primitive Philosophie

[571] primitive Philosophie. – Den schönen Satz, Vollständigkeit sei der Tod der Wissenschaft, hat sein Präger, Wilamowitz-Möllendorf, wohl nur gegen die Professoren gemünzt, die sich nicht genug tun können an Literaturangaben über jede Lappalie; in den historischen Wissenschaften aber erbt sich die Sucht weiter und weiter fort, die Geschichte bis in Zeiten zurückzuverfolgen, von denen wir nichts wissen können. Diese Sucht ist noch gesteigert worden durch den Darwinismus oder die Entwicklungslehre; man schickte sich ernstlich an, allen Ausdrucksformen der menschlichen Kultur bis zu ihren Uranfängen zurück nachzuspüren. Auch die Philosophie des Urmenschen, die primitive Philosophie, sollte erschlossen werden; das Protoplasma der Philosophie sollte entdeckt oder konstruiert werden.

Wir lächeln heute, wenn wir in Bruckers »Kurzen Fragen aus der Philosophischen Historie von Anfang der Welt bis auf die Geburt Christi« (1731. Bd. I, S. 39) als eine Kapitelüberschrift die Frage lesen: »Sind vor der Sündfluth auch schon philosophi gewesen?« Und im folgenden Abschnitt eine fast lustige[571] Widerlegung der Behauptung, daß Adam ein vollkommener Dialektiker, Physiker, Ethiker, Mathematiker, Politiker und endlich der allervollkommenste Polyhistor gewesen sei. Wir lächeln über Brucker, trotzdem er die Frage nicht ohne eine kleine Ironie behandelt. Wir sollten auch die neuesten Versuche, eine Geschichte der primitiven Philosophie in weniger bibelfester Sprache zu schreiben, nicht allzu ernst nehmen.

Ich denke da zunächst an Wundts Aufsatz »Die Anfänge der Philosophie und die Philosophie der primitiven Völker« (Kultur der Gegenwart I, Abt. V). Wundt verbreitet sich über die primitive Logik, die primitive Psychologie, die primitive Naturphilosophie und die primitive Ethik. Er macht sich den gefährlichen Grundsatz der Geschichtswissenschaft zu eigen, die Anfänge eines Kulturgebietes und die betreffenden Zustände bei den sogenannten Naturvölkern der Gegenwart gleichzusetzen; darum fallen ihm die Begriffe »Anfänge der Philosophie« und »Philosophie der primitiven Völker« zusammen. Er sieht ganz gut, daß die primitive Philosophie unsere Logik noch nicht kannte, daß die Seelenlehre der Urzeiten noch auf unsere Psychologie herüberwirkt, daß die primitive Naturphilosophie zwar den Ursachbegriff schon besaß, aber den Zauber für eine zureichende Ursache hielt, den wunderwirkenden Gott, daß die primitive Ethik der Naturvölker es oft genug mit der sog. geläuterten Ethik unseres christlichen und philosophischen Abendlandes aufnimmt. Für die vergleichende Anthropologie mag durch solche Untersuchungen mancher gottlose Satz sich ergeben, den ausdrücklich zu formulieren sich Wundt vorsichtig hütet.

Wollten wir Ernst machen mit der Frage nach einer primitiven Philosophie, so müßten wir vorher beide Worte für diesen Zusammenhang genauer definieren.

Primitiv ist ein arg relativer Begriff. Wenn in der Kunstgeschichte von Primitiven gesprochen wird, so denkt man an italienische Maler des 15. und dann wieder an englische Maler des 19. Jahrhunderts; also an Maler einer sehr historischen Zeit, die nur etwas kindlicher und ungeschickter waren (oder sich stellten) als die klassischen Meister. In der Geologie denkt man bei[572] primitiven Gebirgen an eine Urzeit, die nach der gegenwärtigen Lehre der Existenz der Menschen um Hunderttausende von Jahren vorausging. Sonst heißt primitiv soviel oder sowenig wie ursprünglich, prähistorisch, oder: was heute in den Kulturzuständen lebt, die wir als die urältesten Zustände der heutigen Kulturvölker voraussetzen. Über die sich also ohne jenen verwegenen Analogieschluß nichts ausmachen läßt.

Philosophie wiederum bedeutet heute ungefähr soviel wie Erkenntniskritik; das Wort bedeutete in früheren Jahrhunderten nacheinander manche andere Sehnsucht nach Erkenntnis: nach Erkenntnis der reinen Vernunft, des Zusammenhangs zwischen Geist und Körper, des göttlichen Wesens, des Verhältnisses zwischen Idee und Individuum usw. zurück. Wenn nun der gute alte Brucker halb im Scherze die Frage aufwarf, wer der erste philosophus gewesen sei, so hatte das nach dem Stande der damaligen Geschichtswissenschaft den guten Sinn: ob eine von den philosophischen Schulen, die traditionell immer genannt wurden, schon in den überlieferten Äußerungen Adams nachzuweisen wäre oder nicht. Wird heute die Frage aufgeworfen, ob die sogenannten Naturvölker, also ob die prähistorischen Völker eine Weltanschauung gehabt haben, auf welche sich der fließende Begriff Philosophie noch anwenden lasse, so hat das einen so klaren Sinn nicht. Wir müssen die Urzeit, da wir an Adam nicht mehr glauben, immer weiter und weiter zurückrücken, und wir müssen mit dem Begriffe Philosophie einen fast nicht mehr erlaubten Bedeutungswandel vornehmen.

Da wir uns gewöhnt haben, die Entwicklung des Menschen beim Tiere anfangen zu lassen, so müßten wir konsequenterweise auch im Seelenleben der Tiere die primitive Philosophie aufsuchen. Und da würde sich bald herausstellen, daß wir unter der historischen und gar unter der neuesten Philosophie das bewußteste Nachdenken der Menschen über die Grundlagen ihres Handelns und Wissens verstehen, daß wir dagegen eine primitive Philosophie auch in solche Äußerungen der »Wilden« hineinlegen, deren Tragweite ihnen niemals zum Bewußtsein gekommen ist. Auch die Handlungen und Weltorientierungen der[573] Tiere ließen sich leicht nach Begriffen ordnen, die der menschlichen Logik, Psychologie, Naturphilosophie und Ethik angehören; und ich habe auch gar nichts dagegen, daß man eine »Philosophie der Tiere« schreibe, – wenn nur die Besonnenheit darüber nicht verloren geht, daß es sich um eine kühne Ausdehnung von Menschenbegriffen handelt.

Und das wird bei solchen Untersuchungen leider gern übersehen. Nicht die primitive Philosophie, auch nicht einmal die Philosophie der primitiven Völker können wir erschließen, sondern nur die Fragen zu beantworten suchen: was verstand man in alten Zeiten unter den Worten, die geradezu oder in Übersetzungen die technischen Ausdrücke unserer Philosophie geworden sind? und: in welchem Sinne lassen sich einige dieser Ausdrücke auf das Denken der Naturvölker anwenden? Ich glaube nicht, daß wir in der Erschließung einer ursprünglichen Philosophie weiter gelangen werden als zu einer lückenhaften Wortgeschichte der gemeinsprachlichen Begriffe der Philosophie und zu einem Versuche, mit einem rückwärts gekehrten Bedeutungswandel die Worte auf die etwaigen Vorstellungen alter Völker und lebender Menschenfresser auszudehnen.

Es mag ja sein, daß unter den Vorstellungen uralter Völker und wilder Völkerschaften von heute solche sind, die das Wörterbuch unserer Philosophie ganz und gar nicht kennt; dann aber wären wir gar nicht in der Lage, solche Vorstellungen kennen zu lernen, sie in die Sprache unserer Philosophie zu übersetzen. Ich gestehe aber, daß ich an die Existenz verborgener primitiver Weisheit nicht glaube. Viel näher liegt mir der traurige Gedanke, daß die letzten Fragen der Philosophie von der Gebrechlichkeit der menschlichen Sinne und des menschlichen Verstandes immer gleichartig gestellt worden sind, daß der Fortschritt der Sprache nur darin bestand, die Fragen bestimmter zu fassen, und daß wir ihnen eine Antwort zu finden heute weniger hoffen als in Urzeiten. Im Gefühle dieser Resignation könnte man gar leicht unsere heutige Erkenntniskritik die erste, die primitive Philosophie nennen.[574]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 571-575.
Lizenz:
Faksimiles:
571 | 572 | 573 | 574 | 575
Kategorien:

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon