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Die ersten Enzyklopädien gab es bereits im Altertum. Plinius der Ältere beendete im Jahr 77 n. Chr. seine »Naturalis Historia«, eine 36-bändige Enzyklopädie des gesamten (überwiegend naturwissenschaftlichen) Wissens seiner Zeit. Er stützte sich dabei auf viele Quellen des römischen Dichters Marcus Terentius Varro, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte. Damit waren die Maßstäbe für die nachfolgenden Enzyklopädien gesetzt: sie wollten das gesamte Wissen ihrer Zeit oder eines bestimmten Sachgebietes in systematischer Form zusammenfassen. So setzte sich gegenüber der chronologischen Folge der Geschichtsschreibung oder einer Anordnung nach Sachgebieten im 16. Jahrhundert die alphabetische Form durch.
Das 18. Jahrhundert, Epoche der Aufklärung, verschaffte der Enzyklopädie den Durchbruch. Das berühmteste enzyklopädische Werk dieser Zeit, die »Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers«, wurde von Denis Diderot und Jean le Rond d'Alembert zwischen 1751 und 1772 erarbeitet. Als einer der Vorläufer dieses ehrgeizigen Projekts darf sicher das 64-bändige von Johann Heinrich Zedler von 1732 bis 1750 herausgebrachte »Große vollständige Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste« gelten. Eine wichtige Neuerung der Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert gegenüber Zedler war aber die Erweiterung des Bestandes auf technisches Wissen, wie auch überhaupt das Bedürfnis nach einer vollständigen Sammlung alles existenten Wissens mit der französischen Enzyklopädie auf dem Höhepunkt angelangt war. Diderots Vorstellung war es, Gelehrten eine ganze Bibliothek zu ersetzen, diesem Anspruch konnten auf dem Wissensstand des 18. Jahrhunderts die sowohl breite Wissensbereiche abdeckenden als auch wissenschaftlich in die Tiefe gehenden Artikel gerade noch gerecht werden.
Als eines der letzten Mammutwerke dieser aufklärerischen Zielsetzung kann neben der 167-bändigen und unvollendet gebliebenen »Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste« (18181889) von Samuel Ersch und Gottfried Gruber sowie Heinrich August Pierers »Encyclopädischem Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe« (18241836) die 46-bändige erste Auflage von »Meyers Lexikon« verstanden werden. Es entstand von 1839 bis 1852 und war im Geiste der Vormärz-Revolution um umfassende politische Aufklärung bemüht. Gleichzeitig markierte es aber den Übergang zu dem neuen Ansatz der Lexika des 19. Jahrhunderts, die im Vergleich wesentlich weniger umfangreich, dafür aber auf eine allgemein gültigere, breitenwirksamere Darstellung bedacht waren. Joseph Meyer betonte in seinem Vorwort zur ersten Auflage die mit einer »populären Enzyklopädie« intendierte »intellectuelle Gleichheit« aller. Mit der Erweiterung der Zielgruppe über die Gelehrtenwelt hinaus ging automatisch eine Reduzierung des Anspruchs auf »Alles-Wissen« einher: nicht mehr wenige Menschen sollten alles wissen, sondern möglichst viele Menschen viel.
Damit brach die Epoche des »Konversationslexikons« an, das dem Titel gemäß Wissen für die gebildete Konversation zur Verfügung stellen wollte und somit eine möglichst objektive, vereinfachende und verständliche Darstellung wählte. Die Haltung der Intellektuellen zu dem populären »Konversationslexikon" lässt sich gut am Beispiel Goethes demonstrieren. In den »Zahmen Xenien« dichtete er despektierlich:
»Konversationslexikon heißt's mit Recht,
Weil, wenn die Konversation ist schlecht,
Jedermann
Zur Konversation es nutzen kann.«
Goethe: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)
Aus einem Gespräch mit Eckermann von 1827 dagegen ist überliefert:
»Ich zweifelte, konnte es aber nicht mit Gewißheit sagen. Goethe nahm daher das Conversations-Lexicon und las den Artikel über Byron vor, wobei er nicht fehlen ließ, manche flüchtige Bemerkung einzuschalten.«
Goethe: Briefe, Tagebücher, Gespräche
Naturgemäß rümpfte der wahrhaft Gebildete über das vermeintlich anspruchslose Projekt »Konversationslexikon« die Nase, zog es trotzdem hier und da als Autorität zu Rate, nicht ohne es jedoch mit eigenem Wissen zu ergänzen.
Diese Vorbehalte taten jedoch dem Siegeszug der Konversationslexika im 19. Jahrhundert keinen Abbruch. Dass das 19. Jahrhundert das Lexikon populär machte, zeigt sich schon an der Auflagenproduktion der beiden großen Marken, die den Lexikonmarkt weitgehend untereinander aufteilten: des Verlags Brockhaus und des »Bibliographischen Instituts«.
Von dem großen »Brockhaus' Konversationslexikon« erschienen allein im 19. Jahrhundert 14 Auflagen in schneller Folge, im 20. Jahrhundert bis 1994 folgten nur noch fünf weitere, diese unter dem neuen Titel »Der Große Brockhaus«. Die meisten Ausgaben umfassten etwa 15 Bände. Unter dem bereits oben apostrophierten Motto »Bildung für Alle« gründete Joseph Meyer 1826 das Bibliographische Institut. Ab 1839 erschien dort »Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände«, mit seinen 46 Bänden noch darauf bedacht, mehr Ausführlichkeit als die Brockhaus'sche Konkurrenz zu bieten. Erst Joseph Meyers Sohn Herrmann Julius Meyer empfand den Umfang der ersten Auflage als Mangel und gab von 1857 bis 1860 ein »Neues Konversationslexikon für alle Stände« heraus, ein deutliches Signal hin zu einer neuen Ausrichtung der Meyer'schen Lexikographie. Mit nur fünf Auflagen im 19. Jahrhundert stand Meyer der Brockhaus'schen Lexikonproduktion um einiges nach, seine Auflagen waren jedoch mit teilweise über 200.000 Exemplaren weit höher als die der Firma Brockhaus, die ihre erste bis zehnte Auflage insgesamt 300.000 Mal absetzte. Bei beiden Verlagen bildete sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts parallel der neue Typ der zwei- bis vierbändigen »Kleinen Konversationslexika« heraus, der hohe Popularität genoss.
Eine Folge der kleineren parallel erscheinenden Lexikonformen war die Rückbesinnung der Herausgeber großer Lexika auf einen Teil des im 18. Jahrhunderts proklamierten Anspruchs: sie strebten nach wissenschaftlicher Anerkennung. So schreibt der Herausgeber der hier vorliegenden sechsten Auflage des »Großen Konversationslexikons« in seinem Vorwort:
»Diese unablässige Arbeit hat uns die Genugtuung verschafft, daß selbst die streng abgeschlossenen Kreise der Gelehrten, die sonst mit vornehmer Geringschätzung auf die Popularisierung der Wissenschaften herabsahen, sich dem Konversations-Lexikon geöffnet haben, weil seine Universalität in der gleichmäßigen Berücksichtigung aller Zweige des menschlichen Wissens, seine Zuverlässigkeit, die peinliche Ordnung in seiner Organisation und die Möglichkeit rascher Orientierung in dem Labyrinth unsers geistigen Schaffens auch dem Spezialisten der Wissenschaft volle Achtung abgerungen haben.«
Bereits durch den gegenüber früheren Auflagen deutlich erhöhten Umfang von 20 Bänden macht sich hier die wiedergewonnene Sehnsucht nach Vollständigkeit und Universalität bemerkbar. Zwar konnte die Zielsetzung nicht mehr wie noch im 18. Jahrhundert die Zusammenfassung allen Wissens sein. Durchaus sollte aber die sechste Auflage alle vorausgehenden überwinden und eine Art Schlussstrich unter die im 19. Jahrhundert angesammelten wissenschaftlichen Errungenschaften setzen. Dies zeigt sich auch an der Schwerpunktverschiebung der Artikel hin zu technischen und naturwissenschaftlichen Themen, die Meyer selbst erläutert:
»Denn das Konversations-Lexikon soll nicht bloß eine systematische Aufspeicherung unsers wissenschaftlichen Gesamtbesitzes sein, sondern es soll auch den Geist und die herrschende Strömung der Zeit, in der es entstanden ist, widerspiegeln. Im 19. Jahrhundert sind Naturwissenschaft und Technik die führenden Mächte gewesen, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind noch keine Anzeichen dafür zu erkennen, daß jene ihre Führerrolle ausgespielt haben, wenn auch allerwärts neue ethische und ästhetische Interessen nach Geltung drängen.«
Parallel zu dieser Meyer'schen Rückbesinnung auf eine zumindest auf das 19. Jahrhundert bezogene Universalität setzte sich die Komprimierung des Lexikonwissens, die im 19. Jahrhundert in Gang gekommen war, im 20. Jahrhundert fort. In vielen Haushalten hielten die handlichen Taschenlexika sowie einbändige Handlexika Einzug, deren verkürzte Darstellung für schnelles Nachschlagen als ausreichend empfunden wurde. Neben den beiden Weltkriegen, die die Produktion vorübergehend lähmten, mag die Konkurrenz der kleinen Lexika auch einer der Gründe dafür sein, warum Anzahl und Höhe der Auflagen der großen mehrbändigen Lexika im 20. Jahrhunderts deutlich abnahmen, was mangelnde Aktualität zur Folge hatte.
Dies hat sich mit den seit der Jahrtausendwende aufgekommenen digitalen Ausgaben von Brockhaus und Enzyklopädia Britannica entscheidend verändert. Inzwischen ist ein einjähriger Neuerscheinungs-Turnus erreicht, zusätzlich ist die ständig aktuelle Wissensabfrage durch kommentierte Weblinks im Internet gegeben. Trotz der Möglichkeiten der neuen Speichermedien CD-ROM und DVD wurde jedoch das Ziel einer Auswahl und Komprimierung von Wissen nicht aufgegeben, weshalb bei einem heute extrem potenzierten Wissensvolumen ein Brockhaus multimedial 2003 mit 195.000 Stichwörtern auskommt, der multimediale »Meyer 2004« mit 156.000, eine Menge also, die auch der »Meyer 19021909« fast erreichte. Vermeintlich »veraltetes« Wissen wird aus den von Aktualität besessenen Lexika des 21. Jahrhunderts getilgt.
Damit beantwortet sich die Frage nach der heutigen Bedeutung alter Lexika von selbst: Mit einem aktuellen Lexikon wird vergangenes Wissen nur lückenhaft abgedeckt. Die Enzyklopädien der verschiedenen Epochen (deutscher) Geistes- und Wissenschaftsgeschichte können deshalb gewissermaßen als »Fortsetzungsbände« begriffen werden. Die Lexika der vergangenen Jahrhunderte sind keineswegs nutzlos geworden, sondern sie sind sogar die einzigen heute verbliebenen Quellen für zeitgenössische Bildung des 18. und 19. Jahrhunderts. Dieser Problematik trägt auch »Brockhaus multimedial 2003« durch die Beigabe des zweibändigen »Brockhaus 1906« Rechnung.
Die Bewahrung der wertvollen Kulturdenkmäler, die das Denken breiter Bevölkerungsschichten vergangener Jahrhunderte geprägt haben, lag bisher allein bei Bibliotheken, Antiquariaten und Sammlern. Aber nur die digitale Archivierung kann diese Quellen erstens dauerhaft bewahren und zweitens für jeden privat nutzbar machen. Die Idee, sein »Großes Konversations-Lexikon« am heimischen PC durchstöbern zu können, hätte Joseph Meyer sicher gefallen obwohl er nicht ahnen konnte, dass sein Motto »Bildung für alle!« auch im 21. Jahrhundert noch politische Relevanz haben würde.
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