Das ausserordentlich gesteigerte Interesse für Volkskunde und das allerorten erwachte Streben, vom heimischen Volksgut noch in letzter Stunde so viel wie möglich vor dem nivellierenden Einfluss der modernen Kultur zu retten, hat in den letzten Jahren in Ungarn reiche Schätze der Volksdichtung zusammengetragen. Unsere Kenntnis des ungarischen Märchenhortes ist durch diese emsige Sammlertätigkeit ungeahnt bereichert worden, und es schien mir daher notwendig, die 1901 erschienene deutsche Sammlung ungarischer Volksmärchen (Ungarische Volksmärchen. Ausgewählt und übersetzt von Elisabet Sklarek. Leipzig 1901.) zu ergänzen, sollte jene Sammlung wirklich ihren Zweck erfüllen, den Reichtum der ungarischen Märchenwelt der internationalen Märchenforschung zugänglich zu machen.
Durch die gütige Unterstützung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften konnte ich den Plan, eine Neue Folge dieser Übersetzungen herauszugeben, verwirklichen. Ihr sei dafür an dieser Stelle mein aufrichtigster Dank ausgesprochen.
Die Hauptquellen des neuen Bandes sind die jüngsten, seit 1905 in rascher Folge erschienenen Veröffentlichungen der Kisfaludy-Gesellschaft, deren erste Sammelbände ungarischer[3] Volksdichtungen auch den Grundstock des vorigen Bandes bildeten. Einige wenige Märchen sind der sprachwissenschaftlichen Zeitschrift Magyar Nyelvőr und der Ethnographia entnommen.
Die Originale der nachstehenden Übersetzungen sind mit grösster Treue teils während des Erzählens stenographisch, teils unmittelbar nach dem Anhören niedergeschrieben worden. Der Dialekt ist in allen Aufzeichnungen beibehalten worden, wie denn überhaupt jede stilistische Redaktion strengstens vermieden worden ist.
Märchengut der verschiedensten Stämme ist in der neuen Sammlung vereinigt. Einen grossen Teil, vierzehn an der Zahl, haben die Palozen beigesteuert (No. 1, 2, 9, 13, 14, 16, 17, 18, 19, 21, 24, 26, 28, 29); sieben sind nach Erzählungen der Csángó-Magyaren aufgezeichnet (No. 3, 6, 7, 8, 10, 11, 15); zwei sind dem altberühmten Märchenschatz der Szekler entnommen (No. 4 und 5), während die übrigen neun teils dem Gebiet »Jenseits der Donau«, teils den übrigen Gegenden Ungarns entstammen. Ein aufmerksamer Leser wird in der Erzählweise der einzelnen Stämme gewisse Unterschiede empfinden, die vielleicht durch die Verschiedenheit der Lebenshaltung, Beschäftigung und der Wohnsitze hervorgerufen sind.
Um die Vielgestaltigkeit der ungarischen Märchenwelt darzutun, ohne den Umfang dieses Bandes über Gebühr auszudehnen, habe ich es möglichst vermieden, Varianten der schon im 1. Bande vorgeführten Typen zu bringen. Nur in zwei Fällen (No. 11 und 23) schien eine Ausnahme geboten.
In den Anmerkungen habe ich, wie im ersten Band, zum[4] Vergleich nur die in deutscher Sprache erschienenen Märchensammlungen der benachbarten Völkerstämme herangezogen; für die slavischen Märchen benutzte ich einige englische und französische Übersetzungen. Einige kurz wiedergegebene oder auch nur angeführte ungarische Varianten dürften vielleicht willkommen sein; eine vollständige Zusammenstellung aller ungarischen Varianten lag nicht in meinem Plan.
Bei der Übersetzung habe ich auch diesmal eine wortgetreue Wiedergabe des Originals erstrebt und Härten des Ausdrucks nicht gescheut, um ihm die Treue zu wahren. Vom urwüchsigen Reiz der Dialektmärchen freilich musste bei der Übertragung ins Hochdeutsche viel verloren gehen; der eigenartige Zauber und die Schönheit der ungarischen Märchenwelt wird aber hoffentlich auch im fremden Gewande erhalten bleiben.
Berlin, im Oktober 1909.
Elisabet Róna-Sklarek.