Das Eiland der schönen Familie.

[179] In den Bergen von Brecknock ist noch ein andrer kleiner See, von welchem folgendes Mabinogi geht.

In alten Zeiten ward in einem Felsen nah bei diesem See in jedem Jahr einmal auf einen bestimmten Tag eine Thür offen gefunden. Ich glaube es war ein Maitag. Diejenigen nun, welche neugierig und muthig genug waren, um einzutreten, gelangten zu einem geheimen Gange, welcher inmitten des Sees in ein kleines Eiland auslief. Hier wurden die Besucher durch einen wunderschönen Garten überrascht, welcher mit den ausgesuchtesten Früchten und Blumen gesegnet war und in welchem die Tylwith Têg wohnten,[179] eine Art von Feen, deren Schönheit nur von der Anmuth und Leutseligkeit erreicht wurden, welche sie gegen Alle bewiesen, die ihnen gefielen. Sie brachten für Jeden ihrer Gäste Blumen und Früchte, unterhielten sie mit der lieblichsten Musik, enthüllten ihnen manche Geheimnisse der Zukunft und luden sie ein, so lange zu verweilen, als es ihnen gefallen möchte. Aber das Eiland war unter dem Waßer und verborgen; auch durfte Nichts von den Erzeugnißen deßelben mitgenommen werden. Denjenigen, welche am Rande des Sees standen, war Alles unsichtbar. Nur eine undeutliche Maße ward in der Mitte des Waßers wahr genommen und man bemerkte, daß kein Vogel über das Waßer fliegen wollte und daß sanfte Klänge von bezaubernder Lieblichkeit in der Morgenkühle zuweilen darüber hinwehten.

Da ereignete es sich bei diesen jährlichen Besuchen einmal, daß ein verruchter Dieb, als er im Begriffe war, den Garten zu verlaßen, eine Blume in die Tasche steckte, die er geschenkt bekommen hatte. Aber der Diebstahl sollte ihm nicht Gutes bedeuten. Sobald er den geweihten Boden verlaßen hatte, verschwand die Blume und er war seines Verstandes beraubt. Die Tylwyth Têg oder schöne Familie ihrerseits schien damals aus diesem Frevel nicht weiter Arg zu haben. Sie entließen ihre Gäste mit der gewohnten Freundlichkeit und darauf ward wie immer, die Thüre verschloßen. Aber innerlich fühlten sie sich doch sehr gekränkt. Denn obgleich, wie die Sage geht, die Tylwyth Têg und ihr Garten noch bis auf diesen[180] Tag an demselben Platze sind, obgleich sich die Vögel noch immer in scheuer Entfernung von dem Waßer halten, und zuweilen noch gebrochne Klänge drüber hinwehen: so ward doch die Thüre, die zu dem Eiland führt, nie wieder geöffnet und vom Tage jenes verruchten Raubes an sind die Kymren allzeit unglücklich gewesen.

Einige Zeit danach versuchte ein Waghals das Waßer abzulaßen, um zu sehn, was darin sei. Da aber erhob sich eine schreckliche Gestalt aus der Mitte des Sees und befahl ihm, von seinem Vorhaben abzustehn, wenn er nicht wolle, daß das ganze Land überschwemmt werde.

Quelle:
Rodenberg, Julius: Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen und Lieder. Hannover: Rümpler, 1857, S. 179-181.
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