|
[74] Es war einmal, ich weiss nicht wo auf der Welt, eine alte Königin. Diese alte Königin hatte einen Enkel; aber der war solch ein Nichtsnutz, dass er seine Grossmutter immer bewarf, wenn er zum Brunnen Wasser holen ging. Einstmals, als es ihr mehr als genug war, sprach sie zu ihrem Enkel:
»Du, hör mal, wirf nicht! Denn du wirst sehen, du bekommst eine Frau aus dem Walde.«
Darüber lachte der Königssohn sehr; danach bewarf er sie noch mehr als vordem.
Als er nun schon ein ganz grosser Bursche geworden war, ging er unter anderem einstmals hinaus in den Wald spazieren. Der war dort gleich unterhalb der Stadt. Wie er dort auf und ab spaziert, erblickt er eine sehr schöne Staude; sogleich zieht er sein Messer aus der Tasche, schneidet sie ab. Siehe, da springt ein wunderschönes, goldhaariges Feenfräulein heraus und spricht:
»Ich bitte dich schön, schöner Königssohn, gieb mir einen Trunk Wasser!«
Wie sehr er es auch gewünscht hätte, er konnte ihr auch nicht einen Tropfen geben; denn er hatte natürlich nichts bei sich, und dort in der Nähe war auch keins.
»Ich bitte dich schön, schöner Königssohn, gieb geschwind; denn sonst sterbe ich auf der Stelle!«
Aber das war unmöglich! Das wunderschöne Feenmädchen verschwand auf einmal so, als wäre es niemals dort gewesen. Der Königssohn war sehr traurig, denn, warum soll ich es leugnen, sein Auge war an dem schönen Frauenbild[74] hängen geblieben, nun und ausserdem war er auch, gar nicht so sehr schlimm, wie man sagte.
Ein andermal, als er wieder in den Wald hinausgehen wollte, that er keinen Schritt, ehe er nicht einen Krug mit gutem Brunnenwasser gefüllt hatte. Diesmal suchte er aber wahrlich nicht lange nach der Gerte; so bald er eine etwas seltsame erblickte, schnitt er sie gleich ab. Und wieder sprang da ein schönes, goldhaariges Feenfräulein heraus; die war noch siebenmal schöner als jene andere.
Darauf hatte der Königssohn nur gewartet.
Und das goldhaarige Feenfräulein spricht:
»Ich bitte dich schön, schöner Königssohn, gieb mir einen Trunk Wasser!«
Darauf sagt der Königssohn:
»Wie sollte ich es nicht geben, meine liebe Taube! Ich gebe dir so gutes, dass du in deinem Leben nie besseres getrunken hast.«
Wie er nach dem Eimer greifen wollte, schaute er nicht dorthin, sondern auf das schöne Feenfräulein, und stiess den Eimer um; es blieb auch nicht ein Tröpfchen Wasser darin. Aber das hatte er wahrlich nicht gewollt, um alles in der Welt hätte er es nicht gethan!
Vergebens flehte ihn nun das schöne Feenfräulein an; er konnte ihr wirklich nichts geben. Auch diese verschwand wie die andere.
Der Königssohn war grenzenlos zornig auf sich, gab sich alle möglichen Namen; aber in der Sache konnte er nun doch nichts ändern. Er wurde so schlechter Laune wie der, der kein Hanffeld bekommen hat. Sie fragten ihn zu Hause aus; aber er sprach kein Wort, ganz wie du jetzt kein Wort sprichst, mein lieber Sohn. Er zürnte mit sich im Stillen und ärgerte sich.[75]
Am nächsten Tage ging er wieder hinaus in den Wald. Wer wagt, gewinnt. Jetzt aber trug er das Wasser in einem Tönnchen; da war er sicher, dass das Wasser daraus nicht ausfliessen würde. Und so konnte er auch dem Feenfräulein, das jetzt aus der Gerte sprang, die er abgeschnitten hatte, Wasser geben. Na Brüderchen, die war noch siebenmal schöner als die beiden andern. Und nachdem sie tüchtig aus dem Fässchen getrunken hatte, wurde sie noch schöner; so schön wurde sie, dass man sie kaum anschauen konnte. Und da der Königssohn auch ein Bursche war, der sich wohl sehen lassen konnte, so fanden sie Wohlgefallen an einander. Man brauchte ihnen nicht lange zuzureden. Sie schauten nur, schauten nur einander eine gute Weile an, plötzlich fielen sie sich in die Arme, umarmten, küssten sich und sprachen:
»Du bist mein, ich bin dein; das Grabscheit trenne uns!«
Ja wohl! Gleich setzten sie sich in die Kutsche. Die wundervollen, sechs braunen Fohlen flogen mit ihnen gleichsam davon. Sie gingen heim, hielten eine grosse Hochzeit; dann lebten sie ein Jahr lang glücklich.
Aber dann musste der König in den Krieg ziehen; seine Frau war zu jener Zeit schon guter Hoffnung. Nicht lange darauf kam die Königin auch ins Kindbett. Ach ja, ich habe zu erzählen vergessen, dass die alte Königin befohlen hatte, dass ins Zimmer der jungen Königin keine Blauspechte hineingelassen werden sollten. Also die Königin bekam zwei so wunderschöne Knaben, dass es eine reine Wonne war, sie anzuschauen. Aber diese gottlose, alte Königin! Vertauschte sie nicht die beiden kleinen Knäblein? Wahrhaftig! Zwei junge Jagdhunde legte sie an ihrer statt hin, die beiden kleinen Knäblein wollte sie umbringen. Aber da waren doch zwei Blauspechte; die haben dann die beiden kleinen, unschuldigen Würmchen aufgenommen, und »Nebel vor mir, Nebel hinter mir!« als ob sie niemals dort gewesen wären.[76] Wie die in das Zimmer gekommen sind, das weiss ich nicht; aber dass sie dort drin gewesen sind, das ist sicher.
Da war nun grosses Leid. Die junge Königin weinte so viel, dass sie fast das Haus umwarf. Sie wusste sehr wohl, dass sie sie betrogen hatten, aber sie konnte gar nichts dagegen thun. Dann sagte ihr die alte Königin noch dazu, wie sie so schlecht, so schlecht sei; denn wenn sie gut wäre, so hätte sie jetzt nicht Hunde als Kinder bekommen:
»Gott sei mir gnädig, aber so etwas habe ich noch nie gehört. Ja, die Jugend von heute ist nun mal so! Ach, das war alles anders zu meiner Mädchenzeit! Wahrlich, wenn so etwas damals jemandem geschehen wäre, unter die Erde wäre er gekrochen vor Scham. Aber die hier, seht nur, die spielt noch die gekränkte Unschuld!«
So redete die alte Königin, obschon an ihr jedes Knöchelchen böse war.
Aber plötzlich kam nun der König heim. Vergebens sprach da die arme, junge Königin; es nützte nichts. Der König verstiess die Arme wirklich. Sie ging geradewegs in den Wald. Dort erzählten ihr die Blauspechte, wo ihre beiden Knäblein seien. Dorthin ging sie, und sie lebten lange Zeit zusammen.
So waren vier, fünf Jahre vergangen; da hörte sie einmal, dass ihr Mann sich verheiratet habe. Die Tochter jenes Königs, mit dem er vordem sich bekriegt, hatte er genommen. Sie erfuhr auch, wann die Hochzeit sein werde. Da schickte sie ihre beiden Söhne hin, die waren so schöne, kleine Knaben geworden, dass man in siebenmal sieben Königreichen nicht ihresgleichen finden konnte. Wie sie ins Zimmer traten, erkannte die alte Königin sie auf der Stelle und sprach:
»Packt euch von hinnen! Wir brauchen solche Brut hier nicht!«
»Aber warum wollt Ihr die armen Kleinen wegjagen, liebe[77] Mutter?« sagt der König, »die thun ja nicht einmal den Fliegen was zu leide. Geht nicht fort; kommt her zu mir, meine lieben Jungen, esst, trinkt, was euer Auge, euer Mund begehrt. Ich weiss ohnehin, zu Hause habt ihr zum beissen nicht viel Auswahl. Esst, liebe Jungen!«
Nun, sie liessen sich auch nicht lange nötigen, sondern griffen tüchtig zu. Der König, der seine erste Gemahlin gar nicht vergessen konnte, nahm bald den einen, bald den anderen kleinen Knaben auf den Schoss. Die Braut dort neben ihm wurde traurig. Er sah sie wenig an. Und dann herzte er die Kinder. Er forschte sie auch aus, wo ihr lieber Vater, ihre liebe Mutter wohne.
Da erzählten sie ihm alles, was sie nur wussten, ihren Vater kennten sie nicht, aber er lebe und sei ein grossmächtiger König; aber ein schlechter Mensch müsse er sein, denn er habe ihre Mutter verstossen; die sei aber eine so gute Frau, dass man ihresgleichen nicht finden könne.
»Aber woher wisst ihr das? Ihr seid ja noch so klein,« sagte der König zu ihnen.
»Aber deswegen wissen wir es doch«, erwiderten sie ihm.
»Doch wo wohnt denn eure liebe Mutter?«
»In dem und dem Walde.« Sie nannten seinen Namen.
Der König wurde sehr neugierig; er verliess die Hochzeit, Braut, Gäste, alles mit einander. Auf der Stelle ging er hinaus in den Wald, nahm auch die beiden kleinen Knaben mit. Und die führten ihn dann geradewegs zu ihrer lieben Mutter. Es verging ihnen Hören und Sehen, als sie sich erkannten.
»Verzeihst du mir, meine liebe Frau?«
»Wie sollte ich dir nicht verzeihen! Ich weiss ja sehr wohl, dass du nicht schuld hattest.«
Sie umarmten, küssten sich. Aber da sagten auch die beiden kleinen Knaben:[78]
»Nicht wahr, wir sprachen die Wahrheit, nicht wahr, wir haben eine gute Mutter?«
Sie küssten alle beide so ab, wie sie noch nie geküsst worden waren. – Warum soll ich noch viele Worte machen? Das war das Ende, dass sie zusammen nach Hause gingen, und damit das Hochzeitsfest nicht zu Wasser werde, so hielten sie auch gleich die Hochzeit. Und sie waren sicherlich sehr fröhlich und guter Dinge.
Die neue Braut sandte der König heim, seine alte Mutter aber schaffte er auch aus der Welt, und dann lebten sie so glücklich – oder leben vielleicht jetzt noch, wenn sie nicht gestorben sind – wie es vielleicht noch niemand gesehen hat.
So war's.
Buchempfehlung
Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
270 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro