Babel

[123] Babel – Unter dem Fabelworte vom Babylonischen Turmbau möchte ich kurz und respektlos die Fabel von der einstigen Einheit aller Menschensprachen erledigen. In der Kindheit aller Sprachwissenschaft war diese Fabel betitelt: Herkunft aller Sprachen aus der Nationalsprache des lieben Gottes, dem Hebräischen; sie schien dann durch mehr als hundert Jahre für alle ernsthaften Menschen abgetan, bis sie in diesen letzten Jahren, nicht zur Ehre der deutschen Sprachwissenschaft, wieder und mit großem Trara auf den Plan treten durfte. Der jüngste Nacherzähler der alten Fabel ist der Italiener Trombetti, den ich wahrhaftig nicht darum geringschätze, weil er ein Autodidakt ist. Trombetti hat (1905) ein Buch herausgegeben, L'unità d'origine del linguaggio, das mit den Lautgesetzen der deutschen Sprachwissenschaft nur so herumwirft, das auf jeder Seite die Berühmtheiten des Faches zitiert und das (hoffentlich nicht zum Lohne dafür) von der deutschen Kritik nicht nur ernst genommen wurde, sondern auch epochemachend genannt worden ist. Ein deutscher Gelehrter hat sich nicht entblödet, in einem schnellfertigen Zeitungsaufsatze (Tag 27. 9. 1905) einen beschämenden Satz zu bilden. »Trombetti hat den Erfolg bereits auf seiner Seite: er ist Professor der Universität zu Bologna geworden.« Die niedrige Komik der Logik, die aus diesem kleinen Kolon spricht, ist nur ein Gelächter wert.

Aber für die Einheit von Denken und Sprechen, die ich nicht müde werde zu betonen, klingt die Fabel von der Einheit des Sprachursprungs so verführerisch, daß ich gerade darum entgegentreten möchte; mehr der sinnlosen Frage, als ihrer törichten neuesten Beantwortung. Die uralte Frage ist von Friedrich Müller (Grundriß I, 1, S. 50 f.) so formuliert worden: »Sind sämtliche Sprachen oder vielmehr Sprachstämme, auf welche die moderne Wissenschaft die Sprachen zurückzuführen bisher imstande gewesen ist, Abkömmlinge einer einzigen in ihnen aufgegangenen Ursprache, oder haben wir vielmehr[123] mehrere miteinander nicht näher verwandte Ursprachen anzunehmen?« Die Frage scheint auf den ersten Blick mit der doch wohl veralteten Frage zusammenzufallen: ob alle Menschen von einem einzigen Paare abstammen oder nicht; moderner ausgedrückt: ob die jetzt unterschiedenen Rassen oder Varietäten der Spezies Mensch ursprünglich eine einzige Rasse bildeten. Die beiden Fragen aber fallen nicht zusammen. Stammen wir alle von Adam und Eva ab und haben Adam und Eva hebräisch gesprochen, dann spricht allerdings einige Wahrscheinlichkeit dafür, daß alle Sprachen der Erde Tochter- oder Urenkelsprachen des Hebräischen sind. Wären aber die verschiedenen Menschenrassen von ihren Nationalgöttern jede für sich geschaffen worden, oder hätten sich (wie man das jetzt ausdrückt) zugleich an verschiedenen Punkten der Erde fortpflanzungsfähige Menschenpaare aus dem Pithekanthropos alalus entwickelt, dann wäre doch noch die historische Möglichkeit vorhanden, daß die Sprache von einer dieser Rassen allein erfunden worden wäre und sich nachher über die ändern Rassen ausgebreitet hätte. Es ist über solche akademische Fragen wirklich nichts Bestimmtes auszumachen. Müller ist der Meinung, daß die Sprache sich erst nach Vollzug der Rassendifferenzierung gebildet habe; Darwin behauptet, wahrscheinlich aus ebenso zwingenden Gründen, daß die erste Sprachbildung älter sein müßte als die Spaltung in Rassen. Der Klassifikator der Sprachen hatte aus dem Interesse seiner Aufgabe das Vorurteil gewonnen, die verschiedenen Sprachstämme sauber getrennt zu halten; aus dem Interesse seiner großen Lebensaufgabe, der Begründung der Deszendenzlehre, hatte Darwin das andre Vorurteil geschöpft, die Entwicklung der Sprachen womöglich aus Einer Ursache zu verstehen. Auf solchen Gebieten, wo Affektionswerte die Erkenntnis beeinflussen, ist auf Autoritäten noch weniger zu schwören als sonst. Dennoch hat Darwin einmal mit seinem unbeirrten Blicke gesehen, daß man seine Deszendenzlehre nicht einfach auf die Entstehung der Sprachen übertragen dürfe, was dann trotzdem geschehen ist, im ersten Rausche durch Schleicher, jetzt post[124] festum durch Trombetti. Darwin warnt davor (Abst. d. M., Reclam, I, 222), das natürliche System, das ein genealogisches sein müsse, in der Geschichte der Sprachen gleichwirksam zu erblicken wie in der Geschichte der Organismen; er irrt darin, daß er die Genealogie der Sprache für leichter beweisbar hält; aber er sieht doch den Unterschied.

Fr. Müller sucht den Beweis zu führen, daß die menschliche Sprache sich erst nach der Zerspaltung in Rassen gebildet habe; er kommt aus Gründen, die er aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen und aus der Sprachgeschichte holt, zu der Behauptung, daß es in der Urzeit noch viel mehr Sprachen gegeben habe als gegenwärtig. Wir werden noch sehen, daß Müller da mit dem Begriffe Ursprache ein wenig gespielt hat; aber er richtet sein Augenmerk doch ganz klar auf irgendeine Urzeit, in welcher Menschensprache von Tiersprache sich nicht wesentlich unterschied, und erkennt (S. 55) sehr vorsichtig, daß von einer ersten Sprache des Urmenschen eigentlich nicht die Rede sein könne. Trombetti dagegen läßt die Psychologie des Urmenschen ganz außer acht; er verwendet die historischen Gesetze der jetzt herrschenden Sprachwissenschaft leichtfertig auf eine Vorzeit, für die sie nicht nachgewiesen sind (weil es in Urzeiten keine Völker gab, also keine Volkssprachen und noch weniger Schriftsprachen geben konnte), macht sich von der Seelensituation des sprachbildenden Vorzeitmenschen kein Bild und hat darum kein Recht, sich auf die Sprachgeschichte der letzten zwei Jahrtausende zu berufen. Aus dem Instinkte eines schlechten Gewissens dürfte es also stammen, daß Trombetti öfter eine Scheu vor den großen Zeiträumen der Deszendenzlehre verrät; wenn sich nicht dahinter doch eine kirchlich orthodoxe Absicht versteckt.

Dabei wäre gegen die Logik seiner Beweisführung nicht viel einzuwenden, wenn nur die Grundbegriffe seiner Prämissen und Schlüsse nicht grundfalsch wären. Er sagt ganz logisch (S. 13): Wenn jeder der sieben oder acht bisher auseinander gehaltenen Sprachstämme auch nur mit einem ändern verwandt ist, so sind sie alle miteinander verwandt, so ist ihr Ursprung[125] identisch. Und nun sammelt er aus den Vergleichungen, die von ehrgeizigen Forschern vor ihm zwischen entlegenen Sprachstämmen gezogen worden sind, einige mögliche oder wahrscheinliche Ergebnisse und gelangt auf Grund unzulänglichster Proben dazu, Verwandtschaften nicht nur zwischen den (ich möchte überall sogenannt hinzufügen) arischen und altaischen, semitischen und hamitischen Mundarten, die immerhin durchforscht sind, herzustellen, sondern auch zwischen den polynesischen und australischen, zwischen südasiatischen und afrikanischen, zwischen altaischen und dravidischen, endlich zwischen nordasiatischen und indianischen Sprachen.

Ich bin der letzte, die Grundzüge dieses kühn und mit scheinbarer Gelehrsamkeit entworfenen Stammbaums um deswillen zu verwerfen, weil kein Mensch Kenntnis von allen Sprachen der Erde haben kann; die Virtuosen des Sprachtalents waren niemals Sprachforscher oder Sprachphilosophen. Schon etwas mehr Gewicht möchte ich darauf legen, daß eine solche Genealogie, die mit der Geographie der Erde so leicht umspringt, wie etwa ein Kind einen kleinen Globus dreht, das Beste unbeachtet läßt, was die neueste Sprachwissenschaft ergeben hat, die Wellen der Stufentheorie von Johannes Schmidt, die die Affinität der Sprachen – vielleicht ohne der Urbedeutung des Wortes zu gedenken – aus der Nachbarschaft erklärte. Einer noch ernsteren Überlegung möchte ich anheimstellen: ob bei den vielen und kleinen Wahrscheinlichkeiten, mit denen die Verwandtschaften der einzelnen Sprachstämme aufgestellt werden konnten, nicht die schließliche Wahrscheinlichkeit des Gesamtproduktes, der Zurückführung aller Sprachen auf einen einzigen Ursprung, gleich wäre der äußersten Unwahrscheinlichkeit.

Entscheidend für meine Ablehnung des Trombettischen Stammbaumversuchs ist jedoch die Unmöglichkeit, mit den Begriffen Sprachverwandtschaft und Ursprache irgendeinen brauchbaren Sinn zu verbinden. Bezüglich der Verwandtschaft habe ich (Kr. d. Spr. II, 111 f.) ausführlich dargelegt, daß es nur ein bildlicher Ausdruck ist, ein schlechtes Bild noch dazu;[126] und aus schlechten Bildern lassen sich nur elende Analogieschlüsse ziehen. Johannes Schmidt, der zu früh verstorbene Meister der Kritik, hat schon gelehrt: »Wir müssen die Idee der Stammbäume gänzlich aufgeben.« Auch für den Begriff Ursprache halte ich aufrecht, was ich (Kr. d. Spr. II, 375 f. und 421 f.) gesagt habe: »Ein schematischer Begriff ist das Urvolk, ein schematischer Begriff ist auch die Ursprache und wird es trotz der Bemühungen der Linguisten auch bleiben müssen.« Nicht nur die gemeinsame Ursprache eines Sprachstammes ist eine Fiktion, wie z.B. die indogermanische Ursprache, nicht nur die Sprachwurzeln sind Fiktionen: vor allem sind die Urvölker selbst Fiktionen und auch die Zeiten, in welche man das Leben der Urvölker zurückversetzt. Es gibt keine Ursprachen, keine vorstellbaren, der Sprachstämme; es kann noch weniger eine Ursprache des ganzen Menschengeschlechts vorgestellt werden. Fr. Müller scheint (S. 56) den Gedanken an die Ursprachen der einzelnen Sprachstämme nicht abzulehnen, oder vielmehr: der Gedanke stört ihn an dieser Stelle nicht weiter. Um so energischer hat er ausgesprochen, daß das, was man etwa die erste Sprache des Urmenschen nennen möchte, »nicht höher gestanden haben könne als jene Sprache, mittelst deren sich die Tiere, welche in Gesellschaften leben, miteinander verständigen«. Gegen die Annahme einer solchen Ursprache oder solcher Ursprachen habe ich freilich nichts einzuwenden. Und ich würde den Scharfsinn des Historikers bewundern, dem es gelänge, die Sprachen unsrer Wilden und unsrer Kulturvölker genealogisch bis zu den unartikulierten Schreien der ersten Menschen zurückzuführen und überdies noch zu entscheiden, ob in der fingierten Urzeit alle Menschen die gleichen Schreie ausstießen, oder ob verschiedene Menschenfamilien Sich verschiedene Schreie für den Ausdruck ihrer Freuden und Leiden angewöhnt hatten.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 123-127.
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