Gent

[15] kam, mich ganz eigentlich nach dieser Glockenspielkunst zu erkundigen. Zu diesem Ende bestieg ich einen Thurm, von dem ich nicht allein ganz Gent, welche für eine der grössesten Städte in Europa[15] gerechnet wird, übersehen, sondern auch die ganze Einrichtung des Glockenspiels untersuchen konnte, insofern solches von einem Uhrwerke getrieben wird; ich sah auch hier den Carilloneur auf einer Art von Clavier spielen, dessen Tangenten die Glocken berührten, wie die Tangenten der Flügel oder Orgeln die Saiten oder Pfeifen.

Ich merkte gleich anfangs, daß die Glockenspiele hier zu Lande mehr Glocken enthielten, als irgend das stärkste Geläute in England; ich erstaunte aber über die grosse Menge von Glocken, als ich auf den Thurm gestiegen war: kurz, sie enthalten die ganze Folge oder Scala von ganzen und halben Tönen, wie ein Clavier oder eine Orgel. Der Glockenspieler war im eigentlichsten Verstande bey seiner Arbeit, und zwar recht saurer Arbeit; er war im Hemde mit losgemachten Halskragen, und in heftigem Schweisse. Er hatte ein Pedal, das an die grossen Glocken reichte, auf diesem spielte er mit den Füssen den Baß zu verschiedenen lebhaften und schweren Stücken, die er mit beyden Händen auf der Art vom Oberclavier ausführte. Dieses besteht aus Stöcken, die wie Tasten vorstehen, und weit genung von einander liegen, daß man mit einer oder der andern Hand, mit der scharfen Seite, geschwind und stark darauf schlagen kann, ohne Gefahr zu laufen, die benachbarten Tasten mit zu berühren. Der Spieler hat einen dicken ledernen Überzug über dem kleinen Finger an jeder Hand, sonst würd es ihm unmöglich seyn, die Schläge auszuhalten,[16] die er mit Gewalt auf jede Taste thun muß, wenn alle Töne deutlich über eine ganze so, grosse Stadt gehört werden sollen.

Die Glockenspiele sollen, wie man sagt, im hiesigen Lande, zu Alost erfunden seyn, und man findet solche auch hier und in Holland in ihrer grössesten Vollkommenheit. Eine gothische Erfindung ist es gewiß, und vielleicht ein barbarischer Geschmack, den weder die Franzosen, Engländer noch Italiäner nachgeahmt oder befördert haben. Der Carilloneur spielte auf mein Ersuchen verschiedene dreystimmige Stücke mit vieler Geschicklichkeit; den ersten und zweyten Diskant mit den beyden Händen auf der obern Reihe von Tasten, und den Baß mit den Füssen auf dem Pedal.

Der Carilloneur spielt viermal die Woche, Sonntags, Montags, Mittwochs und Freytags von halb bis Zwölf Uhr voll. Man hält einen eignen Uhrmacher, der das Glockenspielwerk unter seiner beständigen Aufsicht hat; hier hat er eine Wohnung im Thurme, und von ihm erhält der Carilloneur seine Besoldung. Dieser Ort und Antwerpen sind, wie die Einwohner behaupten, die berühmtesten Städte durch die ganzen Niederlande, und vielleicht in der Welt, wegen ihrer Glockenspiele.

Das Bequeme, was sich bey dieser Art von Musik befindet, ist, daß die Einwohner einer ganzen Stadt Theil daran nehmen können, ohne daß sie sich nach einem besondern Orte bemühen dürfen, um sie anzuhören. Ein geschärftes Gehör aber[17] findet einen unausstehlichen Fehler daran, daß nemlich der Spieler den Ton der Glocke nicht nach Gefallen hemmen kann, wie durch die Valveln bey den Orgeln, oder durch die Tuchläpchen in den Zungen der Flügeltangenten. Denn dadurch, daß die Töne einer Passagie unaufhörlich durch einander klingen, wird alles so undeutlich und verworren, daß es in einiger Nähe, ein unangenehmes Geklingle verursacht. Was die Glockenspiele anbetrift, die durch eine Walze gespielt werden: so kann man, nach meiner Meinung, nichts eckelhafters ersinnen; denn, Tag und Nacht, jede Stunde, sechs Monate durch, ein und eben dasselbe Stück, auf eine so steife und unwandelbare Weise spielen zu hören, erfodert diejenige Art von Geduld, die nichts in der Welt, als ein gänzlicher Mangel an Geschmack geben kann.

Gent war die erste Stadt, die ich sah, inwelcher eine deutsche Besatzung lag, oder vielmehr Truppen, die in deutschem Solde und unter deutscher Kriegszucht stunden, und ich war daher neugierig, die Regimentsmusik zu hören. Ich fand hier zwey Regimenter Wallonen, und obgleich kein General anwesend war, so machten doch jeden Abend und Morgen zwey Banden auf dem Waffen, oder Paradeplatze Musik. Das eine war eine Extra-Bande von ordentlichen Hoboisten, die aus zwey Hoboen, zwey Clarinets und zween Bassons bestund; die andre bestund aus zwanzig bey den Regimentern enrollirten Männern und Knaben. Diese hatte vier Trompetten, zwey[18] Hoboen, zwey Clarinets, zwey Tambours de Bafque, zwey Waldhörner, ein paar Cimbelbecken, drey ordentliche und eine grosse Ianitscharen-Trommel. Alle diese tönende Instrumente thaten in der freyen Luft eine sehr lebhafte und angenehme Wirkung.

Wie ich hier die Kirchen besuchte, fand ich bald, daß es nichts Ungewöhnliches sey, um ein Fenster beyzubehalten, eine Orgel in zwey Theile zu theilen. In der Jesuiter Kirche (denn hier haben die Jesuiten noch Bestand,) ist eine, nach hiesiger Landesart kleine Orgel, die eben so, in zwey Theilen auf einer Gallerie, in der Westseite angebracht ist. Ich fand nur ein Clavier, von C zu g ohne Pedal, und wenige Register. Der Ton war in der Nähe rauh und rauschend, durch die Grösse und Bauart der Kirche aber ward er dergestalt gemildert und verbessert, daß er sich in einiger Entfernung sehr angenehm hören ließ.

In der grossen Kirche Sr. Bavo accompagiren zwey Serpents und ein Contreviolon, wenn vollstimmig gesungen wird, wenn auch gleich die Orgel nicht mit geht. Hier ist die Orgel unter einen Bogen des Gewölbes, wo man an der linken Seite aufs Chor geht, angebracht, um in dem Mittlern oder breitern Gewölbe kein Orgelchor zu haben, welches oft alle Symetrie und Proportion eines Gebäudes verdirbt; denn eine Orgel, welche über die Thüre nach der Abendseite gesetzt wird, verfinstert oft die ganze Kirche, indem sie ein Hauptfenster vermacht, das der Baumeister[19] zu einem ganz andern Zwecke, als zu einer bloß äusserlichen Zierde bestimmte.

Ich ging nicht eher aus Gent, bis ich die vornehmsten Bibliotheken besucht hatte, in Hofnung, alte geschriebene Musik zu finden, die etwa das Vorgeben des Lodov. Guicciardini bekräftigen möchte, daß nemlich der Contrapunct zuerst in Flandern aufgekommen und ausgebildet worden. Allein ich fand weder in der Abtey St. Peter, (die älteste und reichste in Flandern) noch bey den Augustinern oder Dominikanern, welche ansehnliche Bibliotheken besitzen, das geringste, was zu meinem Zwecke diente.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. II]: Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, Hamburg 1773 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 15-20.
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