krank

[239] krank – Krankheit, oft nur der Gegensatz von Kraft, ist wie der Begriff Kraft aus einer menschlichen Empfindung hergenommen. Beide Begriffe gehören eigentlich nur der adjektivischen Welt an und sind in der substantivischen Welt unsrer Sprache unvorstellbar. Trotzdem es eine fast unübersehbare Wissenschaft gibt, die die Kräfte berechnet, und trotzdem es einen kleinen Ausschnitt aus der Zoologie gibt, nach der Einrichtung[239] unsrer Universitäten freilich eine ganze Fakultät, die sich mit den sogenannten Krankheiten der Menschen beschäftigt: Es gibt keine Krankheiten in der Wirklichkeitswelt; es gibt nur Menschen, die sich krank fühlen, oder die nach dem Urteile von Sachverständigen krank genannt zu werden verdienen.

Auch Tiere und Pflanzen werden in der Menschensprache krank genannt. Wendet man den Begriff (früher geschah das noch häufiger) auf unorganische Dinge oder Verhältnisse an, auf die Mauern eines Hauses, auf den Ackerboden, auf die Vermögenslage (die dann saniert werden muß), so ist man sich nach dem gegenwärtigen Sprachgebrauche der Bildlichkeit des Ausdrucks wohl bewußt. Spricht man aber von kranken Tieren, spricht man gar von kranken Pflanzen, so beachtet man nur selten, daß der Ausdruck anthropomorph ist, daß man besonders Pflanzen mitunter nur deshalb krank nennt, weil sie den menschlichen Zwecken mangelhaft dienen; so nennt man gezüchtete Blumen leicht degeneriert, sobald sie in ihre gesunde Naturform zurückgekehrt sind. Krank ist ein Menschenbegriff, kein ganz klar umschriebener, aber doch ein verständlicher, Menschenbegriff. Krankheit ist auch ein Menschenbegriff, aber ein unverständlicher und ein gefährlicher dazu, gefährlich für den Gedankengang des Wald- und Wiesenarztes, der nach dem Wunsche des Kranken und nach seinem eigenen Glauben von Krankheiten befreien soll. So ein Arzt hat auf der Schule gelernt, die komplexen Erscheinungen, die an einem kranken Menschen wahrzunehmen sind, unter dem Namen einer bestimmten Krankheit (Krankheitsbild ist schon ein besseres Wort) zusammen zu fassen, d.h. die Diagnose zu stellen, und das für diese bestimmte Krankheit jeweilig gebotene Heilmittel vorzuschreiben. Ein Ölbild ist durch Übermalung entwertet worden; der Fachmann wird gerufen, um die nach ästhetischen Menschenbegriffen schädlichen Farben zu entfernen; er wendet nach Vorschrift seine verdünnten Säuren an, die schädlichen Farben verschwinden, aber mit ihnen oft genug die hochgeschätzten Farben des alten Bildes. So bekämpft der gewöhnliche Arzt auch das Bild einer Krankheit.[240] Der Protest gegen den Gebrauch des Wortes Krankheit ist natürlich nicht so gemeint, daß auch das Abstraktum zu vermeiden wäre; immer hat es in der Wirklichkeit kranke Menschen gegeben, und diese hatten in ihrer Sprache immer das Recht, ihren elenden Zustand, ihre Schmerzen oder ihre Schwäche, einen Zustand des Krankseins, der Krankheit, nosos aegrotatio zu nennen; dieser Begriff hat keine eigentliche Mehrzahl; die personifizierten Krankheiten, die man seit Jahrtausenden für die Ursachen ihrer Symptome angesehen hat, sind in einer Mehrzahl da. Kranke Menschen hat es wohl immer gegeben; und kranke Menschen haben sich wohl immer nach Ärzten gesehnt, um sich heilen oder wenigstens trösten zu lassen; die Ärzte aber erst waren es, die in ihrer ganz andern Sehnsucht, die ärztliche Kunst für eine Wissenschaft auszugeben, die Symptome geordnet, in Abteilungen und Unterabteilungen gebracht, nach der Anatomie, nach der Ätiologie oder nach sonst etwas klassifiziert und so die verschiedenen Krankheiten benannt haben. Um nicht zu sagen: erfunden. Die Krankheitsbilder des menschlichen Organismus sind nicht einmal ungefähr nach Arten zu klassifizieren wie die Organismen; kranke Menschen haben nach alter Sitte einen Namen wie gesunde Menschen auch; man hielt es wohl für bequem, auch den Krankheitszuständen dieser Menschen besondere Namen zu geben, oft genug Vor- und Zunamen. Auch glaubt die Polizei nicht auskommen zu können, wenn nicht Menschen und Krankheiten Namen haben.

Der elende Zustand eines kranken Menschen, seine Schmerzen, seine Schwäche usw. verhalten sich zu seinem kranken Körper, wie sich die Seelenvorgänge zum Gehirn verhalten; die personifizierten Krankheiten haben aus dem Sprachgebrauche auszuscheiden, wie die einstigen Seelenvermögen verschwunden sind. Auch um die Geisteskrankheiten steht es nicht anders; krank ist nur der Körper, ist nur das Organ; seine Funktionen, wie Gedächtnis, Sprache, Vorstellungen usw., sind unbrauchbar, schwach, gelähmt usw., können nur bildlich krank genannt werden. Und noch schwerer als sonst lassen sich die Grenzen zwischen[241] der geistigen Gesundheit und Krankheit ziehen, weil die Symptome sich noch schwerer klassifizieren lassen. Dem Juristen gar, der sich so häufig an den Irrenarzt wenden muß, um zu erfragen, an welcher Geisteskrankheit ein Individium leide, oder ob es im strengen Wortsinne geisteskrank sei, ist mit der Antwort in unzähligen Fällen nicht gedient, weil der Jurist immer willkürlich oder doch künstlich definierte Begriffe zu bearbeiten hat, der Arzt aber solche strenge Begriffe oft nur bieten kann, wenn; er der Natur Gewalt angetan hat.

Weil es nun kranke Menschenkörper gibt und elende Zustände kranker Menschen, nicht aber in der Wirklichkeitswelt Krankheitswesen als Ursachen dieses Krankseins der Menschen, dieser Zustände, darum sind alle Definitionen der Krankheit seit jeher so schlecht ausgefallen. Ich will mich mit der Kritik der einzelnen Definitionen nicht aufhalten. Nur auf den berühmten Sydenham möchte ich hinweisen, der schon im 17. Jahrhundert den Gedanken aussprach, Krankheiten seien Gesundungsprozesse, durch die der Organismus Schädlichkeiten auszustoßen sich bestrebt; die Konsequenz war, daß der Arzt nur die Schädlichkeiten zu bekämpfen hätte, die Prozesse oder die Krankheiten eigentlich zu fördern. Die moderne Homöopathie ging von den gleichen Anschauungen aus und viele Naturheilmethoden ebenfalls.

In einer der Spirallinien des Fortschritts ist das, was an der Medizin Naturwissenschaft ist, weiter und weiter gediehen; Anatomie, Physiologie und Biochemie sammeln Kenntnisse, von denen die alten Ärzte keine Ahnung hatten; aber zu einer brauchbaren Definition des Krankheitsbegriffs ist die Naturwissenschaft dennoch nicht gelangt, weil es Krankheitswesen als. Ursachen von Krankheitserscheinungen nicht gibt.

Die schärfste Kritik an dem Krankheitsbegriffe hat vor etwa 50 Jahren Virchow geübt, der Begründer der Zellularpathologie, da er das Kranksein in die Atome des Organismus verlegte, in die Zellen. Bessere Sachkenner mögen darüber entscheiden, ob er nicht das Kind mit dem Bade ausschüttete, als er auch das Adjektiv krank lieber auf die Zellen angewendet[242] wissen wollte als auf die Menschen, als er sagte: »Die Krankheit zerstört alle Illusionen über die substantielle Einheit des Organismus.« Jedenfalls hat Virchow den Weg geebnet für die neue Lehre: es gibt keine Krankheiten, es gibt nur kranke Menschen. Für die Erkenntnistheorie wie für den Arzt.

Neuerdings hat ein genialischer Arzt, der nichts als Arzt sein will, diese These auch in der Theorie verfochten: Schweninger in seinem Büchlein »Der Arzt« (S. 54 ff.). Wohl schon unter dem Einflusse sprachkritischer Ideen schrieb er (1906): »Wenn der Arzt überhaupt nichts heilen kann, Krankheiten kann er nicht einmal behandeln... Krankheit ist eine Abstraktion, eine Sprachvorstellung, die nur in der Welt der Gedanken eine Berechtigung auf Vorhandensein hat... die Namengebung für solche Abstraktionen nehmen wir mittels eines Sprachkunststückes vor, das ein Eigenschaftswort zu einem Hauptwort macht. Wir schaffen dem neuen, ideellen Gegenstand, dem Begriff, seinen Namen durch grammatikalische Kennzeichnung; durch besondere Wortbildung. Wir sprechen nicht mehr von roten Gegenständen, sondern von der Röte, nicht mehr von kranken Menschen, sondern von Krankheit... Was stets so Krankheit genannt wird, ist nichts weiter als... ein Hauptwort gewordenes Adjektiv, das die Betrachtung an kranken Menschen zu einem Namen für eine Gegenständlichkeit erhoben hat; für eine Gegenständlichkeit, an deren tatsächliches und leibhaftiges Vorhandensein man einst glaubte, da man von einem Ens morbi, einem Krankheitswesen fabelte... Es ist nicht gleichgültig, ob die Ärzte wähnen, Krankheiten behandeln zu müssen, oder ob sie bewußt ihre Tat einsetzen, um der Behandlung kranker Menschen willen.«

Ich habe schon (Kr. d. Spr. II2 S. 410) darauf hingewiesen, daß die Wissenschaft den Krankheitsbegriff einfach und unverändert aus der Gemeinsprache herübergenommen habe, daß auch die Definition unmöglich sei: Krankheit ist der anormale Zustand oder das anormale Verhalten der Organe. »Kein Mensch versteht unter Krankheit ein anormales Verhalten, solange es nicht schmerzhaft oder gefährlich ist.« Was den kranken Menschen[243] an seinem Zustande interessiert, das ist immer nur der Schmerz oder das Übelbefinden, das Nachlassen seiner Kräfte oder die Störung in seiner Arbeit, endlich die Lebensgefahr; der Name seiner Krankheit interessiert den kranken Menschen gar nicht, wenn er nicht zufällig Arzt oder ein halbgebildeter Laie ist.

Ich habe schon gesagt, daß die Krankheiten der Menschen noch viel weniger genau nach Arten zu klassifizieren und zu benennen sind als die Pflanzen und Tiere; ein Linné der Nosologie wäre gar nicht möglich. Dazu kommt, daß die Namen der Krankheiten wie andre Wörter auch ihre Zufallsgeschichte haben, bald von irgendeinem Symptom hergenommen sind, bald den elenden Zustand überhaupt, also jede Krankheit bezeichnen. Beispiele für die erste Gruppe wären: Krebs (Lehnübersetzung von griech. karkinos) womit Galenos auf eine entfernte Ähnlichkeit der Adernzeichnung mit den Füßen eines Flußkrebses hinweisen wollte; Hysterie von hystera Tuberkulose, nach dem Vorkommen von kleinen Knötchen oder Tuberkeln; man erinnere sich gar, daß nach einer sehr wahrscheinlichen Vermutung (Pflug: »Syphilis oder Morbus Gallicus?«) der Name Syphilis nach dem Namen des Schäfers Syphilus gebildet worden ist, des poetischen Helden des Lehrgedichts »De Syphilide, sive Morbo Gallico«, das Fracastoro zu Verona im Jahre 1530 herausgab und in dem er die chauvinistischen Namen der Krankheit (wie morbus gallicus, mal de Naples) durch einen mythologischen ersetzen wollte. 1 Beispiel für die zweite Gruppe wären: Kachexi[244] (kachexia), das wörtlich schlechtes Befinden heißt und das wirklich auch im Munde des gelehrten Arztes nicht viel mehr bedeutet; Phthisis, was wir genau mit Schwindsucht übersetzen, paßt ebenso auf jede den Organismus mehr und mehr schwächende Krankheit.[245]

Damit bin ich bei den Wortgeschichten von Krankheit und krank angelangt. Das griechische nosos wird mit seiner interessanten Sippe auf eine sogenannte Wurzel zurückgeführt, die intransitiv wieder verschwinden bedeutet, transitiv verderben. Das lat. morbus mit seiner ungeheuren Sippe, an der Max Müller einmal seinen etymologisierenden Scharfsinn bis zur Grenze der Karikatur geübt hat, erinnert an mors; morbus könnte ganz gut eine Übersetzung von griechisch phthisis sein, bedeutet aber die Krankheit überhaupt. Unser krank kommt erst im Mittelhochdeutschen vor und bedeutet da, ebenso wie ursprünglich im Neuhochdeutschen, kraftlos, besonders gelähmt infolge von Wunden, wie heute noch in der Weidmannsprache; die altgermanische Bezeichnung für unsern Begriff krank war siech, das wahrscheinlich wieder auch etymologisch mit schwach zusammenhängt. Ein chirurgisches Buch aus dem 16. Jahrhundert sagt ganz prägnant: der Arzt müsse unterscheiden, ob der Sieche krank oder stark sei; wir müßten das heute ausdrücken: ob der Kranke schwach oder kräftig sei. Man kann vermuten: in einer alten harten Zeit interessierten die Menschen sich weniger für die Schmerzen einer Wunde oder für die Lebensgefahr, als für den Zustand, in dem sie zu Kampf oder Flucht unkräftig geworden waren, wie ein weidwundes krankes Tier. Noch merkwürdiger scheint mir die entsprechende Wortgeschichte der romanischen Sprachen, wie sie Diez kurz angedeutet hat; italienisch malato, französisch malade heißt provençalisch malapte, und diese Form scheint auf male aptus hinzuweisen, untauglich, und entspricht ziemlich genau unserem unpäßlich (aptus = passend).

In großen Zügen gesehen vollzog sich also die Wortgeschichte dergestalt, daß der Aberglaube der Gemeinsprache den Krankheitsbegriff erfand als eine personifizierte Ursache des Kräfteverfalls, des Siechtums, des Krankseins, daß die Gemeinsprache für das Gefühl dieses Zustandes, insbesondre für das Gefühl der Schwäche, das Adjektiv krank bildete, daß die Ärzte mit der Entwicklung ihrer Kunst dieses Adjektiv auch auf andre Symptome als das der Schwäche anwandten, und daß die Gemeinsprachen[246] am Ende jeden Zustand als krank bezeichneten, den Ärzte zu behandeln bereit waren; schließlich klassifizierten die Ärzte die zahlreichen Symptome in recht ungenaue Gruppen und nannten die personifizierten Ursachen der Symptomgruppen mit den Namen bestimmter Krankheiten, um endlich gegenwärtig die Ungenauigkeit der Symptomgruppen und die Bildhaftigkeit oder Wesenlosigkeit des Krankheitsbegriffs begreifen zu lernen.

Dabei geht der scheinwissenschaftliche Betrieb der Heilkunst unbeirrt weiter seinen wortabergläubigen Weg; nach wie vor schlagen unfleißige Ärzte nach in alphabetisch geordneten Handbüchern, die von fleißigen Ärzten verfaßt worden sind: wie man die fragliche Krankheit nach ihren wahrnehmbaren Zeichen bestimme und welche Heilmittel man gegen die also bestimmte Krankheit anzuwenden pflege. Man redet in solchen Büchern nach wie vor von Diagnostik und Therapie. Eben aber ist (1917), unter dem mittelbaren Einflusse der Sprachkritik, eine rebellische Schrift erschienen, die endlich gründliche Kritik übt an dem, was man die besondere Logik der medizinischen Fakultät nennen könnte: »Die ärztliche Diagnose« von Dr. Richard Koch. Der Verfasser schickt seiner Untersuchung einen lesenswerten Überblick der Geschichte der Diagnose voraus; wir erfahren, daß heutzutage nur wenige Mediziner von metaphysischen Deutungen so frei sind, wie der unvergleichliche Hippokrates schon vor mehr als zweitausend Jahren war; den weitem Abschnitten über den augenblicklichen Stand der Diagnostik möchte ich einige Tatsachen und einige Gedanken entnehmen.

Will man schon nach den wahrscheinlichen Ursachen, nach den vermuteten Vorgängen im Körper und nach den wahrnehmbaren Erscheinungen besonders benannte Krankheiten unterscheiden, so sollte man lieber von Krankheitstypen sprechen als von Krankheitsarten. Die Erscheinungen am kranken Körper kann man wiedererkennen und ordnen, die Vorgänge im kranken Organismus kann man mit den leidlich erforschten Vorgängen im gesunden Organismus vergleichen; aber die sogenannte Krankheit selbst kann man niemals verstehen. Alle Hypothesen einer mechanistischen Naturanschauung reichen kaum für das Verständnis der Mechanik aus[247] oder für die Bildlichmachung eines Zustandes, sicherlich nicht für das Verstehen eines Vorgangs. Die adjektivische und substantivische Welt steht der verbalen Welt ohne ein verstehendes Organ gegenüber. Schon darum ist die Medizin weder Naturwissenschaft noch Wissenschaft überhaupt. Selbst die Forscher unter den Ärzten müssen am Krankenbett aufhören Wissenschaftler zu sein, müssen zu Heilkünstlern werden. Die Diagnose sucht also nicht mehr einen bestimmten Krankheitsnamen, die Diagnose ist nur noch ein Ausdruck für die Summe der Erkenntnis, nach welcher der Arzt sein Handeln einrichtet. So ist z.B. bei der Diagnose aus einer bestimmten Ursache (Gift) die Menge des schädlichen Stoffs von entscheidender Bedeutung für das Einschreiten des Arztes, ohne daß der Name der Erkrankung geändert zu werden brauchte. So belehrt z.B. die anatomische Diagnose, die nachträglich die klinische bestätigen soll (soll, und darum nur allzu oft bestätigt), immer nur über einen Zustand und nur durch Schlüsse über den Vorgang. Ebenso unsicher ist endlich die symptomatische Diagnose, weil der Begriff des Symptoms unsicher geworden ist. So war das Fieber einmal der Name einer Krankheit; jetzt betrachtet man es als ein Symptom oder aber als einen Heilungsvorgang. Die Heilkunde tut gut daran, sich vor ihren Bemühungen auf die Hypothese des als Hypothese erkannten Materialismus zu stellen; auch bei der Diagnose psychischer Erkrankungen; weder der Gegenstand der Erkrankung (die Seele) noch die Ursache der Erkrankung (etwa ein Dämon) darf metaphysisch aufgefaßt werden. Nun haben aber die psychischen Erkrankungen die Besonderheit, daß just nur die Symptome für den Kranken von Bedeutung sind, oft für den Fortbestand seiner Persönlichkeit, daß also eine Befreiung von den Symptomen praktisch einer Heilung gleichkäme. Dazu kommt noch etwas, was ich noch härter ausdrücken möchte, als der Verfasser es tut: die Diagnose eines Irrenarztes kann zu einer Mordwaffe werden, wenn der Kranke – fast hätte ich gesagt: der Angeklagte – auf Grund irgendeines alphabetischen Handbuchs der Diagnostik für unheilbar erklärt und daraufhin in einer geschlossenen Anstalt untergebracht worden ist. »Die psychiatrische Wortdiagnose[248] wirft ein dunkles Krankheitswort hin. Man muß erst mühsam zu verstehen suchen, was der betreffende Diagnostiker für einen Sinn in dieses Wort zu legen pflegt. Die Vorstellung einer Krankheit als ein unabhängig vom Körper bestehendes Ding, das den Menschen befällt, ist hier ganz besonders verwirrend« (S. 81). Dagegen ist die Diagnose des Chirurgen gewöhnlich ganz eindeutig.

Die neuern Methoden haben die Mittel der Diagnose sehr verfeinert, so daß der gewöhnliche Landarzt diese Methoden gar nicht erst anwenden kann, haben aber die sogenannte Intuition des Heilkundigen (der Verfasser bemüht an dieser Stelle leider die unglückliche Intuition Bergsons) nicht ersetzt. Der tüchtige Landarzt bleibt auf seine Erfahrung und daneben auf seinen Instinkt hingewiesen, während im großstädtischen Betriebe ein ganzes Netz besonderer Krankheitstypen und besonders diagnostischer Methoden zum Spezialistentum geführt hat, das begreiflicherweise in der Diagnose zuverlässiger ist als in der Therapie. Der Verfasser kehrt zu Hippokrates zurück: die Heilkunde ist ein praktischer Beruf und gerät auf Abwege, wenn sie für eine Wissenschaft gehalten wird.

Ich möchte diese Kritik einer ärztlichen Erkenntnistheorie in meiner Sprache so zusammenfassen: Das Bild des kranken Menschen, den der Arzt im Bunde mit der Natur zu heilen bestrebt ist, kann der adjektivischen Welt angehören, wenn der Beobachter sich an die Symptome hält und sich nur an früher beobachtete Symptome erinnern will; es kann aber auch gut der verbalen Welt angehören, wenn der wissenschaftlich vorgebildete Arzt den Zustand des Kranken in seiner Phantasie zu einem Vorgange macht und den anormalen Vorgang in einen normalen verwandeln will; verirrt sich aber das Bild des Kranken in die substantivische Welt, glaubt der Arzt an einen Namen des Krankseins, der dann automatisch das entsprechende Rezept in die Feder diktiert, so steht es um die Heilkunde nicht viel besser als damals, da der Kranke von einem Dämon besessen schien und mit Zauberworten besprochen werden mußte. Aber der Krankheitsbegriff hat das Besondere an sich, daß meine drei Bilder der Welt sich nicht ohne Zwang auf ihn anwenden lassen.[249]

Der kranke Mensch als ein Individuum gehört gewiß der substantivischen Welt an, ebenso aber der Name des Leidens, von dem er befreit sein möchte; sein Leiden selbst, insofern es ihn ohne Hilfe des Arztes umbringen würde, ist von der verbalen Welt des Geschehens, objektiv, während der schmerzhafte Zustand, durch den das Individuum sich krank fühlt, subjektiv, der adjektivischen Welt angehört. So scheint alles in bester Ordnung zu sein, nur daß die Medizin noch lange nicht soweit ist, die drei Welten auseinander zu halten. Das Individuum, das als Kunde des Geschäftsarztes ein »Patient« heißt, führt zwar einen substantivischen Eigennamen, wenn es nicht mit einer Bettnummer bezeichnet wird; aber die Krankheit, um deren Vernichtung es sich handelt, ist nach wie vor ein mythologisches Substantiv geblieben, von dessen Kausalität man bestenfalls nur wenige Ursachen und Wirkungen kennt; beschrieben und erkannt wird diese mythologische Krankheit doch erst wieder durch adjektivische Beobachtungen, subjektiver und objektiver Art. Der Kranke selbst beobachtet recht gut, was ihm angenehm oder unangenehm ist; der Arzt – wenn er nicht ein Genie ist – beobachtet immer nur, was er gelernt hat, was vor ihm gewußt worden ist.

Zu der Gruppe der Krankheitsbegriffe gehört auch der »Tod«, auch er unter den drei Bildern der Welt nicht reinlich unterzubringen. Einst war der Tod im Volksglauben, also auch in der Gemeinsprache, eine Gestalt aus der substantivischen oder mythologischen Welt, der würgende Gott, eigentlich die letzte Krankheit, wenn es sich um ein natürliches Sterben handelte, oder der Pfeil des Gottes, wenn das Sterben ohne Vorbereitung kam. Einerlei, ob man sich diesen personifizierten Tod als einen freundlichen Genius vorstellte – wie Lessing das antichristlich von der ganzen Antike annahm, ohne sich viel um die dichterischen Darstellungen zu kümmern – oder, wie in den Totentänzen, als ein scheußliches Gerippe mit einer Sense. Immer war dieser personifizierte Tod der Todbringer, der Verursacher des Todes, gehörte aber einseitig der verbalen Welt an; einseitig, weil die Wirkung keine Ursache war. Ein Substantiv[250] ganz anderer Art ist der Tod im modernen Sinne des Wortes: das, was der personifizierte Tod bringt oder verursacht, das Aufhören des Lebens. Oder, wie sich jetzt die Wissenschaft vorsichtig ausdrückt: das Aufhören des Stoffwechsels in einem Organismus.

Dieser gegenwärtig allein noch gefürchtete Tod, mit ehrlicher Einfalt »das Ende des Lebens« genannt, gehört also gar nicht der verbalen Welt an, aber auch nicht einmal der substantiv-mythologischen Welt; er ist überhaupt kein Ding mehr, er ist ein Unding, er ist – genau genommen – nur noch ein mathematischer oder ein logischer Begriff, ein Grenzbegriff, ein Ende eben. Aus einem Organismus ist eine Leiche geworden. Und auch da stimmt mancherlei nicht. Erstens nicht mathematisch, weil der Eintritt des Todes sich nicht auf die Stunde oder gar auf die Minute genau bestimmen läßt; wenn die Funktionen der Lunge und dann erst des Blutkreislaufs völlig aufgehört haben, setzen die Muskeln und auch die Eingeweide, zuletzt noch gewisse Flimmerzellen ihre Tätigkeit fort. Wie auch im sogenannten Todeskampfe die Sinnesorgane nicht auf einmal absterben. Zweitens gibt es – worauf Weismann zum ersten Male hingewiesen hat – nicht immer eine Leiche, wenn ein Individuum zu leben aufgehört hat.

Immerhin: es gibt keinen Tod, aber es gibt Tote oder Leichen. Ob ein ehemaliger Organismus eine Leiche geworden sei oder nicht, darüber belehrt die Leichenschau; womit schon gesagt ist, daß der Begriff »Leiche« der adjektivischen Welt angehört. An bestimmten Merkmalen erkennt der Fachmann, oder den die Behörde dazu ernannt hat, noch genauer als der Laie, daß aus einem Lebewesen ein Leichnam geworden ist, daß kein Stoffwechsel mehr vor sich geht. An Stelle der physiologischen Veränderungen haben, nach der Totenstarre, die chemischen Veränderungen begonnen. Man achte auf die Tautologie in diesen Sätzen. Was Stoffwechsel hieß, solange Leben in dem Individuum war, heißt jetzt Chemismus. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Veränderungen steckt darin, daß wir die Vorgänge des Stoffwechsels unter dem Zweckbegriff zu betrachten gewöhnt sind, die chemischen Vorgänge nur unter[251] dem Ursachbegriff. Oder hätte das erste Ergebnis der chemischen Zersetzung, der Gestank der Leiche, auch noch einen Zweck? (Man vergleiche nachher den Artikel »Tod«.)

1

Unter den mehr als 400 Namen und Umschreibungen der Syphilis war morbus gallicus (Lehnübersetzung: Franzosenkrankheit) die unter den Gelehrten allgemein übliche; daran nun kann kein Zweifel sein, daß Fracastoro, auch als Astronom und Dichter bekannt, berühmt als Spezialist für venerische Krankheiten, Leibarzt des Papstes Paul III., wiederholt an das Tridentiner Konzil berufen, – daß dieser Fracastoro die Bezeichnung Syphilis eingeführt hat. Die Streitfrage, ob Fracastoro die Krankheit nach dem an ihr leidenden Schäfer Syphilus benannt habe, oder etwa den Schäfer nach der schon vorher unter dem Namen Syphilis bekannten Krankheit, scheint mir dadurch entschieden, daß Fracastoro in einem wissenschaftlichen Werke behaupten durfte, er habe in seinem Gedichte der Krankheit den Namen gegeben. Wie aber kam er dazu, den Schäfer Syphilus zu nennen, doch schon im Hinblick auf die Krankheit? Man hat den Namen aus dem Griechischen herleiten wollen: von symphilein von sys und philein (also von der Liebe und von Sauliebe), von siphlos (verkrüppelt, verletzt); ich lasse mich auf diese gelehrten Volksetymologien nicht ein. Aber ich finde (in dem Büchlein von Pflug) schon bei einem Zeitgenossen Fracastoros die Notiz, dieser habe die Bezeichnung Syphilis einem Barbarenworte (a barbara voce) entlehnt. Nun hat Pflug sehr gut nachgewiesen, daß dieses Barbarenwort das arabische sufl oder sifl gewesen ist, unten niedrig (so auch im Hebräischen, wovon das judendeutsche schofel). Fracastoro war Astronom, nach der Mode der Zeit Astrolog; die Araber nannten die eine Hälfte der Welt, den mundus inferior al alam as sufli (oder sifli); es stimmte zu der Absicht des Mannes, die Krankheit für eine katholische (so hieß sie gelegentlich, aber katholisch nur im Sinne von allgemein, international) zu erklären, im Gegensatze zu der Herleitung von einer bestimmten Nation, daß er für ihre Entstehung die Planeten verantwortlich machte. Im einzelnen ist die genaue Bestimmung der Wortbedeutung doch recht gewagt. Vielleicht nicht gewagter meine Vermutung, die ich hersetzen will. Eine Dualform von sifl bezeichnet in der arabischen Astronomie die beiden untern Planeten Venus und Merkur. Wäre es nicht möglich, daß die Beziehung zur Venus, die doch auch dem Arzte des 16. Jahrhunderts nicht ganz entgehen konnte, durch einen gelehrten Hinweis auf die untern Planeten ausgedrückt werden sollte? daß wir Syphilis als eine astrologische Lehnübersetzung von venerisch anzusehen hätten? Es lag übrigens völlig im Geiste des 16. Jahrhunderts, die Ursachen irdischer Erscheinungen in den Sternen zu suchen; die Denker flüchteten von Aristoteles zu Platon, begingen aber den Irrtum, gegen die Scholastik nicht Platonismus, sondern Neuplatonismus einzutauschen. Selbst Melanchthon führte die Syphilis Huttens auf eine unglückliche Konstellation der Sterne zurück.

Ich weiß nicht, ob ich mich soweit vorwagen darf, bei meiner Vermutung noch eine zweite Beziehung des Wortes Syphilis, die zum Planeten Merkur, anzunehmen. Merkur hieß bekanntlich damals auch das Quecksilber, besonders der rote Präzipitat, war schon von Paracelsus als Heilmittel gegen die Syphilis angegeben worden. Wenn nun Fracastoro das Kapitel des Paracelsus »von den Imposturen, welche in den Frantzosen gebraucht werden« gekannt haben konnte oder den Präzipitat selbst anwandte, dann wäre es nicht unmöglich, daß er mit dem Dual von sifl, der die beiden untern Planeten Venus und Merkur bedeutete, zugleich an die Erregung und an die Heilung der Krankheit erinnern wollte.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 239-252.
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