Im Dienste des Adels und der Gesellschaft Baron van Swieten

[64] Neben dem Mozart, der gemütvoll oder derb mit seinen Kameraden scherzt, und dem andern, der sich als Freimaurer um die höchsten Fragen des Daseins bemüht, steht noch ein dritter, der musikalische Kavalier, der Held der zahlreichen Akademien und vornehmen Privatzirkel, der er in diesem Zeitabschnitt mehr denn je gewesen ist. Nochmals flocht ihm, wie in seinen jungen Jahren, das Glück den vollen Lorbeer des Virtuosen-Komponisten um die Schläfen, ehe es ihn am Schlusse seines Lebens einsam seine Straße ziehen ließ. Was sich ein berühmter Virtuose seiner Tage nur wünschen mochte, wurde ihm zuteil: die maßgebenden Kreise, Hof und Gesellschaft, drängten sich zu seinen Veranstaltungen und beklatschten die dafür komponierten Werke; er konnte es wirklich geraume Zeit mit jedem damaligen Modekünstler an äußerem Erfolge aufnehmen. Er hat sich nach Herzenslust in diesem Ruhmesglanze gesonnt, solange sein künstlerisches Gewissen die Richtung seines Schaffens mit den Anforderungen des Geschmackes seines Publikums zu vereinigen vermochte. Dieser Geschmack war durchaus nicht so beschränkt und engherzig, wie oft angenommen wird, er ließ der Selbständigkeit des einzelnen Künstlers freiesten Spielraum und war bis an die äußerste Grenze des von ihm als zulässig Erachteten zu Zugeständnissen bereit. Gerade Mozarts Kompositionen aus dieser Zeit, namentlich die Klavierkonzerte, sind ein schlagender Beweis dafür, welche hohen und echten Kunstwerke im Rahmen des alten Gesellschaftsideals möglich waren, ja sie erscheinen geradezu als die höchste Verklärung dieses alten Typus und zugleich als das Vollendetste, was Mozart innerhalb dieses Gebietes zu leisten vermochte. Vor der Gefahr der Verflachung aber schützten ihn sein Genius und die Stärke und Ursprünglichkeit seines inneren Erlebens. Als er gesagt hatte, was er in dieser Sphäre zu sagen hatte, war er, wie immer, ehrlich genug, auf bloße Schablonenarbeit zu verzichten und nahm, als ihn sein Genius auf eine andere Bahn rief, lieber das äußere Martyrium seiner letzten Lebensjahre auf sich, als daß er sich um äußerer Vorteile willen auf einen Gefühlskreis festgelegt hätte, dem er innerlich entwachsen war. Nicht das Publikum hat sich von 1786 an, wie man so oft hört, in einem Anfall von wetterwendischer Laune von seinem bisherigen ›Liebling‹ abgewandt, sondern er selbst hat im Drange seiner[65] künstlerischen Not die Pfade verlassen, auf denen ihm jenes Publikum noch zu folgen vermochte, und ist so aus einem Liebling aller zum »unheimlichen«, »romantischen«, ja zum »stillosen« Künstler geworden.

Den äußeren Verlauf dieser Tätigkeit mit ihren zahlreichen Konzerten und sonstigen Veranstaltungen haben wir bei der Besprechung von Mozarts finanziellen Verhältnissen, denen dadurch zeitweise eine erhebliche Besserung zu winken schien, bereits kennengelernt1. Hier handelt es sich nur noch darum, die einzelnen Vertreter der Aristokratie kennenzulernen, mit denen er in Verkehr trat, ohne daß sich, wie mit der Jacquinschen Familie, ein engeres Freundschaftsverhältnis angesponnen hätte.

Der Zeit und der Sympathie für Mozart nach ist hier zuerst die Gräfin Wilhelmine Thun, geb. v. Ulfeld, zu nennen, deren Gatte Franz Joseph der Sohn von Mozarts Linzer Gönner war2. Sie war nicht nur nach Rang und Besitz, sondern auch nach Bildung und Charakter eine der vornehmsten Erscheinungen im damaligen Wien und gehörte zu den wenigen Damen, die der Kaiser auch in späteren Jahren noch seiner engeren Freundschaft würdigte. Er pflegte sie des Abends uneingeladen und ganz zwanglos zu besuchen und hat noch auf seinem Totenbette in einem herzlichen Briefe von ihr Abschied genommen3. Burney rühmt an ihr, sie habe gar nichts »von dem Stolz oder der Steifigkeit« an sich gehabt, »welche unsre Reisende den Deutschen zuschreiben«, und war besonders von ihrem witzigen und ironischen Wesen entzückt4. Sie war eine äußerst wohltätige Frau und ihr Haus ein Sammelpunkt der gebildetsten Kreise Wiens. Der von ihr besonders begeisterte Georg Forster hat uns in einem Briefe an Heyne eine ganze Reihe ihrer Bekannten und Freunde mitgeteilt5, so den Hofrat von Born, Otto von Gemmingen, den Minister Fürsten Kaunitz mit seinem gelehrten Hofratvon Spielmann6, den »guten, sanften« Grafen Cobenzl und den alten Feldmarschall Grafen Hadik. Und an Therese Heyne schreibt Forster7:


Sie glauben nicht, wie herablassend, wie freundlich man ist. Kaum merkt mans, daß man unter Leuten von Stande ist, und jeden Augenblick möchte mans vergessen und sie auf dem vertrauten Fuß der gleichgebornen Freunde behandeln – betasten nenne ichs hier, wenn ich bei der Gräfin Thun bin, dem besten Weibe von der Welt, und ihren drei Grazien von Töchtern, wo jede ein Engel von einer eigenen Gattung ist. Die Mutter ist eine der vortrefflichsten Mütter, die ich kenne; die Kinder sind lauter unbefangene Unschuld, heiter wie die Morgensonne, und voll natürlichen Verstandes und Witzes, die ich so mit Stillschweigen bewundere, wie den Verstand und Witz eines gewissen lieben Mädchens an der Leine. Die[66] feinste Unterredung, die größte Delikatesse, dabei eine völlige Freimütigkeit, eine ausgebreitete Lekture, wohl verdaut und ganz durchdacht, eine so reine, herzliche, von allem Aberglauben entfernte Religion, die Religion eines sanften, schuldlosen und mit der Natur und Schöpfung vertrauten Herzens. – – Fast alle Abend zwischen neun und zehn kommen diese Leute [s.o.] bei der Gräfin Thun zu sammen, da wird allerlei witziges Gespräch geführt, es wird Klavier gespielt, deutsch oder italienisch gesungen, auch wohl, wenn die Begeisterung die Leute überfällt, getanzt.


Man sieht, es waren dieselben aufgeklärten, der Freimaurerei zugeneigten Kreise, mit denen Mozart auch sonst in Wien verkehrte. Auch die Musik wurde eifrig gepflegt. Die Gräfin selbst war eine treffliche Klavierspielerin. »Sie spielt das Clavecimble mit der Anmut, Leichtigkeit und Delikatesse, wohin nur weibliche Finger gelangen können«, meint Burney8. »Ihr Geschmack ist unvergleichlich, und ihr Vortrag leicht, nett und frauenzimmerlich.« Ihr Lieblingskomponist auf dem Klavier war damals (1772) Beecké9, der noch 1785, wie er Dalberg mitteilt, für sie und ihre Töchter eine Sonate für drei Klaviere schrieb. Auch Reichardt genoß 1783 ihren besonderen Schutz; er berichtet, daß der Kaiser und Erzherzog Maximilian ihre musikalischen Abende häufig besucht hätten10. Mozarts hat sie sich gleich nach seiner Ankunft in Wien aufs wärmste angenommen, die Entstehung der »Entführung« mit reger Teilnahme verfolgt11 und ist auch bei seinen Bemühungen um eine Anstellung bei Hofe warm für ihn eingetreten. Ihr Schwiegersohn war Mozarts Freund und Schüler, Fürst Karl Lichnowsky.

Ein anderes Haus, in dem sich Künstler und Gelehrte von Wien und auswärts trafen, war das des Hofrats Greiner, des Vaters von Caroline Pichler, die übrigens selbst eine treffliche Klavierspielerin war12 und folgende Schilderung gibt13:


Außer den Dichtern Denis, Leon, Haschka, Alxinger, Blumauer usw., welches damals berühmte Namen waren, besuchten auch Männer von strengen Wissenschaften häufig unser Haus. Überdies reiste beinahe kein fremder Gelehrter oder Künstler nach Wien, der nicht Empfehlungsschreiben an Haschka oder unmittelbar an meine Eltern hatte. So kamen der berühmte Reisende Georg Forster, die Professoren Meiners und Spittler, Becker, Gögking, der Schauspieler Schröder, viele Musiker und Kompositoren, wie Paesiello, Cimarosa zu uns; und daß die einheimischen Künstler Mozart, Haydn, Salieri, die Gebrüder Hickl, Füger und andere nicht fehlten, versteht sich von selbst.


Auch der Geh. Hofrat Franz Bernh. von Keeß (gest. 1795) erwies sich als ein eifriger Gönner von Musik und Musikern, wie er auch eine kostbare Musikaliensammlung besaß14. Die Dilettantenkonzerte im Augarten15 standen[67] unter seinem Schutz, und über die Gesellschaftskonzerte, die zweimal in der Woche in seinem Hause stattfanden, berichtet Gyrowetz16:


Die ersten Virtuosen, die sich damals in Wien befanden, und die ersten Kompositeurs als Jos. Haydn, Mozart, Dittersdorf, Hoffmeister, Albrechtsberger, Giarnovichi u.a. waren dort versammelt. Dort wurden Haydns Sinfonien aufgeführt, Mozart pflegte meistens sich auf dem Fortepiano hören zu lassen, und Giarnovichi, damals der berühmteste Virtuos auf der Violine17, spielte gewöhnlich ein Konzert; die Frau vom Hause sang. Eines Abends geschah es, daß Mozart nicht gleich anfangs im Konzert erschien und man auf ihn schon lange wartete, weil er ein neues Lied für die Frau vom Hause mitzubringen versprochen. Man schickte mehrere Bediente um ihn zu suchen; endlich fand ihn einer im Gasthause und bat ihn allsogleich zu kommen, weil alles schon seiner harrte und man sich auf das neue Lied freute. Nun erinnerte sich Mozart, daß er das Lied noch nicht komponiert hätte; er bat sogleich den Bedienten, ihm ein Stück Notenpapier zu bringen – nachdem dies geschehen war, fing Mozart im Gastzimmer an das Lied zu komponieren, und als er es fertig hatte, ging er damit in das Konzert, wo schon alles in der gespanntesten Erwartung harrte. Dort wurde er nach einigen zarten Vorwürfen über sein langes Ausbleiben auf das Freudigste empfangen; und als er sich endlich zum Klavier setzte, sang die Frau vom Hause das Lied mit einer zwar zitternden Stimme, allein es wurde dennoch enthusiastisch aufgenommen und beklatscht.


Ebenso war Mozart in dem Hause der GeschwisterMartinez ein gern gesehener Gast. Sie waren die Kinder des Zeremonienmeisters bei der apostolischen Nuntiatur Niccolo Martinez, bei dem Metastasio während seines ganzen Wiener Aufenthaltes bis zu seinem Tode (1730–1782) gewohnt hatte. Die Tochter Marianne hatte der Dichter aufs sorgfältigste ausbilden lassen18. Jos. Haydn, der nach seinem Abschied aus dem Kapellhause in einem Dachstübchen desselben Hauses kümmerlich sein Leben fristete, wurde ihr Klavierlehrer19, und auch Nic. Porpora, dessen Klavierspieler Haydn damals war, nahm an ihrer musikalischen Ausbildung teil. Später kam sie unter Bonnos Anleitung20 so weit, daß sie als Sängerin, Pianistin und Komponistin Aufsehen erregte21 und selbst von Hasse anerkannt wurde22. 1773 wurde sie Mitglied der philharmonischen Akademie zu Bologna23, später erhielt sie von dort und von Pavia sogar noch das Doktordiplom; 1782 wurde ihr Oratorium »Isacco« im Sozietätskonzert aufgeführt24. Metastasio hatte dieser seiner »santa Cecilia«25 und ihrem Bruder, der an der k.k. Hofbibliothek Bibliothekar war, sein ganzes Vermögen hinterlassen26 und sie so in den Stand gesetzt, ein großes Haus zu machen, wobei natürlich die Musik die Hauptrolle spielte. Kelly rühmt Marianne trotz ihrem vorgerückten[68] gerückten Alter als eine lebhafte und angenehme Persönlichkeit und erzählt zugleich, daß sie mit Mozart sehr befreundet gewesen sei und ihn regelmäßig zu ihren Gesellschaften zugezogen habe; er hörte ihn dabei vierhändige Sonaten von seiner Komposition mit ihr spielen27.

Wie frei und ungezwungen es in allen diesen Gesellschaften zuging, ist schon mehrfach erwähnt wor den; mochten die Themen, die man hier behandelte, gegen früher auch gewechselt haben, es lag doch über allen diesen Zusammenkünften noch ein Schimmer jener geistreichen und anmutigen Gesellschaftskunst, die sich von dem königlichen Frankreich aus allmählich die ganze gebildete Welt erobert hatte. Der Musik aber sind sie ganz ungemein zugute gekommen. Ohne sie wären die Sinfonie, das Streichquartett und die übrigen Gattungen der Kammermusik nie so rasch zur Blüte gelangt. Daneben war auch die mehrstimmige vokale Kammermusik noch nicht verschwunden: außer dem einfachen Liede treffen wir die Hauskantate sowie den mehrstimmigen Solo- und Chorgesang an. Es hatte seinen guten Grund, wenn Mozart sich in diesen Kreisen geraume Zeit besonders wohl fühlte, und nicht zufällig steht am Ende dieses Abschnittes der »Figaro«, das genialste musikalische Bild der damaligen Adelskultur.

Mozart hat bei diesen Zusammenkünften mit seinen Gaben auch nie gegeizt, er spielte, so oft man es nur haben wollte, Stücke von sich und von andern und war namentlich im freien Phantasieren unermüdlich; ja manche hochmögende Herren beklagten sich darüber, daß er allen vorspiele. Nur eines verlangte er dabei unnachsichtlich: aufmerksames Zuhören. Dieses selbstverständliche Recht des Künstlers, von dem auch heute noch so viele Laien keine Ahnung haben, nahm er ebenso nachdrücklich wie Beethoven und alle großen Musiker für sich in Anspruch. »Nichts brachte ihn so sehr auf«, sagt Niemetschek28, »als Unruhe, Getöse oder Geschwätz bey der Musik. Da geriet der so sanfte, muntere Mann in den größten Unwillen und äußerte ihn sehr lebhaft. Es ist bekannt, daß er einst mitten im Spiele unwillig von dem Klavier aufstand und die unaufmerksamen Zuhörer verließ. Dieses hat man ihm vielfältig übelgenommen, aber gewiß mit Unrecht«. War er gerade in der Laune dazu, so behandelte er Zuhörer, die ihm nicht paßten, satirisch29 oder spielte überhaupt nicht oder höchstens »Tändeleien«30, wogegen er vor wirklichen Kennern, wes Standes sie auch sein mochten, oft kaum ein Ende finden konnte. So nahm er nach seinem Leipziger Konzert den alten Violinisten Berger mit sich nach Hause, um ihm noch etwas vorzuspielen, »wie sichs für Kunstverständige gehört«, und sagte ihm dann gegen Mitternacht, plötzlich aufspringend, jetzt habe er den Mozart nach seiner Art gehört – »das übrige können andere auch«31.

Eines Aristokraten muß aber noch besonders gedacht werden, der in Mozarts Wiener Schicksalen eine höchst wichtige, wenn auch keineswegs[69] immer rühmliche Rolle gespielt hat. Gottfried Baron van Swieten war als Sohn des berühmten und einflußreichen Leibarztes der Kaiserin Maria Theresia, Gerhard van Swieten, 1734 zu Leyden in Holland geboren und mit diesem 1745 nach Wien gekommen. Er war von Hause aus Jurist und hatte sich speziell der Diplomatie zugewandt; in dieser Eigenschaft reiste er 1768 mit dem Herzog von Braganza32. Daneben aber hatte er eine, soweit es sein Temperament überhaupt zuließ, leidenschaftliche Neigung für die Musik, die er auch praktisch betätigte. Schon 1769 hatte er für Favarts »Rosière de Salency« einige Arien geschrieben, allerdings mit wenig Erfolg33. Ferner wird von acht, nach anderen sogar von zwölf Sinfonien berichtet – »so steif wie er selbst«, sagte Haydn34. Nachdem er nacheinander in Brüssel, Paris und Warschau Gesandter gewesen war, schickte ihn Joseph II. 1771 in gleicher Eigenschaft nach Berlin, wo ihm die undankbare Aufgabe zufiel, dem großen König die von Österreich als Ersatz für seine Zugeständnisse in Polen geforderte Abtretung von Schlesien mit Glatz und die Absichten seines Hofes auf Serbien und einen Teil von Bosnien mundgerecht zu machen35. Daneben aber setzte er seine musikalischen Bestrebungen fort; Nicolai lernte ihn damals als »eifrigen Liebhaber und Kenner der Musik, ja selbst als Komponisten« kennen36. Tatsächlich glaubte er in der damaligen Berliner Kunst das ihm vorschwebende musikalische Ideal erfüllt zu sehen. Der Berliner Aufenthalt wurde für seine gesamte weitere Geschmacksrichtung ausschlaggebend, und er hat fortan seine ganze Kraft dafür eingesetzt, die hier gewonnenen Eindrücke auch für Wien fruchtbar zu machen.

Das war in der damaligen Zeit ein ziemlich kühnes Unterfangen. Haben wir doch bereits gesehen, daß auch auf musikalischem Gebiete der Gegensatz zwischen Norddeutschland und Österreich recht bedeutend war. In der Oper großen Stils war das friderizianische Berlin noch damals eine der festesten Hochburgen des Italienertums vom Schlage Grauns undHasses; der König selbst war kein Freund derGluckschen Reform, deren Schöpfungen darum auch erst nach seinem Tode durch Reichardt in Berlin eingeführt wurden. Das Singspiel folgte dagegen, wie natürlich, der Hillerschen Art. Eine ganz neue Gattung, die in Wien erst später zu kunstmäßiger Ausbildung gelangen sollte, lernte Swieten in dem BerlinerLiede kennen. Was die norddeutsche Sinfonie und Sonate anbetrifft, so sind ihre Hauptmerkmale ja bereits angeführt worden37. Der Wiener Zug zum Volkstümlichen tritt hier so gut wie ganz zurück hinter der Neigung zu kunstvoller Schreibweise, die für die norddeutsche Sinfonie bis in die Romantik hinein bezeichnend ist. Der den norddeutschen Musikern überhaupt eigene Zug zum Gedanklichen, der ihren Werken den Charakter straffer Logik und Einheitlichkeit[70] verleiht, aber unter den Händen kleinerer Talente leicht ins Scholastische führte, kommt hier, wie in den Liedbestrebungen, deutlich zum Ausdruck; er zeigt sich namentlich auch in der ausgedehnten musikliterarischen Tätigkeit, die diese Künstler entfalteten. AufMarpurgs »Kunst das Klavier zu spielen« (1750–1751) folgten Quantz' »Versuch einer Anweisung die Flöte travèrsiere zu spielen« (1752) und Ph. E. Bachs »Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen« (1753, 1761). Im selben Jahre erschien Marpurgs bedeutendstes Werk, die »Abhandlung von der Fuge« (1753–1754, 1806), 1755 seine »Anleitung das Klavier zu spielen« und sein »Handbuch beim Generalbaß und der Komposition« (1755–1758). Aber auch Ästhetik und Gesang wurden bedacht: 1752 erschien Chr. Gottfr. Krauses Schrift »Von der musikalischen Poesie«, 1755 Chr. Nichelmanns Arbeit über die Melodie, 1757 J.F. Agricolas »Anleitung zur Singekunst« (eine Übersetzung des italienischen Werkes von Tosi) und 1758 Marpurgs »Anleitung zur Singkomposition«. Daneben gehen von 1751–1767 die Schriften des Theoretikers J.G. Sulzer her, während die von J. Ph. Kirnberger der Hauptsache nach erst in eine spätere Zeit fallen, so vor allem seine »Grundsätze des Generalbasses« (1781)38. Swietens ausgesprochene Verstandesnatur fand an dieser theoretischen Behandlung der Musik ungemein Gefallen. Ob er freilich ganz verstanden hat, wohin die Reise ging, ist stark zu bezweifeln. Es ist hier nicht der Ort, auf die Ästhetik der Berliner einzugehen39. Auch sie trägt den Charakter des Übergangs: Rationalistisches steht neben rein Gefühlsmäßigem, Mathematik, Ethik, Rhetorik, ja zum Teil sogar noch die mystische Symbolik des Mittelalters werden mit den ästhetischen Fragen verquickt. Im Mittelpunkt steht die Lehre von den »Affekten«, d.h. von den durch die Musik bewirkten Leidenschaften und Stimmungen, die man sich damals noch als durchaus real, nicht als scheinhaft dachte40. Daß hier Gedanken von Descartes und Spinoza wirksam sind, ist neuerdings mit Recht betont worden41; daß sich aber die Affektenlehre das ganze Jahrhundert behauptet hat und von Leuten wie Ph. E. Bach mit besonderer Liebe weitergebildet wurde, erklärt sich von selbst aus der tiefen Aufwühlung des Gefühls nach seiner Entfesselung durch Rousseau; die Affektenlehre war die gegebene Musikästhetik des Zeitalters Werthers und der schönen Seelen. Einen großen Vorzug hatte die Lehre trotz allen ihr anhaftenden ästhetischen Unklarheiten aber doch: sie ging nicht von vorgefaßten Theorien aus, sondern von der lebendigen Kunst, sie zwang die Musiker, sich an die Praxis zu halten, und nahm ihrerseits auch wieder auf die Praxis Rücksicht, indem sie eine fein verästelte Vortragslehre entwickelte, die auch heute noch in den meisten Punkten standhält. Daß in dem zu Paris zwischen Rameau und Rousseau ausgefochtenen[71] Streit über den Wert der Harmonie oder der Melodie schließlich auch in der Praxis die Melodie triumphierte, ist bekannt; es war mit einer der Hauptgründe, weshalb die Kunst Seb. Bachs so rasch aus dem Gesichtskreis des jungen Geschlechts, selbst seiner eigenen Söhne, entschwand. Die alte polyphon-kontrapunktische Kunst mußte der jüngeren melodischen weichen, die dem Ideal des »Natürlichen« besser zu entsprechen schien. Aber auch hier war der Bruch nicht vollständig, das lehrt am besten das Beispiel der norddeutschen Sinfonie mit ihrer Vorliebe für den strengen Satz.

Diese hatte zugleich aber noch einen anderen Grund, der für Swietens Geschmack und durch dessen Vermittlung auch für Mozart wichtig werden sollte. Unter den Berlinern befanden sich verschiedene Schüler und Enkelschüler Seb. Bachs, die trotz aller Ungunst der Zeit mit Wort und Tat für ihren Meister eintraten und dafür sorgten, daß wenigstens seine Klavierwerke dem Unterricht erhalten blieben. Bachsche Handschriften wurden gesammelt, und schon zur Zeit von Swietens Aufenthalt bestand in Berlin unter Führung von Marpurg42 und Kirnberger eine Bachgemeinde von steigendem Einfluß, der später besonders in der Singakademie reiche Früchte tragen sollte43. Durch diesen Kreis ist auch Swieten endgültig für Bach gewonnen worden, und wie sehr man seine Mitarbeiterschaft schätzte, lehrt die Tatsache, daß die für die Geschichte der Bachbewegung so wichtige Biographie Seb. Bachs von Forkel ihm gewidmet ist44.

Alle diese Bestrebungen fanden nun aber auch in einer Reihe von Musikvereinen eifrige Pflege, die die bürgerlichen Kreise außerhalb des Hofes umfaßten und schließlich in die 1790 von Fasch begründete Singakademie ausmündeten. Schon 1724 hatte der Klavierlehrer Friedrichs d. Gr., Gottlieb Hayne, einen Gesangverein gegründet, den 1749 Joh. Phil. Sack unter dem Namen »Musikausübende Gesellschaft« nach der instrumentalen Seite hin erweiterte45. Noch wichtiger war das 1766 von E.F. Benda und K.L. Bachmann begründete Liebhaberkonzert, das zunächst die Orchestermusik pflegte, aber auch Gesangs- und Instrumentalvirtuosen auftreten ließ und alle drei bis vier Wochen Opern oder größere Chorwerke aufführte46. Natürlich standen auf den Programmen die Lieblinge der Berliner, Hasse, Graun und Phil. E. Bach an der Spitze; wichtig aber ist, daßHändels Oratorien schon früh Eingang fanden. 1774 erwähnt Reichardt eine Aufführung des »Judas Makkabäus«47, 1781 Nicolai außerdem noch das »Alexanderfest« und den »Messias« als oft gehörte Werke48. Der »Messias« war zudem schon 1775 in Hamburg aufgeführt worden49. So ist Berlin auch schon vor der bekannten[72] Massenaufführung des »Messias« im Jahre 1786 ein Hauptort des deutschen Händelkultes geworden.

Als Swieten in Berlin weilte, war Friedr. Nicolai die Seele des Liebhaberkonzerts. Dieser vielgeschäftige Mann war ein großer Musikfreund und übte diese Kunst auch selbst aus50. Durch seine Führerstellung im geistigen Leben Berlins und seine Freundschaft mit Agricola, Marpurg und Reichardt gewann er nicht nur auf das Berliner Musikleben bald einen großen Einfluß51, sondern dank dem großen Raum, den er in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek der Tonkunst gewährte, auch auf das norddeutsche Kunstleben überhaupt. Es war kein Wunder, daß sich die Berliner selbstbewußt als eine Macht in der deutschen Musik fühlten und dies namentlich auch die Süddeutschen fühlen ließen. Die Mannheimer hatten lange darunter zu leiden, und L. Mozart konnte es mit Recht als eine große Auszeichnung betrachten, daß er von den Berlinern so gerühmt und anerkannt wurde52. Andere Wiener, wie Wagenseil und Steffan, wurden von Marpurg einfach in die Schule genommen53, und Nicolai sagte geradezu, seit Fux habe Wien zwar verschiedene gute Komponisten gehabt, aber kein ausgezeichnetes Genie vom Werte eines Seb. und Ph. E. Bach, Telemann, Graun und Hasse, bis Haydn aufgetreten sei54. Daß dabei der berechtigte Stolz gelegentlich in Selbstüberhebung, Einseitigkeit und Streitsucht ausartete und dadurch die Kluft zwischen Nord und Süd noch erweiterte, läßt sich leicht denken.

Swieten fühlte sich in dieser Atmosphäre außerordentlich wohl. Er hat sich 1773 selbst schriftstellerisch betätigt und mit seiner »Dissertatio sistens musicae in medicinam influxum et utilitatem«, einem Beitrag zu einer gerade damals wieder viel erörterten Frage, den Doktorhut der Leydener Universität erworben. Er griff aber auch selbst in das Musikleben ein, indem er bei Ph. E. Bach die sechs Quartettsinfonien bestellte (1773 in Hamburg erschienen), mit dem ausdrücklichen Wunsch, er möge ohne jede Rücksicht auf die Schwierigkeiten der Ausführung allein seinem Genius folgen55. Vor allem aber rührt aus dieser Zeit seine unbegrenzte Verehrung für den gebundenen Stil der Zeit Seb. Bachs und Händels her, die ihn zu so einem wichtigen Vermittler dieser älteren Kunst an die jüngere Wiener Generation gemacht hat. Freilich ist stark zu bezweifeln, ob er mit seiner Verstandesnatur dazu durch ein wirkliches, seine Zeit überragendes Kunstverständnis gelangt ist, oder ob jenes Eintreten für sie nicht vielmehr einen stark reaktionären Beigeschmack hat. Ein Mann wie er konnte weder die Empfindungsgröße Händels, noch die Innerlichkeit und den Tiefsinn Seb. Bachs begreifen; es war offenbar nur die scholastische Seite von deren Kunst, ihre erstaunliche kontrapunktische Meisterschaft, die ihn anzog. Trotzdem ist es ihm gelungen, sich durch die zähe Propaganda, die er für seine Ansichten trieb, und durch seinen Spürsinn für aufstrebende Talente eine wichtige[73] musikgeschichtliche Stellung zu erringen: Haydn, Mozart und Beethoven genossen die für sie nicht immer angenehme Ehre seines Schutzes. Er selbst bekennt im Dezember 1798: »Ich bin, was Musik betrifft, in jene Zeiten zurückgetreten, wo man es noch für nötig hielt, die Kunst, ehe man sie ausübte, ordentlich und gründlich zu lernen. Da finde ich Nahrung für Geist und Herz, und da hole ich Stärkung, wenn irgendein frischer Beweis von dem Verfalle der Kunst mich niedergeschlagen hat. Meine Tröster sind dann vor allen Händel und die Bache, und mit ihnen auch die wenigen Meister unserer Tage, welche die Bahn jener Muster des Wahren und Großen mit festem Fuße wandeln und das Ziel entweder zu erreichen – versprechen, oder es schon erreicht haben. Dahin wäre ohne Zweifel der uns zu früh entrissene Mozart gelanget; Joseph Haydn aber stehet wirklich am Ziele56.« Es sind die alten Klagen des auf eine bestimmte Richtung eingeschworenen Dilettanten. Charakteristisch ist, daß Mozart diesem Ideal doch noch nicht voll entsprach. Er mag dem alten Herrn tatsächlich mitunter recht unheimlich vorgekommen sein.

Etwa 1778 kehrte Swieten nach Wien zurück, wurde zunächst Präfekt der Hofbibliothek an Stelle seines Vaters und dann 1781 Vorsitzender der Studienhofkommission. Er erhielt den Auftrag, den Studienplan zu entwerfen, der dann 1783 in der ganzen Monarchie eingeführt wurde. Die Meinungen über diese seine wissenschaftliche Tätigkeit waren geteilt: man erkannte zwar seine Kenntnisse an, vermißte jedoch die Energie in der Durchführung seiner Pläne57. In der Musik dagegen ließ er es daran nicht fehlen. Als hoher Beamter, ehemaliger Gesandter, Sohn seines Vaters und nicht zuletzt als reicher Mann gelangte er im Wiener Musikleben rasch zu entscheidendem Einfluß. Er war der richtige Musikpapst (der Typus ist ja auch heute noch wohlbekannt), voll Stolz auf sein Kennertum und jederzeit mit fertigen, autoritativ vorgebrachten Kunsturteilen bei der Hand. Kein Wunder, daß die Wiener Gesellschaft vor diesem »Patriarchen« einen heiligen Respekt hatte. »Wenn er sich bei einer Akademie zugegen findet«, berichtet Schönfeld58, »so lassen ihn unsere Halbkenner nicht aus den Augen, um aus seinen Mienen (welche jedoch nicht jedem verständlich genug sein mögen) zu lesen, was sie etwa für ein Urteil über das Gehörte fällen sollen«. Wenn in einem Konzert gesprochen wurde, so erhob sich die feierliche Exzellenz von ihrem Sitze und strafte den Schuldigen mit einem strengen Blicke. Leider war Swieten im Gegensatz zu den meisten übrigen Wiener Aristokraten recht geizig. Er brachte zwar durch Sammlungen für Kunstzwecke erhebliche Mittel zusammen und steuerte auch selbst seinen Teil dazu bei, den Musikern selbst aber blieben die Taschen des reichen Mannes verschlossen. Das mußte Haydn erfahren59, und was Mozart anbetrifft, so hat ihn Swieten zwar als Künstler nach Kräften ausgenutzt, aber auch ruhig[74] in Not und Elend verkommen lassen; seine Schuld ist es endlich, daß Mozart seine letzte Stätte im Armengrabe fand60.

Überhaupt fehlte ihm den einzelnen Künstlern gegenüber recht vieles zu einem wirklichen Mäzen, vor allem die Selbstverleugnung und die Achtung vor ihrer inneren Selbständigkeit. Er war nun einmal ein Geschmackstyrann, der recht taktlos und anspruchsvoll sein konnte, wenn sich seine Schützlinge seinem Ideal nicht fügen wollten. Auch Haydn, der von den Lebenden noch am meisten Gnade vor seinen Augen fand, hat dies mitunter erfahren, wieviel mehr wird es bei Mozart der Fall gewesen sein, der nach seiner Ansicht noch so manches zu lernen hatte! Es ist sicher nicht Hochachtung vor diesem Gönner gewesen, die Mozart bestimmte, auf die ihm von jenem empfohlene alte Kunst einzugehen, sondern die Überzeugung, daß dadurch seine eigene Kunst eine Bereicherung erfuhr; dafür nahm er die Schrullen des steifleinenen alten Herrn gerne in Kauf.

Swietens Name taucht in Mozarts Briefen erstmals im Mai 1781 auf61, ein Jahr darauf, am 10. April 1782, schreibt er bereits62: »Ich gehe alle Sonntage um 12 Uhr zum Baron van Swieten und da wird nichts gespielt als Händel und Bach. Ich mach mir eben eine Kollektion von den Bachischen Fugen, sowohl Sebastian als Emanuel und Friedemann Bach.« Und zehn Tage darauf schreibt er der Schwester63: »Baron van Swieten, zu dem ich alle Sonntage gehe, hat mir alle Werke des Händels und Sebastian Bachs (nachdem ich sie ihm durchgespielt) nach Hause gegeben.« In demselben Briefe spricht er von den musikalischen Schätzen des Barons, die zwar an Zahl sehr klein, aber an Wert sehr groß gewesen seien. Er selbst ließ sich von seinem Vater für diese Zwecke sowohl seine eigenen Kirchenkompositionen als auch Werke von Mich. Haydn und Eberlin schicken. Die Aufführungen fanden im allerengsten Kreise, ohne Zuhörer statt; Swieten selbst sang Diskant, Mozart, der zugleich begleitete, Alt, Starzer64 Tenor und Anton Teyber65 Baß. Auch Klaviermusik desselben Stils wurde gemacht. Die Fugen von Eberlin, mit denen Mozart seinen Gönner ursprünglich bekannt machen wollte, schloß er allerdings nachträglich wieder aus, weil sie »gar zu geringe sind, und wahrhaftig nicht einen Platz zwischen Händel und Bach verdienen. Allen Respekt für seinen 4stimmigen Satz, aber seine Klavierfugen sind lauter in die Länge gezogene Versettl«66. Ganz deutlich zeigt sich der Wandel von Mozarts Anschauungen in einem Briefe vom 12. April 178367:


Baron van Swieten und Starzer wissen so gut als Sie und ich, daß sich der gusto immer ändert – und aber – daß sich die Veränderung des gusto leider[75] sogar auf die Kirchenmusik erstreckt hat, welches aber nicht seyn sollte, woher es dann auch kömmt, daß man die wahre Kirchenmusik – unter dem Dache – und fast von Würmern gefressen – findet.


Einen derartigen Ton hatte Mozart vorher nie angeschlagen; er beweist den gewaltigen Eindruck, den die Beschäftigung mit der alten Kunst in seiner Seele hervorgerufen hatte. Wer aber über diese Wandlung der Dinge ganz besonders entzückt war, das war Konstanze, die den Gatten alsbald zu eigenen Versuchen auf diesem Gebiete anspornte68:


Als die Konstanze die Fugen hörte, ward sie ganz verliebt darein: sie will nichts als Fugen hören, besonders aber (in diesem Fach) nichts als Händel und Bach. Weil sie mich nun öfters aus dem Kopfe Fugen spielen gehört hat, so fragte sie mich, ob ich noch keine aufgeschrieben hätte? und als ich ihr Nein sagte, so zankte sie mich recht sehr, daß ich eben das künstlichste und schönste in der Musik nicht schreiben wollte, und gab mit Bitten nicht nach, bis ich ihr eine Fuge aufsetzte und so ward sie. Ich habe mit Fleiß »Andante maestoso« darauf geschrieben, damit man sie nur nicht geschwind spiele – denn wenn eine Fuge nicht langsam gespielt wird, so kann man das eintretende Subjekt nicht deutlich und klar ausnehmen, und ist folglich von keiner Wirkung. Ich werde mit der Zeit und mit guter Gelegenheit noch 5 machen, und sie dann dem Baron van Swieten überreichen.


Konstanze brauchte nicht lange zu bitten: bald steckte ihr Gatte so tief in der alten Kunst drin, daß man vom Jahre 1782 an nicht mit Unrecht eine neue Stilperiode in seinem Schaffen datiert, die uns im einzelnen noch näher beschäftigen wird. Zunächst begann er damit, fünf Fugen aus dem zweiten Teil vonBachs Wohltemperiertem Klavier für 2 Violinen, Viola und Baß zu bearbeiten (K.-V. 405 = Bach Nr. 2, 7, 9, 8 [nach d-Moll transponiert] und 5), eine zweite Sammlung dieser Art enthält sechs weitere dreistimmige Fugen, fünf von Seb. Bach (aus dem Wohltemperierten Klavier, den sechs Orgelsonaten und der Kunst der Fuge) und eine von W. Fr. Bach; ihnen gehen sechs Adagiosätze voran, von denen aber nur zwei von Seb. Bach herrühren, die übrigen vier stammen höchst wahrscheinlich von Mozart selbst69. Umgekehrt machte Mozart zweimal den Versuch, eine Phantasie J.J. Frobergers über das Hexachordthema »ut re mi fa sol la«, die er in Kirchers »Musurgia« in Stimmen ausgesetzt fand70, für Klavier einzurichten, kam aber das erstemal nur bis zum 50., das zweitemal nur bis zum 32. Takt (K.-V. 292, Anh.). An eigenen Arbeiten im alten Stil ist zunächst die dreistimmigeFuge mit Präludium zu nennen (K.-V. 394, S. XX. 18), die er am[76] 20. April 1782 der Schwester schickte, mit der Mahnung, sie auswendig zu lernen – offenbar einer der ersten Versuche in dieser Art, ferner diec-Moll-Fuge für zwei Klaviere (K.-V. 426, S. XIX. 7), vollendet am 29. Dezember 1783, die er im Juni 1788, mit einer Einleitung versehen, für Streichquartett bearbeitete (K.-V. 546, S. XIV. 27). Eine ganze Reihe weiterer Kompositionen, die nicht datiert sind, aber ihrem ganzen Stil nach in diese Zeit gehören, ist nicht vollendet worden. Am weitesten gediehen ist die vierstimmige Fuge in g-Moll, deren letzte acht Takte Stadler ergänzt hat (K.-V. 401, S. XXII. 11). Nur auf 26 Takte brachte es eine angefangene Fuge in G-Dur (K.-V. 41, Anh.), auf 23 eine gleichfalls in G-Dur stehende für zwei Klaviere (K.-V. 45, Anh.). Von zwei weiteren sind nur die Anfänge erhalten, die besonders deutlich auf das Seb. Bachsche Vorbild hinweisen, so der einer Fuge in c-Moll (K.-V. 39, Anh.):


Im Dienste des Adels und der Gesellschaft Baron van Swieten

Im Dienste des Adels und der Gesellschaft Baron van Swieten

und einer in F-Dur (K.-V. 40, Anh.):


Im Dienste des Adels und der Gesellschaft Baron van Swieten

beide im Bachschen Giguentypus.

Sehr wertvolle Aufschlüsse über dieses Studium Händels und namentlich Bachs geben die dem in Wien befindlichen Übungsheft Mozarts beigehefteten Skizzen71, die gleich mit dem Thema des bekannten Händelschen Chores »Seht, er kommt mit Preis gekrönt« auf dem ersten Blatte beginnen;[77] auch das Fugenthema in g-Moll auf der folgenden Seite trägt Händelsche Züge72. Dann aber folgt eine Reihe Fugenskizzen von ganz unverkennbar Bachschem Gepräge, deren geistige Wurzel im Wohltemperierten Klavier ruht, man vergleiche z.B. das zweimal bearbeitete Thema einer e-Moll-Fuge:


Im Dienste des Adels und der Gesellschaft Baron van Swieten

Aber auch die alte Form der Klaviersuite hat Mozart damals mit einem Beitrag bedacht; sie ist auf die regelrechte alte Folge der vier Sätze Allemande, Courante, Sarabande und Gigue mit vorausgehender französischer Ouvertüre angelegt; freilich fehlt die Gigue, und die Sarabande ist nur bis zum sechsten Takte gediehen (K.-V. 399, S. XXII. 10). Nur der Tonartenwechsel fällt aus dem alten Stil heraus.

Aber auch abgesehen von diesem unmittelbaren Nachbilden älterer Formenmuster, zu denen übrigens auch die in den beiden Phantasien für Klavier in c-und d-Moll (K.-V. 396, 397, S. XX. 19, 20) nachwirkende Phantasie Ph. E. Bachschen Schlages gehört, durchdringt, namentlich in den Jahren 1782–1784, der alte Stil mehr oder minder Mozarts gesamtes Schaffen; besonders die a-Moll-Sonate für Klavier und Violine (K.-V. 402, S. XVIII. 37) ist nichts anderes als eine – übrigens nur zur Hälfte ausgearbeitete und später von Stadler ergänzte – Fuge mit vorausgeschickter Einleitung in A-Dur. Wir werden auf diese große Stilwandlung im allgemeinen noch in einem besonderen Zusammenhange einzugehen haben. Leicht ist sie Mozart keineswegs geworden, und mancher dieser Kompositionen merkt man deutlich den Schweiß an, den sie ihren Schöpfer gekostet hat. Charakteristisch ist auch die große Zahl der unvollendet gebliebenen Werke. An ihnen hat Mozart offenbar zunächst nur das technische Problem gefesselt, er fühlte sich dabei als Empfangender, nicht als Gebender und schrieb die Stücke mehr für sich als für andere. Wohl ist es ihm schon damals in einzelnen Fällen gelungen, sein Genie dem übermächtigen Einfluß der alten Meister gegenüber durchzusetzen, aber im allgemeinen blieb er noch ihr Schüler. Gewiß war es eine ausgezeichnete Schule für ihn, aber die Unfreiheit, die ein solches Verhältnis immer in sich birgt, ist auch bei ihm nicht zu verkennen. Es gibt keine Periode in Mozarts Schaffen, in der Altes und Neues so unausgeglichen nebeneinander stünde, wie die Jahre 1782–1784; auch bei ihm ist eine Trübung des Stilgefühls, wie sie sich bei allen derartigen Wandlungen einzustellen pflegt, nicht ausgeblieben. Ja, in den nächsten beiden Jahren, der Zeit der großen Klavierkonzerte, schien es sogar, als drängte der Geist der modernen Gesellschaftsmusik jene älteren[78] Einflüsse wieder vollständig zurück. Trotzdem arbeiteten sie im geheimen in seiner Seele weiter: als sich die Hochflut der »modernen« Strömung in seiner Kunst verlaufen hatte, wurden sie ganz allmählich wieder lebendig, und in seinen letzten Lebensjahren gelang es ihm, Altes und Neues zu einem eigenen, persönlichen Stil zu verschmelzen. Die vollendetsten Früchte der durch die Schule der alten Meister hindurchgegangenen, aber dabei doch selbständigen Mozartschen Kunst bieten z.B. das Finale der großen C-Dur-Sinfonie, die »Zauberflöte« und das Requiem.

Fußnoten

1 I 829 ff.


2 S.o.S. 34.


3 Nur die Fürstinnen Liechtenstein, Schwarzenberg und Lobkowitz genossen die gleiche Gunst. Kelly, Rem. I 209. C. Pichler, Denkw. I 141. Vehse, Gesch. d. österr. Hofes VIII 304 f. Ihr Bild bei Freissauf, Mozarts Don Juan, Taf. I. Zur Genealogie der Thuns vgl. Leupold, Allg. Adelsarchiv Wiens, Teil I 1789–1792.


4 Reise II 188, 216.


5 Sämtl. Schr. VII 272.


6 Er hatte ein Haus auf der Landstraße, seine Gattin und Tochter waren treffliche Klavierspielerinnen (Nicolai, Reise IV 554, III 37, 291).


7 A.a.O.S. 275.


8 II 160, 216. Sie sagte ihm scherzend, sie hätte früher besser gespielt, aber von den sechs Kindern, die sie geboren hätte, habe »ein jedes etwas von ihr mit weggenommen«.


9 I 454 f.


10 AMZ XV 668 f.


11 I 724. Sie starb 1800. Beethoven widmete ihr 1798 sein Klarinettentrio op. 11.


12 Jahrb. d. Tonk. 1796, S. 19, 70.


13 Denkw. I 92. Über Nicolais Angriffe gegen das Greinersche Haus vgl. Werner a.a.O. S. 153.


14 Wiener Zeitung 1796, Nr. 29.


15 I 830.


16 Selbstbiogr. (Einstein) S. 11 f. Nohl, Musikerbr. 116, 136, 145. Pohl, Haydn II 150.


17 Dittersdorf, Selbstbiogr. S. 173.


18 Cristini, Vita di Metastasio p. CCVI. De Gubernatis, Metastasio 1910, p. 194 f.


19 Pohl, Haydn I 126 f., 165 f.


20 I 646 f.


21 Burney, Reise II 181 f., 227 f., 254 f. Jahrb. d. Tonk. 1796, S. 41 f.


22 Burney II 260.


23 Mancini, Rifless. prat. sul canto fig. p. 229 f.


24 Wiener Musikzeitung 1842, S. 70. Schering, Gesch. d. Oratoriums S. 253.


25 Gerber, Altes Lex. I 888.


26 De Gubernatis p. 195.


27 Rem. I 252. AMZ 1880, 406 Anm. Ihr Leben (1744–1812) bei Gerber a.a.O. und A. Schmid, Wiener Allg. Mus.-Ztg. 1846, Nr. 128 f.


28 S. 57.


29 Rochlitz, AMZ I 49.


30 Niemetschek S. 61.


31 Rochlitz, AMZ XIV 106.


32 Zimmermann, Briefe S. 96.


33 Grimm, Corr. litt. p. 263, 314.


34 Griesinger, Biogr. Not. S. 66 f. Eine ließ Mozart aufführen (I 830).


35 Friedrich II. antwortete damals: »So etwas könnte man mir vorschlagen, wenn ich die Gicht im Gehirn hätte, aber ich habe sie nur in den Beinen.« Oncken, Das Zeitalter Friedrichs d. Gr. 1882, S. 508.


36 Reise IV 556.


37 I 65 f., 282 f.


38 Die unter seinem Namen laufenden »Wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie« (1773) stammen von J.A.P. Schulz, vgl. dessen Zeugnis bei Gerber, Neues Lex. IV 146.


39 Vgl. darüber A. Schering, ZIMG VIII 263 ff., 316 ff. Goldschmidt, Musikästhetik des 18. Jahrhunderts S. 131 ff.


40 Marpurg, Krit. Briefe über die Tonkunst II 273 stellt sogar eine Liste von 27 Affekten und ihrer musikalischen Darstellung auf.


41 Schering S. 271.


42 Vgl. Marpurgs Vorwort zur 2. Aufl. der Kunst der Fuge 1752, Ausg. der Bachgesellschaft Bd. 251, S. XIVff.


43 H. Kretzschmar, Bachausgabe Bd. 46, S. XIX.


44 Über J.S. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802.


45 C. Sachs, Musik und Oper am kurbrandenb. Hofe 1910, S. 177 f., 191.


46 M. Blumner, Geschichte der Singakademie zu Berlin 1891, S. 2 f.


47 Briefe eines aufm. Reisenden I 82.


48 Reise IV 525 f.


49 J.H. Voß, Briefe I 295 f.


50 Göcking, Fr. Nicolais Leben S. 95, 29. Schletterer, Reichardt I 97 f.


51 Burney, Reise III 58, 74.


52 I 5.


53 Krit. Briefe II 141 f.


54 Reise IV 525 f.


55 Reichardt, AMZ XVI 28 f. Wotquenne, Themat. Katalog der Werke Ph. E. Bachs 1905, S. 62.


56 AMZ I 252 f.


57 Werner a.a.O. 6, 153 f. Forster, Ges. Schr. VII 273. R. Kink, Geschichte der Universität in Wien I 539 f.


58 Thayer, Beethoven I2 355.


59 Dies, Biogr. Nachr. S. 210. Griesinger, Biogr. Not. S. 66.


60 Alle gegenteiligen Angaben (Mus. Corresp. 1792, S. 4) sind irrig. Auch Niemetschek strich in seiner zweiten Auflage die Worte: Swieten sei nach Mozarts Tode der »Vater seiner Kinder« gewesen (S. 31).


61 B II 77.


62 B II 163.


63 B II 164.


64 Starzer musizierte mit dem berühmten Lautenspieler Kohaut oft bei Swieten. Griesinger, Biogr. Not. S. 66.


65 Geb. 1754 zu Wien, wahrscheinlich ein Bruder der schon öfter erwähnten Sängerin, gestorben 1822 als k.k. Kammerkompositor in Wien. Mozart traf ihn 1789 in Dresden (B II 294).


66 B II 165.


67 B II 220.


68 B II 165. Vgl. I 816.


69 Vgl. dazu den wichtigen Aufsatz E. Lewickis, MBM 1903, Heft 15, S. 163 ff., und W. Rust in der Vorrede zum 9. Band der Bachausgabe p. XXVI. Auch WSF II 412 halten die vier Adagios für Werke Mozarts. Alle diese Bearbeitungen und Neuschöpfungen sind nur handschriftlich erhalten und fehlen in der Gesamtausgabe.


70 Daß Mozart das Kirchersche Werk bekannt war, sahen wir schon oben S. 52. Zu Frobergers Phantasie vgl. Seiffert, Gesch. der Klaviermusik S. 172, und Adlers Gesamtausgabe Bd. I, Nr. 1.


71 Von Stadler überschrieben: »Mozarts Unterricht in der Komposition 1784«, vgl. I 828. Die Skizzen sind ausführlich beschrieben von R. Lach, Mozart als Theoretiker, Denkschriften der philos.-histor. Klasse der Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien Bd. 61, 1. Abh., S. 31 ff.


72 Zwischen beiden steht eine Skizze von offenbarem Buffocharakter für eine Baßstimme.


Quelle:
Abert, Hermann: W. A. Mozart. Leipzig 31955/1956, S. 79.
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