Persönlichkeit

I.

[527] Persönlichkeit gehört zu einer Gruppe künstlicher Worte, die eigentlich den Prinzipien aller Sprachgeschichte zu widersprechen scheinen. Analogiebildungen ohne Sinn und ohne Inhalt, von Wortphilosophen einem Wortsysteme zuliebe geformt, schleppen sie ihr leeres Dasein innerhalb des Systems eine Weile fort, bis eine popular-philosophische Mode das Wort der Gemeinsprache der Halbgebildeten zuführt und es dort, weil es als Wort einmal existiert, mit einem eigenen Inhalt füllt. So mag ein Wanderer eine leere Tasche, die er zufällig gefunden hat, mit Geld füllen; er muß nur Geld besitzen. Aus qualis, quantum, quid usw. wurden solche Scheinsubstantive gebildet. Aus idem wurde die Eigenschaft auszudrücken versucht, idem und nicht alter zu sein, die Identität; und heute stellen Gendarmen nach dem neuen Erkennungsverfahren die Identität eines Strolches fest. Persönlichkeit ist uns seit Goethe etwas wie ein höchstes Gut geworden, das letzte Ziel von Menschen, die sich nicht mehr als Atome einer Masse, eines Staates fühlen, sondern den Kern ihres eigensten Wesens zur Geltung bringen wollen: ihre Individualität. (Atom, Staat, Geltung, Individualität, besonders Wesen, lauter solche nachgefüllte Worte.) »Höchstes Glück der Erdenkinder Ist nur die Persönlichkeit.« Und auch dieses Wort war einst eine leere scholastische Analogiebildung, die Eigenschaft auszudrücken, daß ein Mensch eine Person ist. Jurisprudenz, Theologie und Psychologie glaubten den Begriff der personalitas nötig zu haben. Die Frage war etwa, ob ein unvernünftiges Tier schon, ob der allweise Schöpfer der Welt noch eine Person sei. Die Jurisprudenz wollte den Tieren die personalitas absprechen, sie sollten keine Rechtssubjekte sein; die Theologie zermarterte sich, um den Personen der Trinität die personalitas zugleich zu- und abzusprechen. Diese personalitas wurde als eine Eigenschaft besessen; die Person hatte Persönlichkeit, wenn sie eine Person war. Bis das Wort eigenes Leben gewann und erst ausgezeichnete, hervorragende Menschen Persönlichkeiten waren und endlich, in unseren[527] Tagen, jeder Bummler, qui se respecte, für jede Unterscheidung von dem verachteten Alltagsmenschen, für jedes Talentchen und jedes Laster, für jede Warze und jedes Verbrechen die Formel bereit hat: ich bin eine Persönlichkeit. Wir stehen in der Entwicklung dieser Wortgeschichte noch mitten drin und können nicht wissen, ob der Individualismus schon wieder im Rückgang begriffen ist oder im Fortschreiten. Beachtenswert ist, daß vorzüglich ganz junge Leute Persönlichkeiten sind, daß mit der Reife der Weltanschauung das Trotzen auf die Persönlichkeit nachzulassen pflegt.

Wir werden noch sehen, wie Kant auf diesen neuesten Bedeutungswandel eingewirkt hat. Vorläufig möchte ich nur bemerken, daß just Kant, weil er ethische Vorstellungen an den Begriff heranbrachte, wohl die Veranlassung wurde, daß die Persönlichkeit im Sinne Goethes sich theoretisch von der Ethik, von der allgemeinen Anschauung emanzipierte. Noch Christian Wolf sah das Wesen der Person in der memoria sui: »da man eine Person nennet ein Ding, das sich bewußt ist, es sei eben dasjenige, was vorher in diesem und jenem Verstande (?) gewesen, so sind die Tiere auch keine Personen; hingegen weil die Menschen sich bewußt sind, daß sie eben diejenigen sind, die vorher in diesem und jenem Zustande gewesen, so sind sie Personen«. (Vernünftige Gedanken § 924.) Kant nun, der mit unerhörter Kraft das Denken von religiösen und metaphysischen Abhängigkeiten befreit hatte, um leider mit fast gleicher Kraft die hergebrachte Ethik apriorisch zu begründen, erklärte den Begriff der Persönlichkeit daraus, daß der Mensch ein Zweck sei, ein Zweck an sich selbst, also doch wohl von einem lieben Gott als Zweck gesetzt. »Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit..... die Persönlichkeit stellt uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen.« (Kr. d. pr. Vernunft 155.) Aus[528] dieser neuen Vorstellung kamen dann neue Hoheitsrechte des Menschen. Der Mensch hatte eine Bestimmung, wenn er ein Zweck war; es ist eigentlich eine Tautologie. Und weil der Mensch kein Mittel mehr war, so besaß er, was es sonst auf der Welt nicht gab: Würde. Über die Bestimmung des Menschen machte sich Schiller lustig; die Würde, die doch auf der Bestimmung ruhte, predigte er.

Machte man aber Ernst mit dem unmöglichen Begriff Zweck an sich selbst, löste man die Persönlichkeit von dem Schöpfer los, der allen Menschen den gleichen Zweck gesetzt hatte, so konnte das neue Wort Selbstzweck kaum mehr etwas anderes heißen als: der eigenste Wille der Persönlichkeit, des Individuums, weil doch irgend ein Wille hinter dem Zweck stecken muß. Und so führte die Persönlichkeit, nachdem Kant sie anstatt in der Erkenntnislehre in der praktischen Philosophie behandelt hatte, geradezu in den Individualismus, der sich nachher Anarchismus nannte. Für seine Person hatte Goethe anarchische Neigungen.

II.

»Für seine Person.« Ebenso heißt es schon in der Bibel und noch heute »die Person des Königs«. Wenn gesagt worden wäre: der König, so wäre nicht weniger gesagt worden, Person ersetzt nur einen gewissen Nachdruck. Zu einem so leeren Schatten ist das Wort geworden, auf einem langen Wege, dessen Anfang wir nicht kennen und auf dessen Bahn Jahrhunderte lang ein Schattenkampf der Theologen und dann wieder der Juristen stattgefunden hat, den wir für eine Wortgeschichte nehmen müssen.

Dessen Anfang wir nicht kennen, wenn auch alle Handbücher die alte Fabel des Gellius wiederholen: persona a personando. Kopf und Gesicht des Schauspielers wären von einer Maske bedeckt gewesen, und die Stimme des Schauspielers, weil sie nur durch das kleine Sprachrohr heraustreten konnte, wäre heller und volltönender geworden. Quoniam igitur indumentum illud oris clarescere et resonare vocem facit, ob eam causam persona dicta est, o littera propter vocabuli formam productiore. Die Etymologie ist nicht ganz so kindisch, aber ebenso unhaltbar wie[529] andere antike Etymologien. Über die widersprechende Quantität (persono und persôna) wäre hinwegzukommen; aber wo in aller Welt kann die Maske ihre Bezeichnung von der Schallverstärkung gehabt haben, die ganz gewiß zum Zwecke dieser Etymologie hinzuerfunden war. Neuere Vorschläge für eine bessere Etymologie sind sehr zahlreich, waren aber nicht glücklicher. An die klassische knüpft die an, welche persona erklärt mit quod per se sonat. Sprachwissenschaftlich noch schlimmer, aber geistreich und nachwirkend ist die des Placidus: persona eo quod per se una est; Schloßmann nimmt an, daß die Definition bei Boëthius die Individualität der Person, per se unam esse, auf jene Etymologie zurückgeht. Auch aus dem Griechischen hat man persona ableiten wollen; so Scaliger ganz unmöglich von peri sôma oder pe r zôma. Von altersher war bekannt, daß persona in der Bedeutung Maske mit prosôpon zusammentraf; die Versuche, persona von prosôpon etymologisch abzuleiten (prosôpon, prosôpeion sich in der Volkssprache zu persona wandelte, wie umgekehrt Persephonê zu Proserpina, oder ab prosôpon über eine aramäische oder syrische Form parsopa zu persona wurde) hätte etwas sehr Bestechendes, wenn nur nicht die gleiche Wahrscheinlichkeit verschiedener Wege alle gleich unwahrscheinlich machte. Die additiven Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelten nicht für die Geschichte, weil sie Zufall ist, immer nur den einen Fall darbietet und den andern möglichen Fall nicht kennt.

Der Zusammenhang aber zwischen prosôpon und persona besteht. Für meine Zwecke genügt die Annahme, daß persona wirklich irgendwie von prosôpon herstammt, aber für das Sprachgefühl der Römer eine Übersetzung von prosôpon war.

In die modernen Kultursprachen ist nun dieses Wort mit Haut und Haar übergegangen; der Italiener, der Rumäne, der Provençale, der Franzose, der Spanier, der Deutsche, der Engländer, der Holländer usw. sagt persona oder ganz ähnlich. Nur im Deutschen erfahren wir von einem interessanten Versuch, eine Lehnübersetzung aus deutschem Sprachgut herzustellen. Daß das deutsche Wort Person einst aus dem lateinischen persona, dann aus dem französischen personne (Elisabeth Charlotte schreibt[530] die Mehrzahl Personnen, aber auch in der österreichischen Mundart kommt Perschannen vor), neuerdings wieder direkt aus dem Lateinischen hergeholt worden ist, das ist freilich nur ein winziger Beitrag zur gegenseitigen Beeinflussung von Nachbarsprachen. Aber schon Adelung wußte, daß im Althochd. ein hübscher Versuch gemacht worden war, Person zu übersetzen. Mit Heit, das heute zu einer fast leeren Endsilbe geworden ist. Ich gebe einige Beispiele nach Adelung und dem D. W. Der Isidorus-Übersetzer sagt für die zwei Personen Jesu dero zwio Heito, für die dritte Person diu Drittenheit. In einem Marienleben von Bruder Philipps heißt es vom Barte Jesu: der was brun unde reit, ze mazen lanc in schöner Heit. Im ältern Nhd. heißt es vom verlorenen Sohn:

Sollt ich zum Vater in solcher Heit,

Nein, würd ihm machen großes Leid.

Mehr, als aus diesen Beispielen erhellt und aus den zahlreichen Zusammensetzungen, die Grimm (Gram. II 497) gesammelt hat, wird sich über die ursprüngliche Bedeutung von Heit kaum ausmachen lassen. Es heißt: Person, hervorragende Persönlichkeit, Gattung, Würde, Gestalt, Form usw. Die Ableitung vom Sanskritworte ketus möchte ich nicht gern bemühen. Sollte aber Heit mit heiter zusammenhängen (wieder möchte ich den Zusammenhang mit katharos nicht bemühen), so wage ich eine Urbedeutung: Auge, Antlitz vorauszusetzen, wo dann Heit fast eine Lehnübersetzung von prosôpon sein könnte.

Weniger gewagt, weil im sprachwissenschaftlichen Betriebe anzuerkennen, aber noch nicht bemerkt, ist nun eine andere Beziehung. Person wurde also vor 1000 Jahren mit Heit übersetzt, einem Worte, das in allen germanischen Sprachen seine Selbständigkeit verloren hat. Im Deutschen ist es zu den Endsilben heit und keit geworden, im Englischen zu den Endsilben hood und hat, in den skandinavischen Sprachen (wahrscheinlich unter niederdeutschem Einfluß) zu het; als nun die hd. Sprache den Begriff Persönlichkeit brauchte, als Meister Eckhart die Mugenheit der drei göttlichen Personen tiefgründig untersuchte nach ihrer Personlicheit oder nach ihrer Wesenheit, da trat bereits die[531] alte Übersetzung von Person als schattenhafte Ableitungssilbe an das schattenhafte Adjektiv vom leergewordenen Personenbegriff heran, und wir haben in dem Worte Persönlichkeit denselben leeren Begriff zweimal: als hohlen Stamm und als hohle Endsilbe. Was wir bei Persönlichkeit denken, ist 500 Jahre später hinzugekommen. Goethe hat seinen neuen Wein in die alten Schläuche von Eckhart gegossen.

Für Germanisten brauche ich nicht hinzuzufügen, daß die Endsilbe keit wirklich mit Heit identisch ist, durch Mißverständnis aus Fällen wie Ewigkeit entsprungen, wie Hildebrand (Artikel keit im D. W.) nachgewiesen hat. Ewigkeit hieß im Mhd. ewikheit, ewicheit; dieses wurde so ausgesprochen, als hieße die Endung cheit, was gemildert zu keit wurde, so daß die neue Form hieß: ewikeit, ewekeit; man glaubte nun gewiß philologisch zu verfahren, wenn man schon im 14. und 15. Jahrhundert Ewigkeit, Einigkeit, Barmherzigkeit usw. schrieb.

Analysieren wir so historisch das Wort Persönlichkeit, so gelangen wir allerdings zu einem abstrusen Begriffsinhalt: das Wesen einer Eigenschaft, wonach ein Wesen zu einem Wesen wird. Wer wortgeschichtliche Studien, mit vorurteilslosem Blick in ihre internationale Zufallsgeschichte, getrieben hat, wer sich nicht auf die angeblichen Gesetzlichkeiten des gegenwärtig vorgeschriebenen sprachwissenschaftlichen Weges beschränken will, der wird dem Bedeutungswandel von Person und Persönlichkeit sofort nachfühlen, daß kirchenchristlicher Einfluß da mitgespielt haben muß. Überzeugend ist das nachgewiesen in einer Abhandlung von Schloßmann »persona und prosôpon im Recht und im christlichen Dogma«. Eine nachgelassene Untersuchung von Trendelenburg »zur Geschichte des Wortes Person« (eben erst [1908] von Eucken in den Kant-Studien Bd. 13, Hft. I, herausgegeben) ist für die erkenntnistheoretische Seite der Frage nicht veraltet. Ich will beiden Untersuchungen einiges zur Wortgeschichte entlehnen. Eine Beziehung von persona zu prosôpon ist nicht abzuweisen; prosôpon ist ursprünglich das Antlitz, nimmt aber früh die Bedeutung Maske an; prosôpon, später prosôpeion, wird so zu einem Ausdruck der Theatertechnik: prosôpon heißt Rolle,[532] drammatis persona. Zur Kaiserzeit gewinnt es, vielleicht schon selbständig (ohne die Rückwirkung des römischen Rechts, von der noch die Rede sein wird) auch in der Gemeinsprache die allgemeine Bedeutung von Person; mit einiger Kühnheit der Metapher kann man da immer die Herkunft aus der Theatersprache heraushören. Man achte darauf, daß auch Charakter (vgl. Art. Charakter) seinen Bedeutungswandel vielfach geradezu über die Theatersprache genommen hat. Übrigens ist es für den Bedeutungswandel nicht unwesentlich, daß prosôpon seltener vorkommt als persona; der Sinn konnte von selbst nicht so schattenhaft dünn werden, wie der des lateinischen Wortes.

Vom 5. und besonders vom 6. Jahrhundert an kommt es nun dazu, daß prosôpon zur Lehnübersetzung von persona wird, während in der großen, römischen Zeit unzählige griechische Begriffe in lateinischen Lehnübersetzungen aufgenommen worden waren. Als die Kodifikation des römischen Rechts vollendet war, hatte sich auch prosôpon im Sinne von persona in der byzantinischen Literatur eingebürgert. Als ein Latinismus. Erst in den letzten Jahrzehnten hat man, namentlich in Ägypten, viele Belege aus Privaturkunden gesammelt, die den Einfluß der lateinischen Juristensprache auf die griechische Gerichtssprache der Provinz zeigen. Das Juristengriechisch der Kaiserzeit wimmelte von Latinismen, wie das Kirchengriechisch von Hebraismen.

Im Juristenlatein aber spielt persona nicht ganz die Rolle, die ihm nach der Schultradition zugewiesen wird. Persona soll im römischen Recht das Subjekt der Rechtsfähigkeit bedeuten; Sklaven sind also keine Personen; wohl aber gelten Korporationen u. dergl. für Personen, sog. juristische Personen. Schloßmann scheint mir ein wenig zu weit zu gehen, wenn er einen solchen technischen Gebrauch von persona in den alten Quellen überall leugnet. Die römischen Juristen waren, mag man auch seit Jahrhunderten das Gegenteil behaupten, keine Systematiker, sowenig als die Verfasser des Talmud Systematiker waren. Ihre Sätze über den Personenstand der Sklaven mögen unklar und populär genug etwa den Sinn gehabt haben: »Sklaven sind keine Menschen.« Wie heute schneidige Kolonialpolitiker wohl sagen:[533] »Die Schwarzen sind keine Menschen«, was doch auch in ihrem Sinne kein Mustersatz der Logik sein soll. Wohl aber hat Schloßmann recht mit dem Nachweis, daß die römischen Juristen das Wort sehr ungenau gebrauchten, wiederholt auch ganz unbefangen für die Sklaven. Persona war der unbestimmteste Ausdruck für einen Menschen. In den neueren Sprachen wandelte sich französisch personnage, deutsch Persönlichkeit zum Ausdruck für einen hervorragenden Menschen; Person im Deutschen zu einer verächtlichen Bezeichnung, personne im Französischen gelegentlich zur Negation, wie rien (res), pas (passus), so daß es in einer elliptischen Antwort Niemand heißen kann; so reich war das römische persona nicht. Auf dem Wege von Maske zu Rolle, Typus, wurde persona schließlich zu einer bloßen Redensart, zu einem überflüssigen Vorschlag. Persona regis = rex, wie man etwa Gott des Krieges oder Mars für Krieg sagen kann. Als das Wort erst so leer geworden war, war es wie geschaffen für die moderne Verwendung in der Jurisprudenz.

Auf einem parallelen Wege wandelte sich prosôpon in der Dogmengeschichte zu einem leeren Schall von historischer Bedeutung. Der ursprüngliche Sinn Maske hatte den gleichen Wandel durchgemacht wie im Lateinischen und gewiß schon vorher. Wir müssen uns recht lebhaft die Aufführung griechischer Tragödien und Komödien vorstellen, um begreifen zu können, wie die Maske zur Metapher für Rolle, Typus, Menschenart, Mensch werden konnte. Der Schauspieler spielte seine Rolle unter einer Maske, die vielleicht ganz individuell, aber dafür für das ganze Stück regelmäßig dieselbe und starr war. Der Darsteller in der Komödie sah vielleicht dem dargestellten Original zum Verwechseln ähnlich, weit mehr als das unsern Schauspielern zu erreichen möglich ist; ein individuelles Mienenspiel aber fehlte durchaus, wenigstens bei den Griechen. Und wenn von unsern Schauspielern Persönlichkeit verlangt wird, so hat man vergessen, daß dieses Wort von der unpersönlichen Maske, prosôpon, persona, herkommt. Um den Unterschied von damals und heute zu verstehen, stelle man sich die Düse unter einer Maske vor, die leibhaftige, tragische Muse, der man das Leben genommen hätte.[534]

III.

Wenn aber prosôpon ganz ebenso heruntergekommen ist wie persona, so trägt die Verantwortung dafür nicht die Jurisprudenz, sondern die Theologie; und erst spät mischen sich wieder der theologische und juristische Sprachgebrauch; prosôpon und persona bringen einander gegenseitig herunter. Der schlechte Einfluß auf prosôpon kam in weitem Abstande von zwei Seiten: vom jüdischen Sprachgebrauche und von der dogmatischen Verlegenheit der Christen. Ganz orientalisch ist der Gebrauch von prosôpon als eines überflüssigen Vorschlags vor dem eigentlich gemeinten Worte. Wo im Alten Testamente panim das Antlitz Gottes, des Engels, des Bruders, der Männer, der Könige gesagt war, da hieß es in der LXX immer prosôpon. Die Verbindung von Antlitz mit dem Plural war der erste Schritt zur Sinnlosigkeit. In den späteren Büchern des Alten Testaments wird nun das Wort mit abstrakten Begriffen verbunden: das Antlitz der Furcht, des Krieges, der Bosheit usw.; endlich konnte man, ungeheuerlich für unser Sprachgefühl, vom Antlitz der Hand (Jesaias), vom Antlitz der Füße (Juda) reden (wie ja auch »Knie des Herzens« dem Alten Testament angehört). So sehr war jede Vorstellung verloren gegangen. Im Neuen Testament steigert sich der orientalische Gebrauch noch weiter, indem das Wort, auf das es ankommt, zu dem fast bedeutungslosen und wohl auch tonlosen prosôpon im Genitiv hinzugefügt wurde; ganz ähnlich wie heute die Araber einen Lügner Vater der Lüge nennen, einen reichen Mann Vater des Glücks. Panim (im Judendeutsch ein Schimpfwort wie das deutsche Person), prosôpon war zu so etwas wie einer Kategorie geworden.

Und weil Kategorie an Vornehmheit nichts zu wünschen übrig läßt, war so prosôpon reif geworden, das Schlagwort im wichtigsten Dogmenstreite abzugeben. Bekanntlich war die Trinitätslehre die erste Lehre des Christentums, die zum Dogma erhoben wurde. Ich würde mich nicht scheuen, auf die Wortstreitigkeiten näher einzugehen, aber sie sind unentwirrbar, wenn man nicht den Wechsel des Sprachgebrauchs von Jahrzehnt zu[535] Jahrzehnt, oft noch häufiger, von Ketzerei zu Ketzerei zu verfolgen Wissen und Geduld genug hat. War ein Terminus technicus für die Frage, wie die drei Götter drei Personen und doch eine Einheit wären, durch einen Ketzer, der den Terminus wörtlich nahm, in Verruf gekommen, so brachte sein Gegner einen neuen terminus auf. Die abendländische Kirche übersetzte den Terminus ins Lateinische, das lateinische Wort weckte neue Assoziationen, die sich wieder mit der morgenländischen Anschauung nicht vertrugen. So wirrten vom 2. bis zum 5. Jahrhundert die Termini ousia, physis, hypostasis, idiotês, prosôpon, essentia, natura, substantia, subsistentia, proprietas, persona durcheinander. Ich kann mich nicht rühmen, den historischen Faden durch dieses Labyrinth aufzeigen zu können. Nur ein Beispiel: als die Sabellianer prosôpon für die drei Götter der Trinität wörtlich genommen hatten und drei verschiedene Personen lehrten, wurde prosôpon für einige Zeit verdächtig und der ältere Terminus hypostasis, was mit substantia übersetzt worden ist, trat dafür ein. Jeder der drei Götter war eine hypostasis, aber keine Substanz, bei Leibe nicht. Der dreifachen hypostasis lag als Einheit die ousia zugrunde, die leere, hohle essentia, die Wesenheit. Unterschied man aber gar die ousia von der dreifachen hypostasis, so hatte man plötzlich statt der drei Götter ihrer vier, und der Tetratheismus war erfunden.

Noch der sprachkundige Augustinus quälte sich in seinem großen Versuche, die Trinität begreiflich zu machen, damit, die griechischen und lateinischen Ausdrücke zu vereinigen: quamquam et graeci si vellent, sicut dicunt tres substantias, tres hypostases, possent dicere tres personas, tria prosopa. Illud autem maluerunt, quod forte secundum linguae suae consuetudinem aptius diceretur (VIII, 6). Aber vorher bricht einmal des Augustinus Freiheit prachtvoll durch: tamen nunc quaeritur: quid tres? magna prorsus inopia humanum laborat eloquium. Dictum est tamen tres personae, non ut illud diceretur, sed ne taceretur (V, 9). Man kann sagen, daß in der abendländischen wie in der morgenländischen Kirche jeweilig der abgegriffenste Begriff wie eine abgegriffene Scheidemünze zur Bezeichnung der höchsten[536] Geheimnisse verwendet wurde. Und weil hinter dem lateinischen persona doch die Vorstellung von einer menschlichen Persönlichkeit steckte, weil die Römer niemals ihre Götter, sondern höchstens die nachgebildeten Allegorien unter den Begriff der Personifikation (Lehnübersetzung von prosôpopoiia), gebracht hatten, so darf man diesen Monotheismus anthropomorphistischer nennen, als es das Heidentum gewesen war. Die morgenländische wie die abendländische Kirche gaben darum mit schlechtem Gewissen die Versuche nicht auf, persona wieder metaphysisch umzudeuten. Besser ist der Begriff weder durch Individuum (atomon), noch durch ineffabile (arrhêton) geworden.

Die Verlegenheiten der theologischen Terminologie, die wechselseitige Beeinflussung der griechischen und der lateinischen Termini, später die wechselseitige Beeinflussung von Juristenlatein und Kirchenlatein, haben aber erst das Latein der Scholastiker schaffen helfen, dessen begriffliche Haarspaltereien schließlich zu einer ersten Kritik der Sprache, zu der Ketzerei des Nominalismus geführt haben. Wieder nur ein Beispiel: in der Jurisprudenz wurden substantia und persona zu Gegensätzen, weil persona das einzige Rechtssubjekt bezeichnete, substantia aber das wichtigste Rechtsobjekt, das Vermögen; weil aber sowohl substantia als persona Übersetzungen von hypostasis waren, darum wurden die Gegensätze des christlichen Rechts zu Synonymen der christlichen Theologie. Und als man daran ging, auch im kanonischen Recht die persona (z.B. des neugeborenen Kindes) durch substantia zu begründen, da wird die Konfusion wohl ihren Gipfel erreicht haben. Und es war hohe Zeit, daß der Nominalismus einsetzte.

Ich breche die Wortgeschichte ab, weil der heilige Geist der Arbeit, die wichtigste aller Personen, sich mit Wortgeschichte nicht begnügen will. Für das, was noch zu sagen ist, haben wir aber vielleicht etwas Entscheidendes gelernt. Person mußte erst zu einer leeren Worthülse werden, bevor das Wort die Überflüssigkeit ausdrücken konnte, die im System des römischen Rechts als Rechtssubjekt auftritt. Nicht das geltende Recht, sondern nur das System hätte eine Lücke, wenn überall, bis zum[537] Eigentumsrechte herunter, das Wort Person nicht vorkäme. Und das Wort Person oder prosôpon mußte erst zu einer leeren Worthülse werden, bevor es auf den Konzilien des 4. Jahrhunderts zum Ausdruck der Überflüssigkeit werden konnte, die Antwort auf neugierige Fragen über das Verhältnis von 1 zu 3 zu geben hatte. Nicht mit dem lebendigen Volksglauben, der solche Fragen gar nicht stellte, hatte der Begriff etwas zu schaffen, sondern einzig und allein mit dem System, das namentlich der gebildeten Ketzer wegen auf Ausfüllung der logischen Lücken halten mußte. Die Kirchenväter glaubten, wie gesagt, Philosophie zu treiben, als sie die Kirchendogmen herausarbeiteten. Persona im Sinne von Maske, Rolle, Mensch war aus der lebendigen Vulgärsprache hergenommen worden; die juristischen und die theologischen Personen gehörten zur toten Sprache eines Fachs.

IV.

Und nun die Nutzanwendung. Kant und Goethe haben das alte Wort neu belebt. Kant hat die menschliche Persönlichkeit zu einem Selbstzweck gemacht, hat dadurch den Menschen, das auserwählte Geschöpf Gottes, außer die Natur, wenn nicht gar über die Natur gestellt, weil doch die übrige Natur niemals Zweck, immer nur Mittel sei – für den Menschen. Goethe war weit entfernt von solchem Menschenhochmut; er war der erste Abendländer, der nicht mehr schmerzlich, der freudig, der fast jenseits der Sprache und fast jenseits logischer Begründung den Menschen in der Natur, als Teil der Natur erblickte, Einheit mit der Natur lehrte. Trotz der Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte wirkten beide dennoch wieder auf die Gegenwart, besser gesagt, schenkten beide der Gegenwart die Begriffe, deren sie bedurfte. Und auf Kant wie auf Goethe berufen sich heute mit gleichem Rechte die besten Köpfe eben dieser Gegenwart, die Modernen, wenn sie nicht nur alle abgestandene Religion, sondern auch die Vernunftmoral der letzten Jahrhunderte und die politische Moral der letzten Jahrzehnte zu ersetzen suchen durch die neue individualistische Lehre, durch die Forderung, die ihre fertige Form noch nicht gefunden hat, weil sie von heute ist. Nachfolge[538] Wolfgangi Goethe, der nichts wollte als sich ausleben. Freilich, der Nachahmer ist nicht mehr individuell! Werde, wie du bist. Aber wer weiß, vor dem Ende, bevor er geworden ist, wie er ist? Wolle, wie du bist? Dann kommt es aber schon mehr auf das Bewußtsein an als auf das Sein.

Alle diese Einwendungen stammen als Nutzanwendung von den Lehren der Wortgeschichte. War es ein hohler Wortschall, was der Persönlichkeit zu hohem Rang in den Jahrhunderten der römischen Jurisprudenz und der Dogmenstreitigkeiten verhalf, an denen sich doch die Besten jener Zeiten beteiligten, wird nicht auch das Aufkommen der neuen Begriffe der individualistischen Persönlichkeit auf den alten hohlen Wortschall zurückgehen? Könnte ein neuer Augustinus nicht gegen Kant und Goethe grimmig sagen: dictum est tamen personalitas, non ut illud diceretur, sed ne taceretur?

Der Sprachgebrauch bei Kant und bei Goethe ist nicht ganz der gleiche, wie gesagt; Goethe kannte keinen kategorischen Imperativ und hätte in seinem Kosmopolitismus nicht politisch nachwirken können, wie Kant es durch Fichte in den Freiheitskriegen getan hat; aber beider Sprachgebrauch steht auf dem gleichen schwachen Unterbau. »Wolle wie du mußt« lehren beide, und beide bemerken nicht die Tautologie in dem klingenden Satze. Ist der Charakter des Menschen unveränderlich, wie Kant und Goethe angenommen haben, wenn auch nicht ganz so schroff wie nach ihnen Schopenhauer, so ist der Wille zwischen dem Motiv und der Handlung eine subjektive Nebenerscheinung, eine Täuschung, meinetwegen eine schöne Täuschung, wie der Regenbogen eine ist für das Auge zwischen Sonne und Regenwolke. »Handle, wie du mußt.« Aber ich kann ja nicht anders. »Wolle, wie du mußt«, d.h. handle, wie du mußt. Oder höchstens: wolle wollen, d.h. wolle, wie du wollen mußt. Die Tautologie scheint von der Sprache gewollt.

Und da ich einmal für Persönlichkeit das andere Wort Charakter eingeführt habe, möchte ich zu Schopenhauers allzu wortabergläubischer Lehre von der Unwandelbarkeit des Charakters etwas hinzufügen. Was ist denn das, was am Charakter unwandelbar,[539] unveränderlich ist? Schopenhauer war im Grunde ein Materialist auf einem idealistischen Isolierschemel. Er dachte sich beim Charakter etwas Reales. In Wahrheit ist der angeborene und unveränderliche menschliche Charakter nicht wirklich, nur vom Beobachter konstruiert, etwa wie der Schwerpunkt eines Körpers in den Körper hineingedacht ist und dennoch bei jeder Berechnung benützt werden kann. Löst sich ein Stück vom Felsen los, so hat es einen andern Schwerpunkt, als der Felsen hatte. Mein Arm hat einen andern Schwerpunkt als mein ganzer Körper. Der Mensch in jeder Stunde seines Lebens einen andern Charakterschwerpunkt als in einer frühern oder spätern Stunde. Ganz unveränderlich ist der Charakter eines Menschen erst nach seinem Tode bestimmt. Er wird vom Beobachter bestimmt.

Kant sagt einmal: »Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet). Aber daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maxime aufnehmen, der subjektive Grund hierzu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein und daher den Namen einer Anlage zum Behufe derselben zu verdienen« (Rel. i. d. Grenzen d. bl. Vernunft). Ein andermal sagt Kant: »Was den Menschen über sich selbst als einen Teil der Sinnenwelt erhebt... ist nichts anderes als die Persönlichkeit, das ist die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur.« Und in den Reflexionen: »In der Einheit des Charakters besteht die Vollkommenheit des Menschen.« Kant wußte von sich selbst, daß »die menschliche Vernunft ihrer Natur nach architektonisch ist«, kannte aus sich selbst den »unüberschreibbaren« Anspruch der Vernunft auf Einheit; daher seine Größe, aber auch sein System. Goethe war ein Dichter und Weiser, kein Architekt. »Charakter im großen und kleinen ist, daß der Mensch demjenigen eine stete Folge gibt, dessen er sich fähig fühlt« (Sprüche in Pr. 587). Und ich glaube bestimmt, daß Goethe an Napoleons Lob: »Voilà un homme« gedacht hat, als er im Diwan die schon erwähnten ehernen Worte schrieb:[540]

»Volk und Knecht und Überwinder,

Sie gestehn zu jeder Zeit:

Höchstes Glück der Erdenkinder

Sei nur die Persönlichkeit.

Jedes Leben sei zu führen,

Wenn man sich nicht selbst vermißt;

Alles könne man verlieren,

Wenn man bliebe, was man ist.«

Wie reimt sich dazu die andere Weisheit Goethes, die in unzähligen Variationen Beschränkung lehrt, nicht nur die Beschränkung, »einen Gegenstand, wenige Gegenstände recht zu bedürfen«; wie reimt sich damit sein wachsender Haß gegen »unbedingte Tätigkeit«, die, »von welcher Art sie sei, zuletzt Bankrott macht«? Es reimt sich wie bei Kant, schlecht. Kant und Goethe übersehen beide, daß sie von jeder Persönlichkeit, von jeder Person, von jedem Menschen also aussagen, was sie selbstbewußt an ihrer eigenen großen Persönlichkeit erlebt und wonach sie das Maß an die Menschheit gelegt haben, was nur auf große Persönlichkeiten paßt: das ineffable Gefühl, sich selbst allein Zweck und Gesetz zu sein, sprechen sie aus mit dem Wortschalle Persönlichkeit, und der edle Goethe denkt wohl ergänzend an eine starke, der starke Kant an eine edle Persönlichkeit. Und Doktordissertationen sprechen es nach.

Und nicht nur Doktordissertationen. Keiner von uns mag gern auf das Wort verzichten, nachdem Kant und Goethe uns das unaussprechliche Gefühl geschenkt haben. Keiner kann sich von der Sprache befreien, die mit ihm, in die er geboren war, die er von andern hat, die nicht sein ist. Die Persönlichkeit, mein Ich ist ja bedingt, hat keine eigene Sprache, hat eine Sprache nur mit dem ganzen Volke, das doch nur aus Personen besteht, nicht aus Persönlichkeiten. Die eigene Persönlichkeit hat also doch auch ihre Moral und am Ende ihre Wissenschaft nur von der Sprache, keine eigene Moral, keine eigene Wissenschaft. Die Persönlichkeit ist gar nichts anderes als die Selbsttäuschung des Ichgefühls oder des Bewußtseins, ist gar nichts anderes als das bißchen Gedächtnis. Wieder einmal hat der feste Augustinus, trotz fast verruchter Rhetorik, klarer gesehen als der erste Denker[541] und der erste Dichter (Conf. X, 8-27): »Intus haec ago in aula ingenti memoriae meae, ibi enim mihi coelum et terra et mare praesto sunt, cum omnibus, quae in eis sentire potui, praeter illa quae oblitus sum... magna ista vis est memoriae, magna nimis, Deus meus, penetrale amplum et infinitum. Quis ad fundum eius pervenit? et vis est haec animi mei, atque ad meam naturam pertinet, nec ego ipse capio totum quod sum. (8)... ipsam memoriam vocantes (nos) animum... Nimirum ergo memoria quasi venter est animi... Ridiculum est haec illis similia putare, nec tamen sunt omni modo dissimilia (14).

Magna vis est memoriae, nescio quid horrendum, Deus meus, profunda et infinita multiplicitas; et hoc animus est, et hoc ego ipse sum... Transibo et hanc vim meam, quae memoria vocatur, transibo eam, ut pertendam ad te, dulce lumen... Transibo et memoriam. Et ubi te inveniam, vere bona et secura suavitas? (17).

Quid cum ipsa memoria perdit aliquid, sicut fit cum obliviscimur, et quaerimus, ut recordemur? Ubi tandem quaerimus, nisi in ipsa memoria? (19). Tu dedisti hanc dignationem memoriae meae, ut maneas in ea; sed in qua eius parte maneas, hoc considero (25). Et nusquam locus; et recedimus et accedimus et nusquam locus (26). Et ecce intus eras et ego foris, et ibi te quaerebam;... mecum eras et tecum non eram (27).«

V.

An einem begrifflich nahe verwandten Worte will ich kurz zeigen, wie zufällig der Bedeutungswandel und wie unfaßbar die Bedeutung eines Wortes werden kann. (Ich verdanke die Anregung wie manche andere einer gut empfundenen kleinen Schrift von Hans Dreyer: »Personalismus und Realismus«.) Individuum, ein weniger höfliches Synonym zu Persönlichkeit, war ursprünglich eine Lehnübersetzung von atomon. Atom und Individuum wurden aber zu Gegensätzen. Individuum ist, was nicht geteilt werden darf, wenn wir noch von einem Individuum sprechen wollen; Atom ist, was nicht weiter geteilt werden kann, solange wir an Atome glauben. Das Atom stellen wir uns analytisch[542] vor, als etwas Relatives, Konkretes; das Individuum stellen wir uns synthetisch vor, als etwas Absolutes, Abstraktes. Aber in der Bedingtheit des sozialen Lebens, im Staate, in der Statistik wird eben das Individuum zum Atom. Will das Individuum eine Persönlichkeit sein, unbedingt sein, ein Originalgenie sein, sich der Statistik und den Moralgesetzen nicht fügen, so wird es ein schlechter Staatsbürger. Und Kant, der Lehrer von Fichte und von W. v. Humboldt, dürfte den Selbstzweck dieser Persönlichkeit nicht mehr anerkennen; Goethe müßte mit dem Bankerott der unbedingten Tätigkeit drohen.

Was bleibt von dem stolzen Begriffe Persönlichkeit noch übrig? Vielleicht nicht mehr als ein seltsamer Hilfsbegriff der Astronomie, der exaktesten aller angewandten Wissenschaften. Die Astronomen haben bemerkt, daß nicht nur die Instrumente systematische oder zufällige Fehler verzeichnen lassen, sondern daß auch die einzelnen Forscher bei der Zeit- oder Helligkeitsbestimmung wie bei der Winkelmessung Fehler mit einer ganz bestimmten Tendenz machen. Der eine hat die Neigung, Hundertstel von Sekunden nach dem Dezimalsystem abzurunden, der andere, die Hundertstel zu erhöhen oder zu verkleinern. Diese Fehlerquelle hat man die persönliche Gleichung genannt; die Fehler können durch Kontrollbeobachtungen verkleinert, niemals völlig aus der Welt geschafft werden. Das scheint mir übrig zu bleiben: die Persönlichkeit ist die Fehlerquelle der nach ihren persönlichen Möglichkeiten handelnden Menschen. Und sollte jemand das wieder skeptisch finden, so möchte ich mich auf Kant berufen: »So ist der Scepticism ein Ruheplatz für die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kann, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte.« Kant sagt das, wo er (Kr. d. r. V., 2. Aufl., 789) mit besonderm Stolze seinem eigenen Werke die Stelle anweist. Skepsis ist kein Wohnplatz, nur ein Ruheplatz. Wer sich völliger Gewißheit, die Kant unmittelbar darauf für einen Wohnplatz verlangt, nicht rühmen kann, der wird in seiner Obdachlosigkeit[543] den Ruheplatz nicht schelten. Und sich auf Buddha berufen, dürfen, den ältesten Lehrer der docta ignorantia, trotzdem der kein Skeptiker war. In den Sprüchen buddhistischer Nonnen ist zu lesen (für die deutschen Worte ist der Übersetzer verantwortlich): »Nur ein Haufe wandelbarer Gestaltungen ist dies; nicht findet sich hier eine Person.«

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 527-544.
Lizenz:
Faksimiles:
527 | 528 | 529 | 530 | 531 | 532 | 533 | 534 | 535 | 536 | 537 | 538 | 539 | 540 | 541 | 542 | 543 | 544
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldsteig

Der Waldsteig

Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon