|
[260] Ein reicher Mann hatte sehr, sehr viele schöne Schafe. Er liess sie von seinem kleinen Knecht auf die Wiese treiben, dass er sie dort hüte, aber er schärfte ihm ein: mit seinem Kopf stehe er für die Schafe! ... so solle er für sie Sorge tragen. Wie der kleine Knecht so für sich flötete, kam ein[260] Bürschchen daherstolziert und hänselte ihn so lange, bis der arme Hirtenjunge ihn mit seinem Knotenstock auf den Kopf schlug und der händelsüchtige Bursche auf der Stelle eines schrecklichen Todes starb. Da erschrak der kleine Schafhirt, schaute sich schnell um, ob ihn jemand gesehen habe, und begrub den Leichnam in einem Graben. Als er abends mit den Schafen heimkam, fehlte eins von ihnen.
Der reiche Mann schickte seinen Sohn mit dem Hirtenknaben aus, dass sie das verlorene Schaf suchen sollten, aber als sie seine Spur ganz und gar nicht entdeckten, beschuldigte ihn des Herrn Sohn, dass er es sicherlich aufgegessen habe, und schlug ihn so mit dem Stock, dass der Hirtenknabe nicht einmal einen Wehlaut ausstossen konnte: er starb eines schrecklichen Todes. Da dachte des Herrn Sohn: »Es sieht mich ja niemand unter dem Himmel, ich begrabe ihn in einem Graben,« – und er begrub ihn just in demselben Graben, wo das andere Bürschchen lag.
Aber alle beide Mordthaten hatte ein Pilger gesehen; doch des Knaben Vater war ein reicher Mann, und er wagte nicht, das Gericht anzurufen; er dachte, es sei doch unnütz, der reiche Mann würde ihn zu Tode prozessieren. Er verlegte sich daher aufs Beten, und drei ganze Jahre hindurch betete er darum, Gott der Herr möge den reichen Mann demütigen, damit er ihn ohne Furcht anzeigen könne. Aber Gott erhörte nicht des Pilgers Gebet, und der reiche Mann wurde in den drei Jahren noch reicher. Da beschloss der Pilger, dass er wahrhaftig kein Sterbenswörtchen mehr vergeblich beten, sondern von nun an ein lustiges Leben führen wolle. Denn wozu sollte er noch weiter beten, wenn Gott die Bösen segnet und die frommen Menschen vergisst.
Er verliess sein kleines Hüttchen und zog in die weite Welt. Er war schon durch siebenmal sieben Königreiche gewandert, und eines Abends spät traf er einen Mann, der an einem grossen Feuer lagerte. Er liess sich auch beim Feuer[261] nieder, und dort erzählte er ihm, wie es mit ihm stünde. Da sagte der andere Mann:
»Ich habe ein gerade so heiliges Leben gelebt wie du; doch als ich der Bösen Gedeihen, der Guten kummervolles Leben sah, habe ich mich entschlossen, dass ich fürderhin keinen heiligen Wandel führen, sondern leben werde wie andere Geschöpfe Gottes.«
Sie schlossen Freundschaft und beim Morgengrauen brachen sie selbander auf. Abends langten sie in einem Dorfe an, und im ersten anständigen Hause baten sie um eine Nachtherberge. Der Hausherr, der eine schöne Frau und ein einziges Söhnlein hatte, sagte: »Seid mir im Namen Gottes willkommen!« und lud seine Gäste sogar zum Abendessen ein. Dann wurde ihnen ein Lager bereitet, und nachdem sie sich gute Nacht gewünscht hatten, legten sie sich nieder und schliefen ein.
Als alle schon im ersten Schlummer lagen, erhob sich des Pilgers Reisegefährte und durchschnitt mit einem Messer den Hals des kleinen Kindes. Dann rüttelte er den Pilger wach, und sachte machten sie sich von dannen.
Am andern Abend kamen sie in ein anderes Dorf, und auch dort fanden sie einen gutherzigen Wirt, der ihnen nicht nur ein Obdach gab, sondern auch ein gutes Abendessen und so viel Wein, wie sie nur trinken konnten. Der Hausherr hatte einen schönen Silberbecher und bot daraus seinen Gästen abwechselnd immerfort an. Er redete ihnen zu, dass sie aus diesem Becher nur trinken sollten; er tränke auch immer daraus, und einen anderen Becher würde er nicht zum Munde führen. Nun, nach dem guten Essen und Trinken legten sie sich dann schlafen; aber des Pilgers Gefährte wartete nur darauf, dass der Wirt zu schnarchen anfing, dann hängte er den silbernen Becher vom Nagel ab und stiess den Pilger an: »Ein Haus weiter!«[262]
Sie gingen, gingen, wanderten so lange, bis die Dunkelheit sie einst in einem sächsischen Dorfe überraschte. Da setzte nun solch ein Regenwetter ein, solch ein Platzregen stürzte herunter, und solche Finsternis brach an, dass man ein Beil dran hätte aufhängen können. Sie baten um Einlass in einem Hause; aber der Wirt rief hinaus: »Der Nachbar ist ein besserer Mensch als ich!« Gehen sie zum Nachbar; der ruft dasselbe hinaus. Sie gehen ein Haus nach dem andern ab; aber überall werden sie damit abgespeist: »Der Nachbar ist ein besserer Mensch als ich!« Beim allerletzten Haus aber bettelten sie so lange, dass der Wirt sie einliess, aber nicht ins Haus, sondern in den Schweinekober. Der alte Sachse dachte bei sich, dass diese bösen, wilden Schweine die beiden Männer zerstückeln würden, und am anderen Tag brauchte er ihnen dann wenigstens keinen Mais zu geben. Aber die Schweine thaten den Wanderern nichts zu leide, und sie schliefen ruhig bis zum Morgen; des Pilgers Gefährte dankte dann für das Obdach und gab dem alten Sachsen den silbernen Becher zum Geschenk für seine Gutherzigkeit.
Sie gingen weiter, und auf ihrem Wege gelangten sie an einen Steg, der war so schmal, dass nur ein Mensch auf einmal ihn überschreiten konnte. Da sprach der Pilger:
»Wir wollen uns hierher setzen; denn siehst du, gerade jetzt hat ein Mann den Steg betreten; wir wollen warten, bis er herüberkommt.«
Sein Gefährte aber hörte nicht darauf und ging dem Mann entgegen, und als ihm der einen schönen guten Tag wünschte, ergriff er ihn und stiess ihn ins Wasser, und der ertrank auf der Stelle.
Der Pilger war darüber voller Unwillen und beschloss, fürderhin nicht mehr eine Strasse mit seinem Gefährten zu ziehen. Jenseit des Steges kamen sie an einen Kreuzweg, und hier sagte er zu seinem Gefährten:[263]
»Ich reise mit dir nicht weiter, hörst du! Wenn du nach Osten gehst, gehe ich nach Westen.«
»Warum willst du denn mit mir nicht reisen?« fragte sein Gefährte.
»Darum, weil ich deine Übelthaten nicht länger mehr mit ansehen kann. Du hast den einzigen Sohn des gutherzigen Wirtes getötet, dem andern stahlst du seinen Lieblingsbecher und schenktest ihn jenem schlechten Mann, der uns bei den Schweinen übernachten liess, und jetzt hast du diesen ehrlichen Mann ins Wasser gestossen, obgleich er dir einen schönen guten Tag wünschte.«
»Warte nur ein wenig,« sagte der Reisegefährte, »du willst noch den Tugendrichter spielen! Was hast du denn gethan? Du, ein Pilger, hast zugesehen, wie ein menschliches Wesen das andere getötet hat, und hast nichts gesagt, weil du fürchtetest, dass du Schaden leiden könntest. Du, ein Pilger, hast die Sühne der Sünde nicht abwarten können, sondern hast dich einem weltlichen Lebenswandel ergeben. Wisse, dass ich der Engel Gottes bin; ich kenne der Menschen künftige Geschicke, und danach handle ich. Ich tötete den einzigen Sohn jenes gutherzigen Wirtes deshalb, weil seine Eltern ihm alles nachgesehen hätten und ein Galgenstrick aus ihm geworden wäre; mit seinem Leben hätte er tausendmal mehr Bitternis verursacht als mit seinem Tode. Jenem anderen stahl ich deswegen den silbernen Becher, weil er so gerne daraus trank, dass er sich dem Trunk ergeben hätte; aber so hat er beschlossen, fürderhin nicht zu trinken. Jenem alten Sachsen aber schenkte ich den silbernen Becher, damit er sich dem Trunk ergebe und er all das Seine vertrinke, weil solch ein Mensch, der sich der armen Wanderer nicht erbarmt, des Reichtums nicht würdig ist. Jenen anscheinend ehrlichen Mann aber stiess ich darum von dem Steg, weil er gerade im Sinne hatte, den Weg des Bösen zu betreten. Den habe ich wenigstens von der Verdammnis[264] gerettet. Du aber kehre zurück in dein kleines Häuschen, und wolle nicht den lieben Gott zur Eile anspornen, denn seine heilige Gnade säumt nicht, der Gerechtigkeit zu walten.«
Nachdem der Engel das gesprochen hatte, stieg er in einem leuchtenden Flammenwagen gen Himmel.
Buchempfehlung
Diese »Oden für das Herz« mögen erbaulich auf den Leser wirken und den »Geschmack an der Religion mehren« und die »Herzen in fromme Empfindung« versetzen, wünscht sich der Autor. Gellerts lyrisches Hauptwerk war 1757 ein beachtlicher Publikumserfolg.
88 Seiten, 5.80 Euro