Kritik

[719] Kritik (griech.), soviel wie Beurteilung. Alle menschlichen Tätigkeiten und ihre Erzeugnisse (also technische, künstlerische und wissenschaftliche Leistungen, praktische Maßregeln im öffentlichen und privaten Leben, Meinungen und Lehren jeder Art) unterliegen der K., d. h. man kann fragen, was an ihnen richtig oder falsch, recht oder unrecht, zweckmäßig oder unzweckmäßig, häßlich oder schön, gut oder schlecht ist. Beschränkt sich die K. darauf, das Mangelhafte und Verwerfliche hervorzuheben, so ist sie bloß negativ, gibt sie zugleich an, wie die Fehler zu verbessern wären, und sucht sie überhaupt ihr Objekt allseitig (auch in seinen Vorzügen) zu würdigen, so ist sie positiv. In jedem Falle setzt die K. das Vorhandensein eines Maßstabes der Beurteilung voraus. Liefern diesen (wie zumeist im gewöhnlichen Leben) die individuellen Anschauungen des Kritikers oder von ihm blindlings angenommene konfessionelle, politische, nationale, Zeit- oder Modevorurteile, so ist die K. eine subjektive, und wenn sie nur die eigne Ansicht um jeden Preis zur Geltung zu bringen sucht, eine tendenziöse, stützt sie sich auf Tatsachen oder allgemein anerkannte Grundsätze und Regeln, so ist sie objektiv (sachlich). Eine solche ist freilich streng genommen nur auf den wenigen Gebieten möglich, wo es (wie in den exakten Wissenschaften, in den technischen Künsten) feste und unbestrittene Prinzipien gibt, überall sonst bleibt das kritische Urteil fast immer anfechtbar, bez. läßt sich der K. eine Antikritik entgegenstellen. Der besonnene Kritiker wird daher immer nur mit großer Vorsicht urteilen und an Stelle der äußern K., die ihren eignen Maßstab an den Gegenstand anlegt, lieber die innere treten lassen, die ihren Maßstab den Gegenständen selbst entnimmt, indem sie als historische und ethische nicht fragt, ob die Handlungen eines Mitmenschen oder einer historischen Persönlichkeit an sich gut oder schlecht, zweckmäßig oder unzweckmäßig, sondern ob sie unter den gegebenen Umständen vernunftgemäß waren, als ästhetische nicht den absoluten Kunstwert eines Werkes zu bestimmen, sondern festzustellen sucht, ob es dem Künstler gelungen ist, den Stoff nach seinen Ideen zu gestalten, als philosophische nicht über die absolute Wahrheit oder Unwahrheit eines Systems entscheidet, sondern seine innere Folgerichtigkeit und seine Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit den Tatsachen prüft. So gefährlich und zerstörend eine zügellose, alles bezweifelnde K. ist (wie die der französischen »Aufklärer«), so unentbehrlich ist doch in der Wissenschaft der kritische Geist, der im Gegensatz zum Autoritätsglauben nur das als wahr annimmt, was allseitiger Prüfung standhält, und auch die eignen Ideen immer aufs neue sichtet. In dieser Hinsicht sind Lessing und Kant noch heute klassische Vorbilder. – In Philologie und Geschichte versteht man unter K. (im engern Sinne) den Inbegriff derjenigen Methoden, durch welche die Echtheit oder Unechtheit eines Schriftwerkes, der Wert oder Unwert von Überlieferungen und Dokumenten erwiesen wird.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 719.
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