann und Frau, die hatten drei Töchter; die älteste und die jüngste spannen, die mittlere aber machte sich auf dem Hof zu schaffen. Der Vater arbeitete vom Morgen bis zum Abend auf dem Felde; und als er eines Tages nach Hause kam, sprach er zu seiner Frau: »Warum schickst du mir kein Mittagessen hinaus? Ich plage mich dort den ganzen Tag und pflüge und hab davon einen mächtigen Hunger. Schick mir morgen die älteste Tochter mit dem Essen.« Die Älteste weigerte sich aber und sagte zum Vater: »Ich bring es Euch nicht hinaus, denn ich weiß nicht, wo Euer Feld liegt.« Er antwortete jedoch: »Du wirst es schon finden; morgen, wenn ich aufs Feld gehe, werd ich an einem Stock schnitzeln; dann halt dich nur an die Späne, und so wirst du zu mir gelangen.«
Am nächsten Tage ging der Bauer aufs Feld und schnitzelte unterwegs am Stock, aber der Drache hatte davon erfahren und pustete die Späne weg, so daß sie nun zu seiner Hütte führten. Als die Zeit kam, das Mittagessen hinauszutragen, ging die älteste Tochter fort, erblickte die Spur und folgte ihr. Sie wanderte und wanderte, und schon fing es an zu dunkeln, aber vom Vater war noch immer nichts zu sehen. Da kam sie ein großes Verlangen an zu essen; sie setzte sich am Wege nieder, aß sich satt, stand wieder auf und ging weiter. Noch war sie aber keine ganze Werst weitergekommen, als sie ein Hüttchen erblickte und ein Feuer darin. Da bekreuzigte sie sich und sagte: »Gott sei Dank, da ist endlich mein Vater!« Sie trat in die Hütte und sah: dort aß der Drache sein Abendbrot! Da sprach der Drache zu ihr: »Komm und iß!« Doch sie antwortete ihm: »Ich will nicht.« Jetzt schrie er sie aber [58] an: »Ich sage dir: setz dich hin und iß!« Sie erwiderte jedoch: »Ich hab schon gegessen, trug dem Vater das Mittag hinaus, aber fand ihn nicht, darum aß ich's selber auf.« Der Drache brüllte sie nochmals an: »So komm und iß auch bei mir!« Da blieb ihr nichts anderes übrig, sie setzte sich hin und aß mit ihm zu Abend. Das Fleisch aber war süß, denn es war von Menschen. Und als sie gegessen hatten, legten sie sich schlafen. Das Mädchen stand früh auf, der Drache jedoch noch früher. Er sprach zu ihr: »Jetzt sollst du mein Weib sein; da hast du die Schlüssel und einen Apfel; geh durch alle Zimmer und Scheunen, aber hier, in diese zwei Kammern, geh nicht hinein.« So sprach er und flog davon.
Sie ging dann in alle Zimmer hinein und erblickte ganze Zuber voll Gold, Silber und Kupfer. Es lockte sie aber auch heftig, in jene zwei Kammern hineinzuschauen; sie öffnete sie, trat ein und stöhnte vor Entsetzen, denn Leichen lagen in der ersten Kammer, und in der zweiten standen Zuber voller Blut! Sie schaute hinein und ließ den Apfel fallen. Zwar nahm sie ihn heraus und wusch ihn, aber am Stengel blieb ein wenig Blut kleben. Dann kam der Drache wieder angeflogen und verlangte gleich den Apfel von ihr. Sie gab ihn her, der Drache besah sich ihn und fragte: »Bist du in die Kammern hineingegangen?« – »Nein, ich bin nicht hineingegangen!« – »Du lügst, verfluchtes As, denn du bist doch drin gewesen!« Er nahm ein Beil, schlug ihr den Kopf ab und warf die Leiche in die Kammer. Kam der Vater am Abend nach Hause und sagte zu seiner Frau: »Warum hast du mir kein Essen geschickt?« – »Schau einer den an! ich hab's dir doch geschickt! Noch immer ist die Älteste nicht zurück; vielleicht hat sie sich verirrt.« – »Na, schwatz keinen Unsinn, aber schick mir morgen die [59] jüngste Tochter hin; ich werd aufs Feld gehn und Asche streuen.«
Am nächsten Tage ging er fort und streute Asche auf den Weg, der Drache aber blies sie wieder zu seiner Hütte. Als es Mittagszeit wurde, schickte die Mutter die jüngste Tochter mit dem Essen zum Vater, und sie ging den Spuren der Asche nach. Sie wanderte lange, lange, und es fing schon an zu dunkeln, aber vom Vater war noch nichts zu sehen. Da setzte sie sich nieder und aß von dem Mitgebrachten; und da nach stand sie wieder auf und ging weiter. Auf einmal erblickte sie eine Hütte, und die war erleuchtet. Die Tochter bekreuzigte sich und sagte: »Gott sei Dank! dort wird doch endlich wohl mein Vater sein.« Sie trat in die Hütte ein, erblickte den Drachen und wünschte ihm einen guten Abend. »Willkommen, mein gutes Kind! Wie hast du dich hierher verirrt?« fragte der Drache. Sie antwortete: »Ich hab dem Vater das Essen hintragen wollen und mich dabei zu Euch verirrt.« – »Nun, dann leg dich schlafen, wenn es so ist«, sagte der Drache. Und die Tochter legte sich nieder. In der Früh, als sie aufstand, sprach der Drache zu ihr: »Sei von nun ab meine Frau; hier hast du die Schlüssel und einen Apfel und geh überall herum, nur in diese zwei Kammern geh nicht hinein!« Und dann flog er davon. Es lockte sie aber gar sehr, in die beiden Kammern hineinzugehen. Sie öffnete die eine, erblickte dort ihre Schwester und fing an zu weinen; dann öffnete sie auch die zweite, erblickte dort die Zuber und beugte sich vor, um hineinzuschauen, da fiel ihr aber der Apfel aus dem Busen. Sie nahm ihn heraus und wusch ihn ab, doch am Stengel blieb ein wenig Blut kleben. Der Drache kam angeflogen und befahl: »Trag das Abendbrot auf!« Sie brachte ihm das Essen, und als er satt geworden war, fragte er: »Bist du in die Kammern gegangen?«[60] – »Nein, ich bin nicht hineingegangen!« – »Dann zeig mir den Apfel her!« Er besah sich den Apfel, ergriff ohne ein Wort zu sagen das Beil, hackte ihr den Kopf ab und warf die Leiche in die Kammer. Der Bauer aber kam wieder nach Hause zurück und sagte zu seiner Frau: »Warum hast du mir das Essen nicht hinausgeschickt?« – »Wieso hab ich's dir nicht geschickt? Jetzt ist schon die zweite Tochter fort und kommt nicht zurück.« – »Na, dann schick mir morgen die dritte!« Die mittlere Tochter aber kam zum Vater und sagte: »Ich weiß den Weg nicht aufs Feld.« – »Dann will ich Kartoffeln auf den Weg streuen«, antwortete der Vater, »so wirst du mich schon finden.«
Am andern Tage ging er wieder pflügen und streute auf dem Wege Kartoffeln aus, aber der Drache blies sie wieder zu seiner Hütte. Und als es Mittagszeit wurde, schickte die Mutter die zweite Tochter mit dem Essen, und sie ging der Spur nach. Es fing schon an zu dunkeln, doch vom Vater war noch nichts zu sehen. Sie setzte sich nieder, aß ihr Abendbrot, stand wieder auf und ging weiter; da sah sie eine Hütte und ging auf sie zu. Sie trat ein und erblickte den Drachen beim Abendessen. Der Drache sprach zu ihr: »Setz dich hin und iß!« Sie setzte sich und fing an zu essen, und hernach legten sie sich beide nieder. Als die Tochter am Morgen aufstand, sagte der Drache zu ihr: »Sei von nun ab meine Frau; hier hast du die Schlüssel und einen Apfel; geh überall umher, aber nur in diese zwei Kammern geh nicht hinein!« Und dann flog er davon. Es lockte sie sehr zu sehen, was wohl in den beiden Kammern sein möge, in die hineinzugehen der Drache ihr verboten hatte. Sie öffnete die eine und erblickte dort ihre Schwestern; da schloß sie die Kammer schnell ab und ging wieder in die Hütte.
[61] Der Drache kam angeflogen und fragte: »Bist du in die Kammern hineingegangen?« – »Nein, ich bin nicht hineingegangen!« – »Zeig mir aber mal den Apfel her!« Sie reichte ihm den Apfel, und der Drache sagte darauf: »Nun, es ist wahr, du bist nicht drin gewesen.«
Am nächsten Tage sprach sie zum Drachen: »Ich fühl es, daß es meinem Vater schlecht geht.« Er antwortete ihr: »Hab ich denn so wenig Gold und Silber? Nimm, soviel du willst und schick es ihm!« Da ging sie in den Garten, fing eine Krähe und befahl ihr: »Bring mir das Wasser des Lebens und des Todes, sonst zerreiß ich dich!« Die Krähe flog davon und brachte ihr von dem Wasser. Nun ging die Tochter in die Kammer, bespritzte ihre Schwestern, legte sie in eine Truhe und sperrte sie ab; dann ging sie zum Drachen und sagte: »Nimm hier diese Truhe und trag sie zu meinem Vater!« Und der Drache trug sie fort. Nach ein paar Jahren gebar die Tochter einen Sohn: halb ein Drache, halb ein Mensch. Und wieder sprach sie zum Drachen: »Ich fühl es: meinem Vater geht es schlecht!« – »Na, dann pack Gold zusammen und schick es ihm«, sagte der Drache. Da legte sie Gold in eine Truhe, hackte ihr Kind in zwei Hälften und warf sie in die Kammer; dann ging sie zum Drachen und sprach zu ihm: »Trag doch diese Truhe zum Vater, ich aber will zur Gevatterin gehn.« Sie ging hinaus, kroch in die Truhe und sperrte sich ein. Der Drache hob die Truhe auf und brachte sie fort. Als er aber nach Hause kam, merkte er, daß die Frau nicht mehr da war. Nun erkannte er, daß sie ihn betrogen hatte, aber es war nichts mehr zu machen.
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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