Sein

[165] Sein – Es gibt ein Wort, das man mit dem Wirklichkeitsbegriff selbst vertauschen könnte und das dennoch, seitdem Platon virtuosenhaft mit ihm gespielt hat (on, ousia), eben dadurch zum allerunwirklichsten Begriff geworden ist: Sein, esse, essentia, existentia. Dasein, Wesen. Jedesmal, wenn das Wort in der eigenen Gemeinsprache gar nichts mehr besagte, wurde es durch ein Fremdwort oder durch eine Lehnübersetzung zu neuem Dasein erweckt, zu einem scheinbar neuen Wesen gemacht. Bei den Alten, im Mittelalter und bis auf die Gegenwart ist über diesen luftigen Wanderbegriff mehr geschrieben worden, als über irgend etwas, das existiert. Seinen Zusammenhang mit der Wirklichkeitswelt hat das Sein niemals völlig aufgeben wollen; aber man mußte der Welt erst die Wirklichkeit nehmen, wollte man ihr den Seinsbegriff geben. Das Weltall ist unergründlich und erfüllt, das Sein ist unergründlich und leer.

In sprachlicher Beziehung ist das Wort für den unendlichen Hohlraum des Seins eine merkwürdige Bildung. Sein »ist« die allgemeinste, oberste, abstrakteste und eben darum leerste Bezeichnung für alles, was im weitesten Sinne Substanz sein kann, für das Objekt an sich unserer Sinneswahrnehmung, für jede durch die Sinne vermittelte Vorstellung, also für den substantivischen Teil unseres Wissens von der Welt. Auf innere Vorstellungen, ja auch auf adjektivische Vorstellungen oder Qualitäten ist der Seinsbegriff erst künstlich übertragen worden. Alle Existentialurteile behaupten von ihrem Subjekt, daß es ein Substantiv sei oder eine Substanz. Gott ist will sagen: Gott ist Substanz (nicht eine, sondern die Substanz) und wird darum sprachlich[165] durch ein Substantiv ausgedrückt. Wollte man Gott durch das Ewige oder das Werden ausdrücken, also adjektivisch oder verbal, so stünde es bald bedenklich um dieses Existentialurteil. Dieses Substantiv der Substantive nun wird durch esse usw. so ausgedrückt, daß ein Verbum dafür eintritt. Die Eigenschaft, eine Substanz zu sein, wird durch ein Verbum ausgedrückt. Die Wirklichkeit eines Dings durch eine Wortform, die nichts Wirkliches bezeichnet, vielmehr, wie wir wissen, Änderungen oder Gleichförmigkeiten der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt eines Zweckes (bei den transitiven Verben wenigstens) ordentlich zusammenfaßt. Schreiben »ist« nicht; wir fassen unzählige mikroskopische Bewegungen und ihre Wirkungen zu schreiben zusammen. Stehen »ist« nicht; wir fassen nur gleichförmige Relationen so zusammen. Wir nennen die eine Gruppe transitive Verben, die andere intransitive. Auch die intransitiven Verben sind nur, weil der Mensch in seiner Sprache oder seinem Denken ein Interesse an diesen Relationen hat.

Zu den intransitiven Verben gehört auch sein. Ein menschliches Interesse, ein menschlicher Zweck wird ja auch in dieser Verbalbildung stecken. Es ist aber doch wohl einzig und allein der Denkzweck, der die Dinge sein läßt, um sie projizieren, aus sich heraussetzen zu können, um wieder einmal die Welt unserer Sinne zweimal anzunehmen: als Schein oder Erscheinung und als Sein.

Die Scholastiker haben sich endlos abgequält, die Worte essentia und existentia, weil zwei Worte da waren, auch zu unterscheiden. Beide Worte mit den andern barbarischen Worten in logische Verbindung zu bringen, mit: entitas, realitas, quidditas. Besonders der Wortstreit, ob Gott zunächst essentia oder existentia sei, machte Schwierigkeiten, weil die Herren vielleicht nicht wußten, wie stark die Dogmengeschichte bei der Bildung dieser Begriffe mitgewirkt hatte. Auch die griechischen Termini, die uns als Gegensatz von Wirklichkeit und Möglichkeit geläufiger sind, spielten hinein. Zur Möglichkeit mußte noch etwas hinzukommen, damit eine Existenz da war. Zur Wirkung aus einer Ursache mußte noch die Existenz hinzukommen. Daher[166] die spitzfindige Definition: existentia est, per quam aliquid est extra suas causas; oder: id per quod aliquid desinit esse intra suas causas. Wir sind damit noch nicht beim Äußersten scholastischer Haarspalterei angelangt. Einmal wird die existentia genannt: actus entitativus. Ich mag mich mit der wortgeschichtlichen Aufdröselung dieses Ungeheuers nicht bemühen. Der alte Weigel hat eine hübsche Geschichte erfunden oder benützt, um den Unterschied zwischen essentia und existentia klarzumachen. Zu einem Goldschmied kommt ein Bauer mit der Frage, wieviel ein Goldstück wert sei, so groß wie ein Ei. Der Bauer hatte nur die Essenz oder das Wesen oder die Idee des Goldstücks. Der Goldschmied glaubte aber an dessen Existenz und setzt dem Bauer Wein vor, um es von dem Berauschten wohlfeiler zu kaufen. Der schlaue Bauer bekam also eine existentia für eine essentia. »Wenn er einmal eines fände, möchte er wissen, was es wert sei.«

Man täuscht sich, wenn man glaubt, wir seien heraus aus solchen scholastischen Spiegelfechtereien. Der scharfsinnige Leibniz hat (Nouv. Ess. I, 1 § 23) keine geringere Ungeheuerlichkeit gedacht, als er sagte: »je voudrais bien savoir, comment nous pourrions avoir l'idée de l'être, ai nous n'etions des êtres nous-mêmes et ne trouvions ainsi l'être en nous.« Der scharfsinnige Leibniz ist in diesem Satze nicht weniger dumm als der ontologische Beweis, der ja auch aus der Existenz des Wortes die Existenz der Sache herleitet, weil er die Existenz sinnlos für eine Eigenschaft hält. Noch toller ist vielleicht nur noch die Wortseifenblase, die Platon geschaffen hat und die dem Begriffe Ontotogie zugrunde liegt: to ontôs on. Das seinlich-Seiende oder so etwas, beinahe schon der actus entitativus. Man glaube nicht, daß sich mystische Ahnungen hinter solchen pleonastischen Unbegriffen bergen. Stülpt man den Pelion auf den Ossa, so kann doch eine schöne Hyperbel herauskommen; wirft man ein Nichts in den Abgrund, so kommt gar nichts heraus.

Auf ganz anderm Felde stehen die Sublimitäten, mit denen besonders deutsche Philosophen den Seinsbegriff bedacht haben. Wahrheit wird nicht gefunden; aber eine Menge Unwahrheiten werden oft fein beseitigt. Daß Sein keine Eigenschaft der Dinge[167] sei, hat Kant (der Schüler Humes) schon trefflich gelehrt; »hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche«, sagte er; als aber Fichte aus äußerster Drangsal, in einem erschütternden Briefe, die Möglichkeit erwog, hundert wirkliche Taler von ihm zu bekommen, bekam er sie nicht. Aber auch Fichte hätte sich gewundert, wenn ihm vom Meister entgegnet worden wäre, was Fichte wenige Jahre später in seiner Wissenschaftslehre sagte: »Alles, was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesetzt ist, und außer dem Ich ist nichts.« Es ließe sich gewiß ernsthafter über das Philosophenspiel mit dem Seinsbegriff reden; aber es widersteht mir, die Resonanz dieses Hohlraums aber- und abermals zu erproben. Zu zeigen, wie Hegel den Seinsbegriff, den reinen, zuerst zum reinen Nichts gemacht und dann das positive Dasein aus ihm herausgenommen hat. Und wie der unergründlich leere Begriff des Seins sich an allen Ecken und Enden mit dem Gottesbegriff berührt. Lehrt doch Hegel sogar: »Wenn wir den besondern Dingen ein Sein zuschreiben, so ist das nur ein geliehenes Sein, nur der Schein eines Seins, nicht das absolut selbständige Sein, das Gott ist« (Werke XI, 50). So ungefähr sagt das Spinoza auch, nur mit ein bißchen andern Worten.

Die Verquickung mit dem Gottesbegriff, überhaupt die entscheidende Bedeutung für alle Weltanschauungsfragen wäre dem völlig ausgeblasenen Seinsbegriff, der unverfälscht und unverbildet doch nur in der sprachlich und logisch überflüssigen Kopula steckt, nicht so ehrenvoll zuteil geworden, wenn sich nicht die Frage aller Fragen unabweisbar an den Seinsbegriff geknüpft hätte, die Frage: ob der Idealismus oder der Realismus recht habe? Ist die Welt noch etwas, außerdem daß sie Erscheinung ist? Außerdem daß sie Wirkung auf uns ist? Der Existenzbegriff ist ja erst eine bewußte Antwort auf eine Frage dieser Art. Und hätten wir den Ursachbegriff nicht, wir würden es nicht für notwendig halten, daß irgend etwas sein müsse, um uns erscheinen zu können. Im Grunde ist ein Ding immer dann, wenn wir glauben, es sei unabhängig von unsern Sinnen auch dann und dort, wenn und wo wir es nicht wahrnehmen. Sein ist Wahrgenommenwerdenkönnen.[168] Was die alte Scholastik zur Verzweiflung gebracht hätte, und ihren Aristoteles dazu; denn dann steckt die Wirklichkeit allein in der Möglichkeit. Auf den deutschen Universitäten wird der Psychologismus gegenwärtig schlecht behandelt; gerade was nicht Philosophie ist, Philosophiegeschichte und eine psychologisierende Physiologie, wird fast ausschließlich gelehrt. Und nicht eingesehen, daß Psychologie allein zwischen Idealismus und Realismus orientieren kann, daß nicht nur unsere Vorstellungen psychologisch sind, sondern auch der naive oder metaphysische Glaube, der den Vorstellungen überdies ein Sein zuschreibt.

Dieser Psychologismus, der die Wahrheit wäre, wenn unsere Psyche nicht reden müßte, um sich verständlich zu machen, ist von den Engländern des 18. Jahrhunderts schon vollständig ausgebildet worden. Mit der Größe seiner Einseitigkeit von Berkeley, der allein unter allen Philosophen seit Platon mit dem Idealismus Ernst machte, da er gar nicht begreifen konnte, daß man hinter dem percipi durch die Geister noch ein zweites, besonderes esse suchte, daß man von seinem lieben Gott also die Welt zweimal verlangte. Berkeley sagte ja nicht: percipi = esse. Es gibt nur ein percipi der nicht denkenden Dinge durch Geister; das esse ist in unserer Einbildung. Eigentlich war Berkeleys Idealismus nur der letzte Versuch eines Locke-Schülers, den Okkasionalismus durch Leugnung der physischen Welt zu ersetzen: ungleichartige Substanzen können nicht aufeinander wirken, also gibt es nur Ideen.

Hume, durch seinen Skeptizismus vor Einseitigkeit bewahrt, hat die Leerheit des Seinsbegriffs so klar ausgesprochen, daß die Akten darüber hätten geschlossen werden können, wenn nur die Philosophie irgend einem ihrer Männer das letzte Wort gestattete. Im 6. Abschnitt des II. Kapitels und im 7. Abschnitt des III. Kapitels des Treatise finden sich diese Gedanken, stärker als in der spätem Fassung des Hauptwerks. Wir haben die Welt nicht zweimal; die Idee der Existenz ist durchaus nicht verschieden von der Idee eines Objekts. »The idea of existence is the very same with the idea of that we conceive to be existent. To[169] reflect in anything simple and to reflect in it as existent, are nothing different from each other. Whatever we conceive, we conceive to be existent.« Durch die Idee der Existenz wird einer Vorstellung also nichts hinzugefügt; was eben durch Kants Satz, Existenz oder Sein sei keine Eigenschaft der Dinge, nur deutscher ausgedrückt wird.

Erst Schopenhauer ist um einen Schritt weiter gegangen als Hume, weil er, dem die gegenwärtige Sprache der Philosophie weit mehr verdankt, als das landläufige Lob seiner schriftstellerischen Vorzüge ahnen läßt, weil Schopenhauer bei allem Dogmatismus doch oft genug den Schlangenbetrug der Sprache durchschaute. Er hat den Seinsbegriff sogar mit seiner Ästhetik und Ethik in systematische Beziehung zu bringen gewußt: Jeder kann nur Eines sein, hingegen alles andere erkennen, »welche Beschränkung eben eigentlich das Bedürfnis der Philosophie erzeugt«; es ist etwas ganz anderes, die Dinge zu sein und die Dinge zu sehen; und nur zu sehen sind die Dinge schön. Während er aber da seinen ästhetischen Optimismus und ethischen Pessimismus in das Sein = Existenz hineinlegt, hat er sonst gegen den Mißbrauch des Begriffs Sein zornig genug gewettert. Er hatte erkannt, daß die kleine Bedeutung der sogenannten Kopula nichts weiter sei als die, im Subjekte das Prädikat mitdenken zu lassen, ich möchte sagen: das blanke Verhältnis einer Assoziation auszudrücken. Man erwäge jetzt, worauf der Inhalt des Infinitivs der Kopula hinausläuft, eben der Begriff Sein. »Dieser nun aber ist ein Hauptthema der Professorenphilosophie gegenwärtiger Zeit. Indessen muß man es mit ihnen nicht so genau nehmen: die meisten nämlich wollen damit nichts anderes, als die materiellen Dinge, die Körperwelt, bezeichnen, welcher sie, als vollkommen unschuldige Realisten, im Grunde ihres Herzens, die höchste Realität beilegen. Nun aber so geradezu von den Körpern zu reden, scheint ihnen zu vulgär: daher sagen sie das Seyn (Schopenhauer wußte wohl nicht, daß die Schreibart Seyn von Pedanten eingeführt worden war, um das Verbum seyn vom Pronomen sein zu unterscheiden, und hielt darum an dem undeutschen Buchstaben y fest), als welches vornehmer klingt – und[170] denken sich dabei die vor ihnen stehenden Tische und Stühle.« (W. a. W. u. V. II. 115.) Daß der Begriff nichts weiter sei als ein Infinitiv der Kopula, hat er fast sprachkritisch vorher an einer bedeutenderen Stelle ausgesprochen (II. 68): »Weil Inhalt und Umfang der Begriffe in entgegengesetztem Verhältnisse stehen, also je mehr unter einem Begriff, desto weniger in ihm gedacht wird, so bilden die Begriffe eine Stufenfolge, eine Hierarchie, vom speziellsten bis zum allgemeinsten, an deren unterem Ende der scholastische Realismus, am obern der Nominalismus beinahe Recht behält. Denn der speziellste Begriff ist schon beinahe das Individuum, also beinahe real: und der allgemeinste Begriff z.B. das Seyn (d. i. der Infinitiv der Kopula), beinahe nichts als ein Wort. Daher auch sind philosophische Systeme, die sich innerhalb solcher sehr allgemeinen Begriffe halten, ohne auf das Reale herabzukommen, beinahe bloßer Wortkram«. Beinahe zu oft hat Schopenhauer da das höflich-falsche Wort beinahe gebraucht: sein Freund Goethe hat einmal aus Gesprächen mit Fichte Anlaß genommen, »Redensarten, welche der Schriftsteller vermeidet,« zu sammeln und zu veröffentlichen, sowohl für scherzhafte als für ernsthafte Betrachtungen; und unter diesen »demütigen Phrasen« steht beinahe gleich an vierter Stelle, Seyn ist durchaus ein bloßes Wort, nicht nur beinahe, ein Wort ohne Inhalt.

Aber der Hinweis Schopenhauers, daß sein nichts weiter sei als die Infinitivform der Kopula, bleibt trotzdem ein wertvolles Aperçu. Es führt zu der Untersuchung, ob sein mehr ein logischer oder ein grammatikalischer Hilfsbegriff sei und wie es trotz seiner Armut zu so hohen Wortehren kommen konnte.

Die erste Frage wird fast überflüssig, wenn wir bedenken, wie Grammatik und Logik einander von je, bewußt oder unbewußt, beeinflußt haben, in der Kategorienlehre wie im Satzbau. Das durch die Kopula ausgesprochene Sein kümmert sich ganz und gar nicht um die Existenz des Subjekts. In allen Nominaldefinitionen selbstverständlich nicht; und bei den Realdefinitionen liegt die Existenz in re, nicht in der Kopula. Aber selbst die Zugehörigkeit des Prädikats zum Subjekt wird durch die Kopula nur ganz vage, nur ganz inhaltsleer ausgesprochen.[171] Eigentlich wird die Relation erst durch den Inhalt des Prädikats. bestimmt; im Sein der Kopula steckt nicht mehr als eben die Kategorie der Relation, der sprachliche Anlauf zur Anerkennung einer Relation. In der Kopula steckt nichts als die Assoziationsmöglichkeit der beiden Begriffe, des Subjekts- und des Prädikatsbegriffs. Ist bedeutet ganz andere Assoziationen in: »Alexander war tapfer« (Qualitätsurteil), »das Pferd ist ein Tier« (Subsumtionsurteil), »das Christentum war« (Existenzialurteil, verbunden mit der Negation für die Gegenwart), »N. ist gut« (Werturteil), »Atom ist ein Phantasiebegriff« (Nominaldefinition) usw.

Der Terminus Kopula war der antiken Welt gar nicht bekannt. Begriff und Ausdruck copula findet sich zuerst bei Abaelard, dem ja die Scholastik nicht ganz den Sinn fürs Leben genommen hatte, der aber bei seiner Erklärung »verbum interpositum praedicatum subjecto copulat« und dem ein andermal gebrauchten copula schwerlich an unser kopulieren gedacht hat. Der puristische Versuch, Satzband für Kopula zu setzen, gab den ursprünglichen Sinn richtig wieder. Bei Kopula an unser kopulieren zu denken, blieb der glücklichen Witzjagd von Jean Paul vorbehalten. (Vorschule der Ästhetik § 44): »Der ästhetische Witz, oder der Witz im engsten Sinne, der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert, tut es mit verschiedenen Trauformeln.« Die häufigste Trauformel dürfte zwischen Begriffpaaren aber doch die alte Kopula sein. (Den Scherz »Kopula eines Macht- oder Flickworts« hat schon Hamann in seiner »Metakritik über den Purismum der reinen Vernunft« gemacht.) Lateinisch hieß copula jeder Strick, der physisch oder moralisch ein Band werden konnte, auch in der Ehe, auch in der Wortbildung (Gellius X. 5. avarus sei nach Nigidius aus avidus aeris entstanden, und aus dieser Verbindung oder copula sei der Buchstabe e ausgefallen; ein abschreckendes Beispiel übrigens für die Etymologie der Römer, wenn es noch eines Beispiels bedürfte); auch copulare wurde so, von Cicero und Quintilianus, von der Wortkoppelung gebraucht. Abaelard schuf den grammatisch-logischen Begriff der Kopula, da er ihn auf das Zwischenglied zwischen Prädikat und Subjekt einschränkend anwandte.[172]

Der scholastische Streit darüber, ob die Kopula zum Subjekte oder zum Prädikate gehöre, ist auf logischem Gebiete gegenstandslos, weil die Kopula eben zwischen beiden die Verbindung schafft; in grammatikalischer Beziehung müßig, weil der Sprachgebrauch entschieden hat; der Streit lebt aber fort in der bekannten Vexierfrage unserer Schulbuben: »Heißt es: siebenmal neun ist vierundfünfzig? oder: sind vierundfünfzig?«. Dem Schulbetriebe der Logik gehört die Kopula besonders dadurch an, daß ihr die Last der Bejahung und Verneinung aufgebürdet wird; wenn nicht anders Bejahung oder Verneinung, als die entscheidende Kategorie jedes Satzes, dem Ganzen zugehört, sobald sie sich aufs Ganze bezieht, sonst aber ganz wohl auf jeden einzelnen Redeteil bezogen werden kann. Man vergleiche: Geld ist nicht da (fehlt überhaupt), Paul ist nicht da (aber andre Knaben, nur Paul nicht), der Hut ist nicht da (also anderswo).

Etwas wichtiger als die Frage, ob der Seinsbegriff in der Kopula eine logische oder eine grammatische Funktion habe, wäre die Untersuchung, wie der allgemeinste und darum stärkste Erkenntnisbegriff, eben der Begriff der Existenz, zu der anerkanntermaßen leeren Funktion einer nichtssagenden Kopula hinuntersinken konnte. Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese Frage falsch gestellt worden ist, daß der Seinsbegriff von Hause aus oder doch in historischer Zeit ursprünglich die leere Kopula ausdrückte und erst durch subtile Denkerkünste der Philosophen und eigentlich nur in der Sprache der Philosophie die prägnante Bedeutung der Existenz gewann.

Aus welchem konkreten Begriff freilich in unsern Sprachen der Wortstamm oder die Wortstämme für den Seinsbegriff (ist, bin und war, as und bhu, sum und fui, jsem und budu) sich entwickelt haben, wird mit Sicherheit niemals ausgemacht werden können. Zwei Umstände machen uns aber bedenklich, so daß wir die überraschende Gleichförmigkeit im Gebrauch der Kopula, wie ihn die Kultursprachen aufweisen, nicht eine Denknotwendigkeit oder ein Sprachgesetz nennen, sondern weit eher Nachahmung oder Beeinflussung vermuten. Der eine Umstand[173] ist die bekannte Tatsache, daß es auch ohne Kopula geht, daß es in den meisten Sprachen alte sprüchwörtliche Redensarten gibt, die die Assoziation von Subjekt und Prädikat eindeutig ohne das Hilfsverbum ausdrücken. Der bekannte Satz ho men bios brachys hê de technê makrê hat gleich vier überflüssige Flickwörter und doch keine Kopula. Daß solche deutsche Sprüchwörter ohne Kopula mitunter Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen sind (je gelehrter, desto verkehrter, ländlich-sittlich), beweist nichts gegen die Möglichkeit, ohne Kopula auszukommen. Sodann ist es nur eine Selbsttäuschung der Sprache, wenn sie ihre eigene Gewohnheit in andern Sprachen genau wiederzufinden glaubt. Es ist einfach nicht wahr, daß die Bezeichnungen für den Seinsbegriff sich in allen Kultursprachen entsprechen. Romanische Sprachen, die für unser stehen keinen einfachen Ausdruck haben, benützen den Begriff stehen für das Perfektum des Seinsbegriffs: sono stato usw. (Unser deutsches wie steht's? mag eine Lehnübersetzung von come sta? sein.) Wir haben aber eine ganze Menge kopulativer Verben, welche den Seinsbegriff bald unverändert, bald mit einer Nuance ausdrücken, anders wieder in andern Sprachen. Die Zukunft des Seinsbegriffs wird im Deutschen durch werden, im Englischen durch sollen, im Französischen durch gehen oder haben bezeichnet. Die Zuverlässigkeit des Seinsbegriffs wird häufig ohne jede zusätzliche Vorstellung durch bleiben ausgedrückt; »dieser Baum ist und bleibt eine Tanne« heißt wirklich nicht mehr als »ist eine Tanne«. Scheinen ist häufig so sehr nur eine bescheidene subjektive Fassung eines apodiktischen Urteils, drückt so einfach die Relativität unseres Wissens aus, daß es fast besser als sein die Funktion der Kopula hätte übernehmen können. Nur ein Verbum gibt es, das für diese Funktion vielleicht noch geeigneter war, das Verbum heißen; alle die knifflichen Existenzialurteile, an denen John Stuart Mill die Zweideutigkeit der Kopula ist getadelt hat, wären tadellos, wenn man sich gewöhnt hätte, in ihnen Subjekt und Prädikat durch heißen zu kopulieren. Aber auch die Urteile, in denen ist eine richtige Kopula ist, wären so besser auszudrücken: Gott ist (heißt) ewig, Zeus war (hieß) der oberste Gott der Griechen, das [174] Ding an sich ist (heißt) transzendent, das Atom ist (heißt) der letzte Bestandteil der Körper.

Von den beiden oder gar drei Stämmen, die in den sog. arischen Sprachen zum vollständigen Paradigma eines Verbums (dem ungefähren Seinsbegriff) gekoppelt worden sind, mag der Stamm bhu (fu) wirklich noch in historischer Zeit etwas Vorstellbares bedeutet haben, z.B. wohnen. Aber der andere Stamm, wenn wir ihn auch als das as des Sanskrit festzulegen lieben, ist in seiner historischen Gestalt fast so körperlos, wie er begrifflos ist. K. F. Becker (Organism der Sprache, II. Aufl. 222 f.) hat nun sehr fein darauf hingewiesen, wie ähnlich die Formen des Seinsbegriffs, und nicht nur die Formen, dem Pronomen sind. Auf die Identität der Pronomina und der Personalendungen des Verbs war für die sog. arischen Sprachen längst hingewiesen worden. Die Verwendung von m, s, t springt in die Augen. Aber auch afrikanische und amerikanische Sprachen zeigen ähnliche Kongruenz von Personalendung und Pronomen. Im Griechischen, Lateinischen, Slowenischen kann das Pronom (veni, vidi, vici) weggelassen werden, wie die Kopula in herkömmlichen Redensarten. Wir ersehen aus allem diesem, daß die eigentliche Funktion des Aussagewortes (sein) und des Pronomens dieselbe ist, und daß sie auch nach ihrer Grundbedeutung identisch sind. Pronomen und Aussagewort haben sich als besondere Formwörter vom Verbe losgerissen und haben sich nach entgegengesetzten Richtungen entwickelt, das Pronomen in einer substantivischen Form, das Aussagewort hingegen in der Form eines Verbs. Das Pronomen wird gewissermaßen zu einem Substantiv ohne Begriff und bezeichnet überhaupt statt eines Substantivs Begriffe des Seins; und das Aussagewort wird zu einem Verb ohne Begriff, und bezeichnet auch wohl statt eines Verbs Tätigkeitsbegriffe, z.B. die Existenz; »er ist in der Stadt« heißt etwa »er lebt in der Stadt«.

Ganz so, wie Becker das darstellt, kann die historische Entwicklung kaum gewesen sein. Ich und du müssen ein sehr reiches und konkretes Leben gehabt haben. Um so auffallender ist die Ähnlichkeit oder Identität zwischen dem Seinsbegriff und[175] dem unpersönlichen Fürworte es. Zu erwägen gebe ich auch, daß unsere Kinder, wenn sie schon recht geläufig sprechen können und über einen großen Vorrat von Substantiven, Adjektiven und Verben verfügen, noch lange nichts anzufangen wissen mit den Fürwörtern und mit dem Seinsbegriff.

Ich habe in diesem Zusammenhang der Kopula mehr als einmal nachsagen müssen, daß sie eine Funktion ausübe. Und wenn ich nun frage, wessen Funktion sie ausübe, so komme ich nun zu einer wunderlichen Antwort. Die Kopula ist ein Wort, aber kein Begriff; sie hat nur die Funktion eines Begriffs. Und ebenso steht es eigentlich um die beiden Gruppen, die Becker vergleichen gelehrt hat. Die persönlichen Fürwörter sind auch darin dem sein ähnlich, daß in beiden Fällen nur von der Funktion eines Begriffs die Rede sein kann. Ja, ich erbiete mich in einer allgemeinen Zeichensprache, für die persönlichen Fürwörter (und deren Ableitungen) mit algebraischen Ausdrücken, für den Seinsbegriff mit den mathematischen Zeichen der Gleichheit, der Subsumtion usw. auszukommen.

Sein ist kein rechter Begriff, weil ein rechter Begriff zuletzt irgendwie auf ein Vorstellbares, auf ein Beispiel muß zurückgeführt werden können, das Sein jedoch unvorstellbar ist und immer unvorstellbarer wird, je mehr Mühe wir uns geben. Das gilt für den leeren Seinsbegriff der Kopula nicht nur; der scheinbar so prägnante Existentialbegriff ist erst recht unvorstellbar. Ich bin sagt auf der Welt nicht mehr aus als Ich oder sum. Ich habe oft das Ichgefühl eine Täuschung genannt. Ich möchte den Gedanken jetzt besser ausdrücken: das Ichgefühl ist ein Instinkt wie ein anderer, und nur der Begriff ist eine Täuschung. Wir kommen um den Glauben an unser Ich ebensowenig herum wie um den Glauben an die Existenz der Welt. Und beide Instinkte gehören zusammen: der instinktive Glaube an die eigene Persönlichkeit und der instinktive Glaube an die Existenz der Außendinge. Ich würde mit der Welt verschwinden. Und die Welt würde mit mir verschwinden. Subjekt und Objekt gehören zusammen, sind Korrelatbegriffe wie rechts und links. Die beide doch auch nicht sind. Substanz ist nur ein anderer Ausdruck für[176] den Seinsbegriff; und Substanz ist, wenn wir uns besinnen, ebenso unvorstellbar wie Sein. Wir sagen, daß etwas sei, wenn wir es wahrnehmen oder (oder und) den Glauben haben, es irgendwo und irgendwann wahrnehmen zu können. Wenn etwas so und so aussieht, so und so klingt, so und so riecht, sich so und so anfühlt, dann gehört es zu unserer Sinnenwelt, dann existiert es. Nur daß wir für die Summe unserer Sinneseindrücke keinen Sinn haben. Darum existiert das Ding an sich auch nicht, nicht für uns. Es hat keine Relation zu uns. Wollte man das Sein streng definieren, so müßte man zu einem sinnlosen Widerspruch greifen: es ist die absolute Relation. Und so sauber steht die philosophische Terminologie zur Verfügung, daß ein anderer (Herbart hat es getan) mit dieser Definition jonglieren könnte.

Ich habe nun so Blatt für Blatt von einem Scheinbegriff entfernt und bin endlich anstatt zum Kern oder zum Keim zu einem Hohlraum gelangt; das hübsche Wort hat sich also als eine künstliche Blüte erwiesen. Wieder einmal. Auch der Seinsbegriff im sog. Existenzialurteil ist ein Nichts. Ist ein alter Sprachgebrauch, den uns die Scholastik hinterlassen hat. Sie hat den leeren Seinsbegriff der Kopula zu diesem Zwecke verhärtet, mußte den Existenzialbegriff wohl bilden, um die Frage nach der Existenz Gottes beantworten zu können. Wenn wir diesen Existenzialurteilen furchtlos auf den Grund gehen, so entdecken wir, was uns nicht überraschen darf. Was da irgend existiert, das ist ein Wort: Gott, der Centaur, der Pegasus, die Atlantis, das Einhorn. Ein Wort, meinetwegen ein Begriff. Und die Behauptung der Existenz ist nur dann feierlich und sachlich, wenn wir heimlich an den Berichten über solche Abenteuer gezweifelt haben. Genau genommen ist die Frage nach der Existenz immer nur die sprachliche Frage: verbinden wir mit dem Worte einen Sinn oder nicht. In ein Reallexikon gehören die Existenzialurteile und nicht in die Philosophie. Sigwart (Logik II. Aufl. I. 127) sagt: »In dem Verbum sein liegt ursprünglich die reale Existenz.« Nein. Die reale Existenz ist dem leeren Seinsbegriff, dem Instinkt der Realität, aufgelastet worden[177] durch den labor improbus der Scholastiker, problematischen Worten Realität beizulegen. Was fraglos ist, dessen Existenz wird nicht erst behauptet. Das Sein, das in Frage steht, wird rechthaberisch betont, wird trotzig unterstrichen. »Gott ist.« Die bloße Kopula ist unbetont. Man kann allgemein sagen: in unzweifelhaften, also nach unserm Sprachgebrauch wahren Urteilen hat daß Sein so gut wie keinen Ton (N. ist tot); in angezweifelten und unwahrscheinlichen Urteilen wird das Sein stark betont und dadurch zur Würde der Existenz erhoben (Gott ist, die Person Teil existierte).

Der unbestechliche Jacob Grimm hat einmal (D. G. I.2 22) bemerkt, die Betonung (der deutschen Vorsilben) schwanke »nach noch unerforschten Gesetzen und Gewohnheiten«. Dazu möchte ich eine Analogie beibringen, die wohl einer weiteren Untersuchung wert wäre. Wir haben (und nicht nur im Deutschen) einige Adjektive, welche den höchsten Kategorien angehören und dennoch in einer gewissen Anwendung, die dem Seinsbegriff im Existenzialurteile nahe entspricht, ihren sonst starken Ton verlieren. »Das ist mein ganzes Vermögen« will sagen: mein gesamtes Vermögen. Ein bescheidener, armer Teufel, der 100 Mark geschenkt bekommen, mag aber wohl ausrufen: »das ist ein ganzes Vermögen«, d.h. es ist kein Vermögen, aber ich soll und will es aus Höflichkeit so nennen. »Er ist ein wahrer Riese« will sagen: er ist kein Riese, es gibt überhaupt keine Riesen, ich will aber den im Sprachgebrauch vorhandenen Riesenbegriff auf ihn anwenden, weil er recht stark oder recht lang ist. Ähnlich wird im Deutschen das Wort förmlich unbetont gelassen, wenn das Substantiv nicht wörtlich gemeint ist; man sagt von einer Prügelei, »das ist eine förmliche Schlacht«. Von diesen Worten ist wahr das seltsamste; wenn das Urteil, das durch das Attribut ausgedrückt werden könnte, offenbar falsch ist, nur ein Bild ist, dann wird die Bildlichkeit durch Tonlosigkeit ausgedrückt. Wenn der Sprachgebrauch so logisch wäre, wie er nicht ist, so hätte auch das Sein des Existenzialbegriffs (Gott ist) tonlos werden müssen. (Vgl. Art. Wahrheit.)[178]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 165-179.
Lizenz:
Faksimiles:
165 | 166 | 167 | 168 | 169 | 170 | 171 | 172 | 173 | 174 | 175 | 176 | 177 | 178 | 179
Kategorien:

Buchempfehlung

Christen, Ada

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon