Goethes Weisheit

[653] Goethes Weisheit – Über Goethes Philosophie, über Goethes Weltanschauung sind so viele Bücher und Büchlein geschrieben worden, daß man eine stattliche Bibliothek mit ihnen füllen könnte; trotzdem gehen die Handbücher der Geschichte der Philosophie bei Goethe mit einer höflichen, aber kurzen Verbeugung vorüber. Und ich habe dies oft als ein Unrecht empfunden und keine Gelegenheit versäumt, Goethes Weisheit neben den Aussprüchen berühmter Philosophen als eine Autorität zu zitieren. Richte ich aber meine Aufmerksamkeit genauer auf diesen Punkt, so erscheint das Unrecht der Geschichtsschreiber der Philosophie geringer; Weisheit ist denn doch nicht Philosophie: der Weiseste aus dem Volke, das ein Engländer, Bulwer, das Volk der Dichter und Denker genannt hat (wörtlich: the great German people, a race of thinkers and of critics) war kein Philosoph. Zu unserm Heil;. wir haben viele Philosophen gehabt, aber nur einen Goethe.

Will man sich nicht mit Schlagworten abfinden lassen, so ist es nicht einmal auszumachen, welcher der führenden Philosophen die Weltanschauung Goethes entscheinend beeinflußt habe. Man nennt gewöhnlich an erster Stelle Spinoza und macht Goethe zu einem Schüler Spinozas; man nennt sodann Kant und auch Schelling, man nennt endlich jeden andern Philosophen, den Goethe gelegentlich, bedeutend und dankbar, erwähnt hat. Die Einstellung der philologischen Aufmerksamkeit auf den einzelnen Moment in Goethes Entwicklung: täuscht aber jedesmal über die Bedeutung des fremden Einflusses; Goethe war freilich ein ebenso unermüdlicher Aneigner, wie er ein Eigner war; aber der Feind aller Wortschälle war am wenigsten der Mann, in verba magistri zu schwören. Goethe hat sich selbst über sein Verhältnis zu den einzelnen Philosophen in seinen Schriften, seinen Briefen und seinen Gesprächen so deutlich geäußert, daß man schon offiziös und überflüssig den Wert des Dichters oder des Denkers übertreiben: muß, um Undeutlichkeit in diese geistigen Beziehungen hineinzutragen. Ich will mich bemühen, diesen Fehler zu vermeiden.[653]

Daß Goethe ein Spinozist gewesen sei, ist wahr oder unwahr, je nachdem man das Wort versteht. Goethe wäre bei einem Examen über Spinozas Lehre durchgefallen; er hat seinen Lieblingsphilosophen niemals studiert und wird darum in Kenntnis des Spinoza von jedem Oberlehrer übertroffen, der etwa eine Doktorarbeit über Spinoza geliefert hat. Goethe spricht ganz unbefangen über diesen Sachverhalt (im 16. Buche von »Dichtung und Wahrheit«). »Ich kann nicht sagen, daß ich je die Schriften dieses trefflichen Mannes in einer Folge gelesen habe, daß mir jemals das ganze Gebäude seiner Gedanken völlig überschaulich vor der Seele gestanden hätte.« ... »Denke man aber nicht, daß ich seine Schriften hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich bekennen mögen. Denn daß niemand den andern versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe was der andre denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen.« Wie immer holte sich Goethe aus Spinoza nur, was ihm ansagte, was er brauchen konnte; der »dezidierte Nichtchrist«, dem der graue Materialismus der Enzyklopädisten ein Greuel war, straffte sich am Pantheismus Spinozas zu einer gottlosen Religiosität empor, bei der er in Poesie und Leben Beruhigung fand. Die scholastische Form von Spinozas Philosophie interessierte ihn nicht; das ganze Gebäude kannte er nicht; er freute sich, bei einem zünftigen Philosophen, dessen Andenken eben erst durch Lessing und durch den Streit um Jacobis Spinozabüchlein gerettet worden war, seine freien Überzeugungen von Leben und Religion wiederzufinden, und gewöhnte sich, ein Dichter wie Tasso, »aus allen Sphären, was er liebt, auf einen Namen« niederzutragen. Und A. Köster hat in einem lesenswerten Aufsatze (Zeitgeist 31. 1. 1910) sehr gut darauf hingewiesen, daß das Bild, das von Spinoza unter uns lebt und wirkt, eben unter dem Einflusse Goethes entstanden ist; ich möchte sagen: sehr viel von dem, was wir an Goethes Weltanschauung spinozistisch nennen, haben wir nach Goethe aus Spinoza herauslesen gelernt.[654]

Seinen Zeitgenossen Kant hat Goethe ebenso wenig im Zusammenhange gelesen; der Vernunftkritiker stand ihm weit ferner als der Pantheist, konnte seiner Anschauung vom Leben und von Religion nichts bieten. Hat ihm wenigstens nichts geboten. Es war fast nur Herzenshöflichkeit gegen Schiller und den Jenenser Gelehrtenkreis, wenn Goethe überhaupt einverstanden war, sich ein wenig und in seiner Weise mit Kant zu beschäftigen. Auch darüber hat sich Goethe unbefangen genug ausgesprochen, in dem kleinen Aufsatze »Einwirkung der neuern Philosophie«. Er sagt: »Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ.«... Aus der Kritik der reinen Vernunft »schien zum erstenmal eine Theorie mich anzulächeln. Der Eingang war es, der mir gefiel; ins Labyrinth selbst konnt' ich mich nicht wagen: bald hinderte mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgend gebessert... Einzelne Kapitel glaubt' ich vor andern zu verstehen und gewann gar manches zu meinem Hausgebrauch.« Stärker wirkte die Kritik der Urteilskraft; dieser war Goethe eine »höchst frohe Lebensepoche schuldig«. Schiller und die anderen Jenenser Herren mögen sich gewundert haben darüber, wie Goethe ihren Kant las und was er sich aus ihm aneignete; und doch traf Goethe den Kernpunkt dieses kritischen Werkes. »Das innere Leben der Kunst sowie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche deutlich ausgesprochen. Die Erzeugnisse dieser zwei unendlichen Welten sollten um ihrer selbst willen da sein, und was neben einander stand, wohl für einander, aber nicht absichtlich wegen einander.« Man sollte weder die späten Achtungsbezeigungen gegen Kant, noch gelegentliche Respektlosigkeiten (wie wenn Goethe, um den Kantgegner Herder nicht zu ärgern, einmal sagte: »Wir sehen diese Philosophie als ein Phänomen an, dem man auch seine Zeit lassen muß, weil alles seine Zeit hat«) allzu feierlich nehmen; Goethe konnte sogar posieren, so wenn er zu dem Franzosen Cousin mit überlegener Sachkenntnis über Kant und die deutsche Philosophie sprach (am 20. Oktober 1817). »J'ai tout vu en Allemagne, depuis la[655] raison jusqu'au mysticisme. J'ai assisté à toutes les révolutions. Il y a quelques mois, je me suis mis à relire Kant; rien n'est si clair depuis que l'on a tire toutes les conséquences de tous ses principes. Le système de Kant n'est pas détruit.« Im ganzen bleibt es dabei, was Goethe 1823 zu Kanzler Müller sagte: »Mit seiner Kritik der Vernunft habe ich mich nie tief eingelassen.«

In Goethes Äußerungen über Fichte, Schelling und Hegel ist, wenn man von einer gewissen halbamtlichen Höflichkeit absieht, der Ton überlegener Ironie nicht zu verkennen; mit Fichte hatte er sich im zweiten Faust sehr unfreundlich auseinandergesetzt; Hegel war ihm doch nur ein geistreicher Sophist, der der Natur fremd gegenüberstand; Schelling schätzte er noch weniger als Hegel und leimte seine »zweizüngelnde Ausdrücke über religiöse Gegenstände« entschieden ab, duldete aber gern, daß Schellings Naturphilosophie (die seltsamerweise von Spinoza herkam und noch seltsamerweise, vielleicht auf Umwegen, Spencers Entwicklungslehre beeinflußt hat) als eine philosophische Bestätigung seiner Metamorphosenlehre aufgefaßt wurde. Es ist bekannt, daß Goethe, der doch so viel las, das Hauptwerk seines jungen Freundes und Schülers Schopenhauer, trotzdem es ihm ehrfurchtsvoll überreicht worden war, nicht gelesen hat.

Noch törichter als der Versuch, Goethe einer bestimmten philosophischen Schule anzugliedern, wäre der Ausweg, ihn einen Eklektiker zu nennen; trotzdem der junge Goethe, wenn er nach der geheimnisvollen Gretchenkatastrophe außer dem kleinen Brucker auch den großen Brucker fleißig zu lesen liebte, vielleicht dort (Kurze Fragen aus der philosophischen Historie, VII. Band, S. 2) die Empfehlung hätte finden können: »was aus aller Welt systematibus anständig, durch eine vernünftige Auswahl herauszusuchen und mit den eigenen Gedanken zu verbinden, und damit die bei allen vernünftigen Leuten gebilligte philosophiam eclecticam in die Höhe zu bringen«. Bei Brucker, dem Geschichtsschreiber der Philosophie, war der Mangel eines eigenen Standpunktes natürlich; überdies die eklektische[656] Philosophie damals (1736) immer noch als Zuflucht aus der nachwirkenden Scholastik nicht zu verachten. Goethe war kein Historiker der Philosophie und brauchte keiner Schule zu entfliehen; als der eben genannte französische Eklektiker Cousin ihn genug gelangweilt hatte, sagte Goethe zu Kanzler Müller und schrieb den grimmigen Satz auch nieder (Sprüche in Prosa, Nr. 447): »Eine eklektische Philosophie kann es nicht geben, wohl aber eklektische Philosophen.« Und fügte die Notiz hinzu: »Ein Eklektiker aber ist ein jeder, der aus dem, was ihn umgibt, aus dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was seiner Natur gemäß ist.«

Mag wer will sich auf diese Worte berufen und Goethe zu der eklektischen Schule der Brucker und Cousin rechnen; Goethe verschlang als ein geistiger Omnivore alles und verbrauchte alles im Arbeitsegoismus seiner dichterischen Lebensarbeit. Man lasse sich doch nicht irre und dumm machen durch die rednerischen Aufsätze über Goethes wissenschaftliche und philosophische Bedeutung. Goethe war Dichter, nichts als Dichter; Schriftsteller, wenn man so lieber will, writer, nach der Bezeichnung Emersons. Es hat unter den Dichtern, unter den Forschern, unter den Philosophen gleich außerordentliche Köpfe gegeben; aber die Psychologie des einen Kopfes ist nicht die des andern. Die Reimereien von Leibniz und Kant, auch die glatten Verse von Schopenhauer beweisen gar nichts; ebenso wenig die vielfachen Ansätze Goethes, sich in der Philosophie zurechtzufinden und in den Naturwissenschaften mit den Fachleuten zu wetteifern. Der Dichter Goethe war auch als Naturbeobachter groß; aus seiner Metamorphosenlehre spricht eine Ahnung der Natureinheit, die nicht unterschätzt werden soll, und selbst seine wilde Polemik geigen Newtons Farbenlehre ahnt ganz richtig die Grenzen der mathematischen Methode; aber ein Forscher ersten Ranges war er dennoch nicht, weil er zwar die kleine Pedanterie des Sammlers besaß, nicht aber die große Pedanterie des wissenschaftlichen Arbeiters. Und ein Philosoph wurde er nicht, weil Weisheit doch eben etwas andres ist als Philosophie.[657]

Wir wollen ja nicht um Worte streiten, auch nicht um den Sprachgebrauch. Es ist aber doch gewiß, daß wir unter Klugheit etwas andres verstehen als unter Weisheit, unter Weisheit wieder etwas andres als unter Philosophie. Klugheit, Schlauheit, Pfiffigkeit geht doch mehr auf den Charakter, bezeichnet doch immer die Anlage, seine mittleren oder höheren Verstandesgaben (selbst Dummheit kann mit Schlauheit gepaart sein) seinen kleineren oder größeren Absichten dienstbar zu machen. Von dieser Klugheit unterscheidet sich die Weisheit doch nicht bloß dem Grade nach; Schopenhauers Definition (Parerga II. S. 637) scheint mir ungenügend: »Die vollendete, richtige Erkenntnis der Dinge im ganzen und allgemeinen, die den Menschen so völlig durchdrungen hat, daß sie nun auch in seinem Handeln hervortritt, indem sie sein Tun überall leitet.« Also theoretische und praktische Vollkommenheit, ein bloßes Gemisch von Klugheit und Philosophie (»Richtige Erkenntnis der Dinge im ganzen und allgemeinen«). Ich glaube, man unterscheidet anders zwischen den drei Begriffen. Klugheit geht aufs Praktische, Wissen und Philosophie gehen aufs Theoretische, doch so, daß die Wissenschaft auf die Erkenntnis besondrer Gegenstände sich richtet, Philosophie auf die Erkenntnis der allgemeinsten Gedankendinge. Weisheit aber scheint mir sagen zu wollen, daß der Besitzer dieser Eigenschaft, dieses Gutes oder dieser Denkart nicht nur mit seltenster Klugheit jedesmal seinen theoretischen oder praktischen Zwecken gemäß zu handeln oder zu denken versteht, sondern daß er auch und überdies den Wert der jeweiligen theoretischen oder praktischen Zwecke beurteilt. Vielleicht auch nach seinem Urteile handelt. Schopenhauer war gewiß ein Philosoph, aber schwerlich ein Weiser. Montaigne war ein Weiser, aber nicht eigentlich ein Philosoph. Von Sokrates machen wir uns die Vorstellung, daß er zugleich ein Weiser und ein Philosoph gewesen sei.

Beweise von Goethes Weisheit füllen die vielen Bände, in denen seine Schriften, seine Briefe und seine Gespräche gesammelt worden sind. Über Goethes Geringschätzung der Sprache, seine tiefste Weisheit, habe ich das Wichtigste (Kr.[658] d. Spr. I². S. 115 ff.) schon vorgebracht. Von dem Verhältnisse, in welches ihn seine Weisheit zur Philosophie setzte, hier nur einige Proben aus seinen Gesprächen.

2. August 1807: »Der Mensch spricht das Objekt nicht ganz aus. Aber was er davon ausspricht, das ist ein Reales, wäre es auch nur seine Idiosynkrasie... Wir sollten nicht von Dingen-an-sich reden, sondern von dem Einen-an-sich... Es ist alles nur Eins; aber von diesem Einen-an-sich zu reden, wer vermag es?«

14. November 1823: »Ich kann nicht umhin zu glauben, daß Schillers philosophische Richtung seiner Poesie geschadet hat; denn durch sie kam er dahin, die Idee höher zu halten als alle Natur, ja die Natur dadurch zu vernichten.«

1. Mai 1826: »Ich kann doch nicht wie er denken, weil ich Ich und nicht Er bin. Wie können sich nur die Leute einbilden, daß mich ihr Denken interessieren könnte, z.B. Cousin?«

16. Juli 1827: »Von der Hegelschen Philosophie mag ich gar nichts wissen, wiewohl Hegel selbst nur ziemlich zusagt. Soviel Philosophie als ich bis zu meinem seligen Ende brauche, habe ich noch allenfalls; eigentlich brauche ich gar keine.« (Folgt die oben zitierte Bemerkung über eklektische Philosophie.)

4. Februar 1829: »Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei erhalten; der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige.«

Endlich (einmal nach 1825): »Es waltet in dem deutschen Volke ein Geist sensueller Exaltation, der mich fremdartig anweht; Kunst und Philosophie stehen abgerissen vom Leben in abstraktem Charakter, fern von den Naturquellen, welche sie ernähren sollen. Ich liebe das echt volkseigene Ideenleben der Deutschen und ergehe mich gern in seinen Irrgängen, aber in steter Begleitung des Lebendignatürlichen. Ich achte das Leben höher als die Kunst, die es nur verschönert.«

Es tut wirklich nichts zur Sache, daß man zu allen Urteilen Goethes andre Stellen anfuhren könnte, die zu widersprechen scheinen. Goethe war auch darum eher ein Weiser als ein[659] Philosoph, weil er seine Weltanschauung schaffend lebte, sie aber nie in ein System brachte, weil er unabhängig war selbst von dem Worte, das er etwa gestern gesprochen hatte. War doch seine Sprachkritik so überaus radikal, daß er die Sprache nicht nur als Werkzeug des Denkens gering schätzte, sondern sogar als Werkzeug seiner eigenen Lebensarbeit, als Werkzeug der Poesie.

Er hatte ja deutlich eingesehen, daß niemand den andern versteht, daß also kein Leser einen Philosophen ganz versteht; da ist es kein Wunder, daß Goethe seine große Persönlichkeit niemals an irgendeinen Philosophen dahingab, sie vielmehr nur steigerte und wachsen ließ durch das, was er aus der fremden Welt in sich einsaugte. Wie ein Baum wächst. So finden wir, was Goethe stolz und fest über sein Verhältnis zur Philosophie sagt, merkwürdig genau bestätigt durch einen Bericht Schillers an Körner (31. Oktober 1790); Schiller meint es trotz einiger rühmenden Schlußworte tadelnd und fast bitter, wir aber vernehmen heute auch aus Schillers Tadel Goethes überlegene Weisheit. Die beiden Dichter hatten über Kant gesprochen, »Interessant ist's, wie er alles in seine eigene Art und Manier kleidet und überraschend zurückgibt, was er las; aber ich möchte doch nicht gern über Dinge, die mich sehr nahe interessieren, mit ihm streiten. Es fehlt ihm ganz an der herzlichen Art, sich zu irgendetwas zu bekennen. Ihm ist die ganze Philosophie subjektivisch, und da hört denn Überzeugung und Streit zugleich auf. Seine Philosophie mag ich auch nicht ganz: sie holt zu viel aus der Sinnenwelt, wo ich aus der Seele hole. Überhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet mir zu viel.«

In dem gleichen Sinne urteilt Schopenhauer über Goethes Verhältnis zur Philosophie. Er spricht (Parerga II. 193) von der Farbenlehre, wo er doch Goethes Aperçu zur Wissenschaft erhoben zu haben glaubte. »Goethes Trieb war, altes rein objektiv aufzufassen und wiederzugeben: damit aber war er dann sich bewußt, das Seinige getan zu haben, und vermochte gar nicht, darüber hinauszugehen... Damit (mit dem Urphänomen)[660] hielt er alles für getan: ein richtiges so ist's war ihm überall das letzte Ziel, ohne daß ihn nach einem so muß es sein verlangt hätte. Konnte er doch sogar spotten:

Der Philosoph, der tritt herein:

Und beweist euch, es müßt' so sein.

Dafür nun freilich war er ein Poet und kein Philosoph, d.h. von dem Streben nach den letzten Gründen und dem Innersten Zusammenhange der Dinge nicht beseelt – oder besessen; wie man will.«

Noch allgemeiner sagt Schopenhauer von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts (Welt a. W. II. 156, ähnlich Parerga II. 89): »Keiner kann Platon und Aristoteles, oder Shakespeare und Newton, oder Kant und Goethe zugleich sein.«

Unter den gelegentlichen Versuchen Goethes jedoch, seine eigene Weltanschauung fast völlig unbildlich, ja mathematisch abstrakt auszudrücken, scheint mir keiner bedeutsamer als das Bekenntnis, das er (in einer Niederschrift vom 19. Februar 1815) ablegt und es acht Tage später einem Briefe an Christian Heinrich Schlosser beilegt, »mein allgemeines Glaubensbekenntnis: a) In der Natur ist alles, was im Subjekt ist, y und etwas drüber, b) Im Subjekt ist alles, was in der Natur ist, z und etwas drüber. b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden... Das Wesen, das in höchster Klarheit alle viere zusammenfaßte, haben alle Völker von jeher Gott genannt... Die Notwendigkeit der Totalität erkennen wir beide, aber der Träger dieser Totalität muß uns beiden ganz verschieden vorkommen.« Wichtig ist noch, daß Goethe mit diesem langen Briefe den Wunsch aussprach, sich in seinem strebsamen Philosophen Schlosser (1782-1829)1 einen nicht unwürdigen Ersatz für den Genossen Schiller heranzuziehen, »zu dem großen Kunststück, bei völlig auseinander strebenden Richtungen ununterbrochen eine gemeinsame Bildung fortzusetzen«.[661]

1

Nicht zu verwechseln mit Goethe's ebenso strebsamem Schwager Joh. Georg Schlosser (1739-1799).

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 653-662.
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