Mozart und die Zeitgenossen

(Nachahmung und Wesensverwandtschaft)

[132] Es ist gesagt worden, daß sich die musikalische, die geistige Entwicklung Mozarts ganz unabhängig vollzogen habe von seinem persönlichen Schicksal, in einer Sphäre, unzugänglich und in sich geschlossen über allem menschlichen und bürgerlichen Erlebnis schwebend. Das ist ganz wahr, wenn auch die allgemeine Regel bei den großen Meistern. Kunst, und besonders Musik, ist nicht etwa ein idealisiertes Spiegelbild biographischer Erlebnisse, sondern ein Reich, das seinem eigenen Gesetz folgt, wenn auch der Beauftragte, der Vollstrecker dieses Gesetzes es auf seine Weise formt. Die beiden Mediceer-Gräber in San Lorenzo zu Florenz haben gar nichts zu tun mit dem Verlust der Florentiner republikanischen Freiheit, trotz der berühmten Verse ihres Schöpfers auf die »Nacht« – sie werden als Skulpturen durch keine poetische Deutung bestimmt, sie werden durch eine solche weder vollkommener noch unvollkommener; aber sie haben natürlich sehr viel zu tun mit der gewaltigen, dunkle und schwere Gefühle wälzenden Seele ihres Schöpfers. Es ist, im Sinn der Kunst, geradezu ein Glück, daß wir so wenig Biographisches von Johann Sebastian Bach wissen, daß die Komposition der c-moll-Passacaglia oder der Chaconne, der h-moll-Arie für Alt aus der Passion des Matthäus, der dreistimmigen Sinfonia in f-moll usw. in keiner Weise mit einem[132] biographischen Datum in Verbindung gebracht werden kann – mit dem wenigen, das wir wissen, ist bereits Unfug genug getrieben worden, zum Beispiel mit der ebenso melodramatischen wie unmusikalischen Verbindung von Bachs letztem Orgelchoral »Vor deinen Thron tret' ich hiemit« (in G-dur) mit der Kunst der Fuge (in d-moll). Es ist im Sinn musikalischen Verständnisses ein Mißgeschick gewesen, daß wir soviel Einzelheiten aus Beethovens Lebensgang wissen, daß Dokumente wie das »Heiligenstädter Testament« oder die Kenntnis von seiner Taubheit, von seinem Leiden um einen ungeratenen Neffen das Bild seiner Musik verfälscht oder mindestens getrübt haben. Auch Beethovens Werk gestaltet sich und vollendet sich in einer Region, die wohl mit Leiden und Glück, mit der Leidensund Glücksfähigkeit eines großen Menschen zu tun hat, aber nichts mit bürgerlichen Ereignissen. Bei Mozart vollends ist die Beziehung von Leben und Kunstwerk ganz verborgen und geheimnisvoll. Es ist daher kein besonderes Verdienst, daß noch niemand die Komposition des Streichquartetts in d-moll (K. 421) in Verbindung gebracht hat mit der Entbindung Konstanzes von ihrem ersten Sohn, die während der Niederschrift erfolgte – obwohl (dies sei ironisch gesagt) die Tonart wohl hätte einen Anknüpfungspunkt liefern können. Und daß Mozart die g-moll-Sinfonie in einer Zeit komponiert hat, im Sommer 1788, aus der wir die ergreifendsten Notrufe um Hilfe an seinen Freund Puchberg besitzen, ist leider oder erfreulicherweise auch kein plausibler Anlaß zu »Verknüpfung von Kunst und Leben« – denn: sollte es Mozart zwar vor dem 25. Juli, da er diese Sinfonie vollendete, sehr schlecht gegangen sein, vor dem 26. Juni und 10. August aber, da die Es-dur- und die C-dur-Sinfonie fertig wurden, sehr gut? Es ist in den letzten Monaten des Jahres 1789 Mozart ebenfalls unsäglich schlecht gegangen, und doch hat er in dieser Zeit »Così fan tutte« komponiert, ein Werk reinsten Glückes und vollster Kunstseligkeit ... Die »Unzugänglichkeit« Mozartscher Musik vom Biographischen her hat denn auch in einer romantisch angehauchten Zeit zur Folge gehabt, daß man diese Musik für formenglatt, kalt, leer, spielerisch, oberflächlich erklärt hat. Aber ihre Tiefe ist nicht »poetisch«, sondern musikalisch und persönlich. Dem widerspricht nicht[133] im mindesten, daß Mozarts Werk, mit ganz wenigen Ausnahmen, Gelegenheitswerk ist, daß es bestellte Musik ist, daß es noch ganz jener Epoche angehört, in der man Opern, Sinfonien, Kammermusik nicht aus »innerem Impuls«, das heißt ins Blaue hinein komponierte. Mozart hat seine italienischen Jugendopern für Mailand, seinen »Idomeneo« für München komponiert, weil er eben dafür die »Scrittura« bekam, den Auftrag, diese Opern zu schreiben. Wenn die »Finta semplice« in Wien nicht aufgeführt wurde, so liegt das an einem besonderen Mißgeschick; und ein ganz seltener und rätselhafter Fall ist es, wenn ein offenbar für eine bestimmte Gelegenheit bestelltes Werk nicht zur Aufführung zu gelangen scheint, wie das Oratorium »La Betulia liberata«. Mozart weigert sich ebenso höflich wie entschieden, den »Rudolf von Habsburg« des Hofrats Klein zu komponieren, ehe eine Aufführung gesichert ist; und zwischen 1787 und 1789 komponiert er – zum Unglück für die Nachwelt – keine Oper, da eben keine bei ihm bestellt wird. Denn er ist außer Mode. Oper wird immer für eine besondere Gelegenheit und für bestimmte Sänger geschrieben, die Wahl der Sänger beeinflußt die gesangliche und nicht allein die gesangliche Charakteristik. Nie hat Mozart »für die Ewigkeit« geschrieben, und gerade deshalb in vielen Fällen für die Ewigkeit. Das gilt nicht bloß für seine Opern- oder Kirchenmusik, sondern auch für die Instrumentalwerke. Nur die wenigen, die veröffentlicht werden, sind ein Appell an den weiteren Kreis der Liebhaber – aber was kann man im 18. Jahrhundert veröffentlichen? Sonaten für Klavier mit begleitender Violine (op. I, II, III, IV des Wunderkinds; dann das neue Opus I von 1777/78 und die Sonate in A, K. 526); Sonaten, Rondos und Variationen für Klavier; Streichquartette (die zehn letzten); Klaviertrios, Klavierquartette, ein paar Lieder und Tänze – im ganzen nicht mehr als 18 Opuszahlen. Nur ganz wenige Sinfonien Mozarts und nur einige Klavierkonzerte sind zu seinen Lebzeiten gedruckt worden, und jene nur in Stimmen, keines in Partitur. Veröffentlichung war gleich Verbreitung in Abschrift. Mozart muß viel und vieles schreiben, um dem täglichen Bedürfnis zu genügen. Und trotzdem er vom Hauptwerk zum Nebenwerk schreiten muß, vom Nebenwerk wieder zum[134] Hauptwerk schreitet, besteht die Einheit dieses Gesamtwerkes, seine Logik, seine Konsequenz, sein Fortschreiten von bescheidenem Beginn bis zu herrlichem Ende.
Mozart begann als Wunderkind, das der Welt nicht bloß als Virtuose auf dem Klavier (und auch als Geigenspieler) vorgeführt wurde, sondern auch als Improvisator und frühreifer Komponist; Wunderkinder müssen immer auf der Höhe ihrer Zeit stehen. Und Mozart kam dieser Forderung nach durch seine erstaunliche Fähigkeit der Nachahmung, Aneignung und Verarbeitung des ihm Gemäßen. Er ist gebildet worden durch seine Reisen, durch die Besuche in München und Wien, durch den langen Aufenthalt in Paris und London – zwei Orten, an denen man gleichermaßen das Neueste verlangte. Er hat da eine solche Menge von Musik gehört und eine solche Menge wechselnder Eindrücke empfangen, daß man immer wieder staunt über seine Empfänglichkeit und Widerstandskraft – seine Fähigkeit, das ihm Sympathische sich anzueignen, das ihm Widerstrebende abzustoßen. Er findet ihm Sympathisches bei kleineren Zeitgenossen, ihm Antipathisches bei größeren und großen, genau so wie umgekehrt; vielen Eindrücken gegenüber bleibt er gleichgültig. Der wichtigste Zeitgenosse für ihn ist zunächst der Vater, der Komponist Leopold Mozart. Und an diesem Komponisten erweist sich sofort das Gesetz der Sympathie und des Widerstandes. Alle väterliche Autorität bewirkt nicht, daß Wolfgang aus der Musik Leopolds mehr annimmt, als er brauchen kann. Wobei allerdings auch die Zugehörigkeit zu zwei ganz verschiedenen Generationen ihre Rolle spielt. Denn Leopold war aufgewachsen im Zeitalter des Basso continuo, er steckt noch in der absterbenden Generalbaßzeit, die der Sohn in seinem Lied »Die Alte« so köstlich parodiert. Sein Opus I, die von ihm selbst gestochenen Sonaten für zwei Violinen und Basso continuo von 1740, behandelt den Baß noch ganz im alten Sinn als bloße harmonische Stütze, als Lakaien der Komposition; diese Sonaten sind verflachte, heruntergekommene letzte Nachläufer der Epoche Vitalis, Legrenzis und Corellis. Zehn Jahre später schreibt Leopold ein Trio im allermodernsten Stil, ein Trio für Klavier, Geige und Violoncello, in dem das Klavier[135] das führende Instrument ist und das Streicherpaar so wenig zu sagen hat, daß man es ohne großen Schaden für die Komposition weglassen kann. Leopold bemüht sich krampfhaft, ein moderner, »galanter« Komponist zu werden: dies Bestreben zeigt sich noch mehr als in diesem Klaviertrio in den drei Klaviersonaten, die der Nürnberger Verleger J. Ulrich Haffner, dem Taufnamen nach vielleicht ein Landsmann Leopolds, in den Jahren 1762 und 1763 von ihm gedruckt hat. Sie sind von einem typischen »Unschick« – ein provinzialer Schulmeister steckt hinter ihnen, der modisch erscheinen möchte. Man darf gar nicht daran denken, daß fünf Jahre vorher ein Meister des Klavierstiles gestorben war, mit Namen Domenico Scarlatti! Aber Leopold hat den Stilübergang von 1740 bis 1760, den weder Scarlatti noch Bach und Händel mitzumachen hatten, am eigenen Leib vermutlich schmerzhaft erfahren. Wenn man diese Sonaten Leopolds mit dem Ohr des jungen Wolfgang zu hören versucht, so haften ein paar Ähnlichkeiten: – Taktfolgen in der Alt-Lage des Instruments; die Menuett-Episode, eingeschoben ins Finale einer Sonate, derer in F-dur; Schlußwendungen wie (Andante der B-dur-Sonate):
Mozart und die Zeitgenossen

Dergleichen hat der kleine Mozart nicht nur im Werk des Vaters gehört, es ist eine galante Wendung der Zeit; aber beim Vater begegnete sie ihm zuerst und war sie ihm sicherlich am eindrucksvollsten. Im übrigen aber ist das musikalische Naturell bei Vater und Sohn Mozart so verschieden wie das menschliche. Das Gesetz der musikalischen Vererbung wird in diesem Falle so eklatant zuschanden, daß man für diesen Gegensatz Mutter Mozart verantwortlich gemacht hat; aber ebenso gut hätte man Mutter Mozart des Ehebruchs mit dem Gott Apoll beschuldigen können. Denn Leopold ist ein Augsburger oder Salzburger Komponist, halb rationalistisch, halb »popular«, während Wolfgang niemals rationalistisch und niemals popular ist, sondern[136] göttlich, königlich und aristokratisch. Das Salzburgerische in Leopold besteht nicht bloß darin, daß er Stücke für das jedem Besucher Salzburgs bekannte »Hornwerk« (eine mechanische Orgel) auf der Feste Hohensalzburg geschrieben hat – Stücke »deren eins täglich ... morgens und abends gespielet wird«. Das Salzburgische und Augsburgische sind nah verwandt, und man hat in beiden Städten vermutlich seinen Spaß gehabt an den groben naturalistischen oder realistischen Orchesterwerken, durch die sich Leopold in seiner Zeit am bekanntesten gemacht hat: die »Schlittenfahrt«, die »Bauernhochzeit«, die »Jagd«, die »Sinfonia burlesca«, das »Divertimento militare«. Diese Stücke haben ihre Augsburger Vorahnen in den Kompositionen, die vermutlich ein fränkischer Mönch, Pater Valentin Rathgeber, zwischen 1733 und 1746 anonym unter dem Titel »Augsburger Tafelconfect« herausgegeben hatte – Stücke voll bajuvarisch-schwäbischer grober Sinnlichkeit und volkstümlichen Humors, Lieder, Duette, Terzette und Quartette mit Begleitung; besonders derbe Quodlibets, eine »Bettel-Zech«, eine ordinäre »Ju-den-Leich« (ein jüdisches Begräbnis), Sauf- und Freßszenen usw. Dieser Realismus hat es Leopold angetan; und wer seine ehrenfesten Briefe kennt, würde niemals darauf schließen, daß derselbe Mann als Komponist an dergleichen Plattheiten seinen Spaß gehabt hat.
Dagegen Wolfgang! Nur in dem Jugendwerk, das zur Unterhaltung am Haager oder Donaueschinger Hof geschrieben ist, dem »Galimathias musicum«, findet sich ein Anklang an das Augsburgerische in Rathgeber und Leopold. Leopold geht fast ganz auf im »Popularen«; für Wolfgang ist das Salzburgische im besonderen und das Volkstümliche im allgemeinen immer ein Objekt, manchmal des Spaßes, manchmal auch größern Ernstes. Niemals nimmt er es auf in seine Erfindung, wie das Haydn tut; niemals ist er »volkstümlich«; immer ist da ein Abstand, ein Dualismus; hie der Aristokrat Wolfgang Amadeus; dort das bäurische Kind oder Landmädchen, zu dem der Kavalier sich neigt wie in den Zeiten der ritterlichen Minnepoesie der Ritter zu der Schäferin. Man hat Mozart im Gegensatz zu Haydn, dem Jäger und Fischer und musikalischen Naturkind, einen Stubenkomponisten geheißen – er ist aber ein Aristokrat, der[137] das »Volk« wohl kennt, aber sich mit ihm nicht vermischt. Wie Mozart sich das »Populäre« denkt, hat er in einer Charakteristik seiner drei ersten Klavierkonzerte in Wien ausgedrückt (28. Dez. 1782): »Die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht – sind sehr Brillant – angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da – können auch kenner allein satisfaction erhalten – doch so – daß die nichtkenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum ...«
Leopold hat sicherlich gefühlt, daß ihm als einem »ernsten«, wahrhaft ernst zu nehmenden Komponisten das Beste fehle: der Impuls, der göttliche Funken. Er weiß, er kommt als Vorbild nicht oder nur wenig in Betracht; so greift er nach fremden Mustern. Und er tut es im pädagogischen Sinn: er legt 1762 für Wolfgang ein Notenbuch an, dessen Nummern er zu fünfundzwanzig Suiten ordnet: manche ganz kurz, nur aus einer Arie und Musette bestehend, andere länger, wie etwa die vierzehnte: »Aria – March – Menuet – Aria – Gigue – Polonaise de Mons. Hasse.« Jede Suite beginnt mit einer Aria, der Leopold immer einen erbaulichen oder moralischen Text meist aus der »Neuen Sammlung geistlicher Lieder« des Grafen Heinrich Ernst zu Stolberg-Wernigerode unterlegt. Man hat sich gewundert sowohl über den norddeutschen Charakter dieser Sammlung, in der als Komponisten die Hamburger Telemann und Philipp Emanuel Bach, der Dresdner Hasse, der Hallenser Gottfried Kirchhoff, der Nürnberger Balthasar Schmidt genannt sind; die Lieder alle von den Braunschweigern Graefe und Hurlebusch – und gewundert auch über die »Unmodernität« der Stückchen, von denen viele fast dreißig Jahre alt waren. Aber modische Stücke neuesten Datums mit galanten, »liederlichen« Bässen waren in Salzburg und im Haus Mozart genügend vertreten, sie brauchten nicht gesammelt zu werden, und es ist ziemlich kindlich, anzunehmen, daß das nun die ausschließliche musikalische Nahrung für den kleinen Mozart gewesen wäre. Nein, es waren Modelle eines Stils melodischer Gediegenheit und gediegener Bezogenheit von Melodie und Baß; daneben zur Erheiterung ein paar Tänze, Mourquis, eine »Schmiede-Courante«, ein Waldhorn-Stück. Nach diesen Vorbildern[138] hat Mozart seine ersten kindlichen und doch so ernsthaften Stückchen für Klavier geschrieben, in denen der Baß seinen so sicheren Weg geht, Menuette, ein Allegro, den Beginn oder vielmehr ersten Teil eines Andante, das schon mehr eine selbständige Träumerei des Knaben ist als ein Übungsstück.
Aber mit solchen Übungsstücken in einem Stil der vorangehenden Generation mischen sich, schon in der Salzburger Zeit, vor dem Antritt der großen Reise, »galante« Sätze, mit Bässen in einer Folge von Akkordbrechungen, ein glitzernder See, auf dem das Boot ebenso galanter, spitzer, brillanter Melodie schaukelt. Es bedurfte nicht erst des Aufenthalts in München, Ludwigsburg, Mannheim, Brüssel und Paris, um Mozart mit dergleichen bekannt zu machen. In Paris freilich trifft der Knabe eine Reihe von Musikern, die ihm etwas Neues bieten und mit deren Werken er sich sehr ernstlich beschäftigen muß. Leopold hat sie uns genannt und die Situation der Musik in Paris historisch ziemlich genau beschrieben (1. Febr. 1764): »... hier ist ein beständiger Krieg zwischen der Italiänischen und französischen Musik. Die ganz(e) französische Music ist keinen Teufel werth; man fengt aber nun an grausamm abzuändern, die franzosen fangen nun an stark zu wanken, und es wird in 10 bis 15 Jahren der französische geschmak, wie hoffe, völlig erlöschen. Die teutschen spielen in Herausgaabe ihrer Composition den Meister. Darunter Mr: Schoberth, Mr: Eckard, Mr: Honnauer fürs Clavier, Mr: Hochbrucker und Mr: Mayr für die Harpfe, sehr beliebt sind. Mr. le grand ein französischer Ciavierist, hat seinen goût gänzlich verlassen, und seine Sonaten sind nach unserm geschmackt. Mr: Schoberth, Mr: Eckard, Mr: Le grand und Mr: Hochbrucker haben ihre gestochne Sonaten alle zu uns gebracht und meinen Kindern verehret ...«, fährt Leopold fort. Und es versteht sich von selber, daß M. Wolfgang Mozart verpflichtet war, ebenfalls das Neueste nach dem Pariser Geschmack zu bieten, das heißt diese deutsch-französischen oder französisch-deutschen Musiker nachzuahmen. Wie und wie weit er das im einzelnen getan hat, das möge der geneigte Leser nachlesen in dem Mozart-Werk von Th. de Wyzewa und G. de Saint-Foix, mit dem unser Buch nicht wetteifern will und kann: es bedürfte des gleichen Umfangs wie der dieses Werks, um[139] Zustimmung oder auch Widerspruch zu begründen. Vielleicht ist dies Werk, das die durch Jahn in schiefe Bahn geleitete und nach Jahn so sehr verkümmerte Mozart-Forschung aufs neue mit Leben erfüllt hat, in zu rationalistischem Geist gedacht: Mozart hat viel mehr gehört und angenommen und abgestoßen, als wir wissen; seine Seele war im Anhören zu aktiv, lebendig, schöpferisch, als daß ihre Formung sich auch nur halbwegs nachrechnen ließe. Was uns angeht, ist der Charakter dieser Formung und Bildung im allgemeinen: das Sympathische oder Antipathische der Modelle, das Wachstum unter günstigen oder ungünstigen Verhältnissen; die Kraft und das Tempo dieses Wachstums; die Blüten und Früchte.
Von den Modellen, die Leopold nennt, haben auf Wolfgang die Werke des Mannes am tiefsten und nachhaltigsten gewirkt, gegen den persönlich Leopold die kräftigste Antipathie äußert, dieses »niederträchtige Schoberth« mit »seiner Eifersucht und seinem Neid« auf das arme Nannerl, das angeblich die schwierigsten Stücke Schuberts und Eckardts ebenso gut spielte wie diese Virtuosen selber. Mozarts erste beiden Opera, je zwei Sonaten für Klavier und sehr wenig obligatem, weil nachkomponiertem Violinpart, folgen im äußeren Gewand und in der inneren Haltung vor allem dem Modell Schoberts. Aber die Nachahmung ist seinem Alter gemäß, sie ist kindlich und wahrhaftig, sie enthält sich gewisser Virtuositäten und Überschwenglichkeiten Schoberts, der mehr war als ein Pariser Modekomponist. Ja, Schobert bot, was die Pariser von 1760 verlangten: »Geschmack«, Grazie: Grazie in der melodischen Erfindung, Geschmack in der Figuration, etwa in der Gewichtsverteilung von Triolen und Sechzehnteln, in den Varianten bei »Redicten« (echoartigen Wiederholungen). Aber er verfügt über mehr: nämlich über echte Leidenschaft, Ernst, Fatalismus. Eine Sonate, die in d-moll beginnt (op. XVI 4), endet auch in d-moll: dies ist eine Wesensverwandtschaft, die erst bei dem späteren Mozart zutage tritt, ebenso wie die Erinnerung an den Beginn eines Schobertschen Klavierquartetts (op. VII 1) erst nach Jahren Mozarts Phantasie wieder befruchtet:
Mozart und die Zeitgenossen

Mozart und die Zeitgenossen

[140] Ebenso wie hier, etwa zwanzig Jahre später, Mozart den Johann Schobert an Spannung, Energie, Kraft hundertmal übertrifft, so bleibt er als Kind hundertmal unter ihm. Schoberts Kunst hat Tiefen und Überraschungen, die ein Knabe von acht Jahren nicht verstehen und nachahmen konnte; und Schobert kam von der polnischen Grenze, er war Schlesier, und so schreibt er manchmal Polonaisen – meist als Mittelsätze – von einem nationalen Charme, dem der junge Mozart nur seine kantablen, aber melodisch neutralen Menuetts entgegensetzen kann. Manchmal freilich schreibt Mozart auch einen Satz wie das Adagio der D-dur-Sonate (K. 7), das aus seiner innersten Seele geflossen ist: über ruhig dahinziehendem Baß singt das Klavier eine träumerische Melodie, in der Gesangslage des Violoncells klopft es leise in Triolen, und die Geige wirft kleine Zärtlichkeiten in jeden Takt. Und die letzte dieser vier Sonaten in G (K. 9) sprengt bereits, namentlich in der Durchführung des ersten Satzes, das aus dem Vorbild geschöpfte Schema.
Schoberts Bild ward, für die nächste Zeit, bald überschattet, als Mozart nach London kam. London war damals, auf dem Felde der Sinfonie und des Klavierkonzertes, die Stadt zweier[141] deutscher Meister, Karl Friedrich Abels (1725–1787) und Johann Christian Bachs (1735–1782), beide im Dienst der Königin Charlotte und vereint die Begründer von Abonnementskonzerten, die im Londoner Musikleben zwischen 1764 und 1782 die wichtigsten Ereignisse brachten. Wie sehr Abel den jungen Mozart interessierte, dafür haben wir das Dokument in der Es-dur-Sinfonie, die früher als eine Jugendarbeit von Mozart selber galt (K. 18), sich aber – dank Wyzewa und Saint-Foix – als eine Kopie nach Abels Opus VII, 6 entpuppt hat; und zwar hat der Knabe sie vor der Veröffentlichung, aus dem Manuskript in Partitur gesetzt. Aber Abels Einfluß tritt rasch zurück vor dem Johann Christian Bachs, der sich auch persönlich für den Knaben interessiert zu haben, ja ihn sehr geliebt zu haben scheint. Und Mozart gab ihm diese Liebe zurück. Johann Christian ist – vielleicht mit Ausnahme Joseph Haydns – der einzige Musiker, über den in Mozarts Briefen kein absprechendes Wort fällt. Er setzt den Text einer von Johann Christian komponierten Arie neu für Aloisia Weber, die Geliebte, und schreibt (28. Febr. 1778): »... Ich habe auch zu einer übung, die aria, non sò d'onde viene etc. die so schön vom Bach componirt ist, gemacht, aus der ursach, weil ich die vom Bach so gut kenne, weil sie mir so gefällt, und immer in ohren ist; denn ich hab versuchen wollen, ob ich nicht ungeacht diesen allen im stande bin, eine Aria zu machen, die derselben vom Bach gar nicht gleicht? – sie sieht ihr auch gar nicht, gar nicht gleich ...« Wenige Monate später, wenn Mozart in Paris ist, trifft auch Johann Christian Bach ein, um eine Oper (»Amadis«) vorzubereiten, und Mozart schreibt nach Hause (27. Aug. 1778): »... Mr. Bach von london ist schon 14 täge hier, er wird eine französische opera schreiben – er ist nur hier die sänger zu hören, dann geht er nach London, schreibt sie, und kommt, sie in scena zu setzen; – seine freüde, und meine freude als wir uns wieder sahen, können sie sich leicht vorstellen – vielleicht ist seine freude nicht so wahrhaft – doch muß man ihm dieses lassen, daß er ein Ehrlicher Mann ist, und den leüten gerechtigkeit widerfahren läßt; ich liebe ihn (wie sie wohl wissen) von ganzem herzen – und habe hochachtung für ihn, und er – das ist einmahl gewis, daß er mich so wohl zu[142] mir selbst, als bey andern leüten – nicht übertrieben wie einige, sondern Ernsthaft – wahrhaft, gelobt hat ...« Und als, am 1. Januar 1782, Johann Christian zu London stirbt, schreibt Wolfgang aus Wien folgenden kurzen, aber für ihn sehr vielsagenden Nekrolog (10. April 1782): »... sie werden wohl schon wissen daß der Engländer Bach gestorben ist? – schade für die Musikalische Welt!«
Der »englische« oder »Londoner« oder »Mailändische« Bach war der elfte und jüngste Sohn des großen Johann Sebastian und, wie die zeitgenössischen Bewunderer Johann Sebastians und der älteren Söhne, Wilhelm Friedemanns und Karl Philipp Emanuels annahmen, ein »entartetes« Kind. Denn als er, der Liebling des Vaters, der Zuchtrute Philipp Emanuels in Berlin und Potsdam entwachsen war, ging er nach Italien in die Dienste eines Conte Litta in Mailand, studierte Kontrapunkt – nicht mehr Johann-Sebastianischen Kontrapunkt! – bei dem Padre Martini in Bologna und wurde mit fünfundzwanzig Jahren Domorganist in Mailand, was nicht möglich war, ohne daß er katholisch wurde. Der Sohn des Thomas-Kantors Katholik! Der Sohn des Schöpfers der »Kunst der Fuge« und der Matthäus-Passion ein »galanter« Komponist, der italienische Opere serie, Kantaten, Kanzonetten, Sinfonien, Sonaten für reine Dilettanten – nicht wie sein Bruder C. Philipp Emanuel »für Kenner und Liebhaber« – schreibt und im ganzen ein Modekomponist ist vom reinsten Wasser! Denn das ist er und bleibt er, als er sich 1762 nach London wendet und die englischen und französischen Stecher mit einer unabsehbar breiten Produktion in Nahrung zu setzen beginnt. Trotzdem oder vielmehr gerade deshalb hat er den tiefsten Eindruck auf den jungen Mozart gemacht, einen viel tieferen als der ältere und ernstere Bruder, Philipp Emanuel. (Friedemann wird eine kleine Rolle für Mozart erst in der Wiener Zeit spielen.) Niemtschek, der erste Biograph Mozarts, hat von ihm gesagt: »Emanuel Bach, Hasse und Händel waren seine Männer; ihre Werke sein unablässiges Studium!« Nun, was Hasse betrifft, so ist das höchstens wahr für den »italienischen« Mozart, den Mozart der ersten Wiener Messen und der Mailänder Opern; und was Händel betrifft, so gilt es nur für den[143] späten, den Wiener Mozart, der Händelsche Oratorien für den Baron van Swieten aufführungsgerecht zu machen hat. Aber für Philipp Emanuel gilt es überhaupt nur im alleräußerlichsten Sinn. Wohl, Mozart hat ein Stück aus Philipp Emanuels »Musicalischem Mancherley« (1762/63) als Finalsatz für ein Klavierkonzert (K. 40) eingerichtet, neben ähnlichen Stücken von Eckardt, Schobert, Raupach, Honnauer; er hat am Schluß seines Lebens eine Arie Philipp Emanuels neu instrumentiert. Aber im ganzen muß ihm Philipp Emanuels Art im Innersten widerstrebt haben. Denn Philipp Emanuel ist der wahre musikalische Repräsentant des Zeitalters der »Empfindsamkeit«. »Mich deucht, die Musik müsse vornehmlich das Herz rühren, und dahin bringt es ein Clavierspieler nie durch bloßes Poltern, Trommeln und Harpeggieren, wenigstens bei mir nicht«, hat Philipp Emanuel in seiner Selbstbiographie gesagt (in der deutschen Ausgabe von Charles Burneys »Musikalische Reisen«, Hamburg 1773, p. 209). An sich ist das Mozart aus der Seele gesprochen; aber es kommt an auf die Darstellung der »Rührung des Herzens«; auf die Art, wie sie sich musikalisch manifestiert. Bei Philipp Emanuel ist diese Rührung eine hemmungslose Exhibition der eigenen Gerührtheit in den langsamen Sätzen, und in den schnellen eine Exhibition des Geistreichen, der Überraschung, der Pointe. Das soll keine Formel sein für die Kunst Philipp Emanuels; es gibt keine Formel für einen so merkwürdigen und vielseitigen Musiker, dessen Schaffen sich, in einer Zeit revolutionären Übergangs, über fünfzig Jahre lang erstreckt; für einen so bewußten Meister, der nie ganz vergaß, daß er der Sohn des großen Johann Sebastian war. Aber es sind zwei typische Charakterzüge, die Mozart antipathisch waren. Je älter Mozart wird – und er wird sehr früh alt, da er ja sehr früh sterben muß –, um so tiefer verhüllt sich sein Gefühl; um so weniger ist er bereit, um einer Pointe, einer Überraschung willen die Logik der Form aufzuopfern, wie Philipp Emanuel das so häufig tut. Einmal in seinem späteren Schaffen hat er Philipp Emanuel nachgeahmt, in dem Rondo K. 485, das er bezeichnenderweise nicht in seinen thematischen Katalog aufgenommen hat. Eine Schalkhaftigkeit verbirgt sich hinter diesem wohlbekannten und so sehr aus dem Rahmen von[144] Mozarts Schaffen fallenden Stück. Denn Mozart hat in ihm die Brüder Johann Christian und Philipp Emanuel vereinigt. Das Thema findet sich in Johann Christians Quintett in D, op. XI, Nr. 6, dem Churfürsten Karl Theodor gewidmet (zirka 1775), an auffallender Stelle, nämlich als Seitenthema:
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Aber behandelt hat es Mozart gänzlich in der Manier der Rondos, die Philipp Emanuel 1780 und 1783 in seinen »Claviersonaten und Freye Fantasien nebst einigen Rondos fürs Fortepiano für Kenner und Liebhaber« herausgegeben hatte. Nur erteilt er Philipp Emanuel eine Lehre – oder vielmehr er ist nicht imstande, es geht wider seine Natur, es Philipp Emanuel in all den Überraschungen, Erwartungspausen, Pointen, empfindsamen Koketterien dieser Rondos nachzutun. Er ist voll Geist, aber er liebt nicht Geistreichtum; und auch in diesem Stückchen à la Philipp Emanuel zeigt er mehr seine Liebe für den Erfinder des Themas, Johann Christian. Der wahre Nachahmer oder Adept Philipp Emanuels unter den sogenannten Wiener Klassikern ist nicht Mozart, sondern Joseph Haydn, und auch er nur im Rahmen einiger seiner Klaviersonaten, fast niemals im Quartett, fast niemals in der Sinfonie. Dagegen besteht zwischen Johann Christian Bach und Mozart, um einen Ausdruck der Leibnizschen Philosophie scherzhaft anzuwenden, eine prästabilierte Harmonie, eine wundersame Verwandtschaft der Seelen. Auch eine Verwandtschaft der Erziehung, der Mischung nördlicher und südlicher Elemente. Es ist ja kein Zufall, daß weder Friedemann noch Philipp Emanuel nach Italien gegangen sind, wohl aber Johann Christian und später Mozart. Mozart fühlt den Zauber dieser Mischung, bevor er selber nach Italien kommt. Johann Christian ist vollkommen zum Italiener geworden, und wenn man bei seinen »Spitznamen« die Wahl zu treffen hätte zwischen dem »Mailänder« und dem »Londoner« Bach, so wäre der erste[145] weit vorzuziehen, denn er hat das Milanesische, die Leichtigkeit, das Buffoneske im Instrumentalen, die Süßigkeit der Melodie nach England importiert, das sich, konservativ wie es war, noch immer von dem altklassischen Stil der Corelli, Veracini, Geminiani, Händel nährte. Aber so vollkommen zum Italiener Johann Christian geworden ist, er ist doch von anderem Kaliber als die Mailänder, Venezianer, Neapolitaner. Es liegt nicht an der Schule Padre Martinis, der nur »gelehrten« Kontrapunkt lehren konnte, nicht lebendige Polyphonie, wenn er auch für die lebendige Polyphonie der Palestrinazeit Verständnis hatte, sondern – und das ist nicht etwa zur Genugtuung der »Rasseforscher« gesagt – man ist nicht ungestraft der Sohn Sebastians, der Zögling Philipp Emanuels. Die »Galanterie« Johann Christians ist nicht immer und sogar nur selten Seichtigkeit. Man hat Johann Christian einen »Mozart ohne Seele« genannt, mit dem gleichen Recht oder Unrecht, mit dem man Perugino einen »Raffael ohne Seele« nennen könnte. Auch er muß, so wie Schobert für den Pariser Salon, so für den englischen Drawing Room arbeiten und darf eine gewisse Grenze der Leidenschaft oder Seriosität noch viel weniger überschreiten als Schobert. Leopold hat es einmal angedeutet, als er den Sohn ermahnte, etwas »Gangbares« für den Pariser Geschmack zu komponieren – das sei keine Herabwürdigung der Kunst (13. Aug. 1778): »... schreibe etwas ... das muß Dich ja bekannt machen. Nur Kurz – leicht – popular ... glaubst Du Dich vielleicht durch solche Sachen herunter zu setzen? – keinesweegs! hat dann Bach in London iemals etwas anders, als derley Kleinigkeiten herausgegeben? Das Kleine ist groß, wenn es natürlich – flüßend und leicht geschrieben und gründlich gesetzt ist. Es so zu machen ist schwerer als alle die den meisten unverständlichen künstlichen Harmonischen progressionen, und schwer auszuführenden Melodyen. hat sich Bach dadurch heruntergesetzt? – keines wegs! Der gute Satz, und die ordnung, il filo – dieses unterscheidet den Meister vom Stümper auch in Kleinigkeiten ...«
Leopold hat mit diesen Sätzen Johann Christian vortrefflich charakterisiert. Nur hat er darin unrecht, daß er dessen Opus V, sechs Klaviersonaten, die während des Aufenthalts (genauer:[146] am Ende des Aufenthalts) der Mozarts in London erschienen, als »Kleinigkeiten« bezeichnete. Denn dann hätte er auch sämtliche Klaviersonaten seines Sohnes, die vor 1777 entstanden sind, als »Kleinigkeiten« bezeichnen müssen. Das Vorbild dieser Sonaten schwebt Mozart immer vor Augen, und es ist nicht nur die Ähnlichkeit der melodischen Erfindung, etwa von Johann Christians Opus V, 3:
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oder noch mehr von Opus XVII, 4, etwa 1778 erschienen:
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Mozart und die Zeitgenossen

sondern die tiefe innere Verwandtschaft der geistigen und musikalischen Haltung: der Anmut, die doch nicht gänzlich bar ist tieferen Gefühls; der sanften Gewalt der Wegleitungen von Thema und der Zurückleitung zu ihm; das natürliche Wachstum aus sich folgenden Einfällen oder Gedanken, von Leopold sehr gut bezeichnet als »il filo«, eine Folge, die nie kokett oder pointiert ist wie bei Philipp Emanuel. In einer[147] c-moll-Sonate (op. V, 6) hat Johann Christian sogar ein Problem zu lösen versucht, das um 1766 und 1767 und noch lange nachher weit über den Horizont des Knaben Mozart hinausging; die Verbindung des »gelehrten« und »galanten« Stils, eine Folge, bestehend aus einer Introduktion (Grave), einer ausgearbeiteten Fuge und einer, trotz der Molltonart, sehr graziösen Gavotte – eine Art von Verschmelzung italienischen, deutschen und französischen »Goût's«. (Damit soll keineswegs gesagt sein, daß Wolfgang nicht bereits damals mit der Fuge vertraut gewesen wäre: der Gelehrte Daines Barrington hat uns überliefert, daß Mozart eine von Johann Christian begonnene und abgebrochene Fuge weitergeführt und abgeschlossen habe.)
Der junge Mozart fühlt, daß Johann Christian den Weg gegangen ist, den er selber gehen sollte: aus nördlicher Region in eine südliche – nach Italien – und aus der südlichen wieder zurück in die nördliche. Es ist eine neue, ideale Heimat, in der nur harmonisch gestimmte Menschen sich wohlfühlen. Johann Christian Bach hatte es leichter als Mozart, sich in dieser neuen Heimat anzusiedeln, weil er nicht dessen reizbare, fatalistische Gemütsart besaß; Mozart hatte es leichter, weil er in Johann Christian einen gleichgestimmten Vorgänger fand. Und zwar einen Vorgänger, beinahe ebenso universal wie er selber, denn Johann Christian war ihm ein Vorbild nicht nur auf dem Felde des Instrumentalen, der Klaviersonate, der Sonate mit Violine, des Klaviertrios, des Klavierkonzerts, der Sinfonie, sondern auch auf dem des Vokalen, der Aria, der Opera seria. Aber wir sollten vielleicht nicht sagen: Vorbild. Auch wenn Mozart die Absicht gehabt hätte, Johann Christian zu imitieren, so wäre das Ergebnis etwas ganz anderes gewesen als Imitation. Mozart ist, als er von Johann Christian Bach in London sich ganz gefangennehmen läßt, schon mit der leidenschaftlicheren Seele Schoberts in Berührung gekommen; und so zeigen die sechs Sonaten Opus III, die er im Januar 1765 der englischen Königin Charlotte widmet, nicht bloß in wechselnder Mischung Schobertsche und Johann Christiansche Einflüsse, sondern in wachsendem Maß: Mozart selber. Mozart benutzt seine Modelle quasi als Sprungbrett – er fliegt höher und kommt weiter. Das ist[148] keine Mozartsche Eigentümlichkeit; dergleichen findet sich auch bei Bach und Beethoven. Bach hat geradezu eine Neigung, nicht selber zu »erfinden«, sondern ein Thema eines Vorgängers oder Zeitgenossen zu leihen und in sein polyphones Erdreich zu verpflanzen. Was bei jenen, etwa bei Albinoni, Legrenzi, Corelli, nur ein Bäumlein wird oder bei diesem, etwa J.C.F. Fischer, nur eine Blüte, das wird bei ihm ein gewaltiger Baum, mit mächtigem Stamm, breit nach allen Seiten ausladenden Ästen, Blättern und Früchten. Bei Beethoven ist die Vorliebe für ein »Sprungbrett« entsprungen aus der Lust am Wetteifer und aus Übermut, und das Objekt seines Übermutes ist meistens Joseph Haydn, seltener Mozart. Dennoch bestehen Spuren dieses Verlangens nach »Rivalität« zwischen dem Finale der Achten Sinfonie und dem aus Mozarts Salzburger Sinfonie von 1779, K. 319, oder, um ein allbekanntes Beispiel anzuführen, zwischen Beethovens Klavierquintett op. 16 und Mozarts Klavierquintett K. 452 – wenn auch Beethoven im allgemeinen solche Rivalitäten mit Mozart scheut, weil er fühlt, daß bei Mozart wenig zu »übertreffen« sei. Zwischen Beethoven und Haydn aber häufen sich solche Beziehungen und sind oft sehr entlegen – wie zwischen Eroica und »Schulmeister«-Sinfonie.
Mozarts Naturell liebt ein anderes Verfahren. Er gibt sich einem Einfluß ganz unbefangen, ganz weiblich hin. Was er am wenigsten anstrebt, ist Originalität, weil er des Mozartschen, des persönlichen Gepräges seines Produktes ganz sicher ist. Es ist nicht das »Facile inventis addere«, was ihn treffen könnte; dieser Spruch gilt ja nur für die Wissenschaft oder die Technik. Bei ihm ist die Anlehnung eine Befruchtung, die den Verlauf der geistigen, musikalischen Schwangerschaft und Geburt erleichtert. Wir sind geneigt, einen Teil der Notenbeilagen zu Jahns Biographie mit einiger Scheu oder Besorgnis zu betrachten – da wird das Misericordia Mozarts (K. 222) seinem Modell, dem Benedixisti Domine des Salzburger Meisters Eberlin gegenübergestellt; der spanische Fandango aus den »Nozze« einem Ballettstück aus Glucks Ballett »Don Juan«, die Geisterstimme des Komturs dem Orakel aus desselben Gluck »Alceste«, das Duett Donna Annas und Don Giovannis dem entsprechenden Duett aus Gazzanigas »Convitato di[149] pietra«. Aber Mozart benutzt solche »Sprungbretter« wenn nicht ganz naiv, so doch ganz unbefangen. Warum ganz von vorne anfangen, wenn ein anderer schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt hat? Mozart ist ein Traditionalist; es liegt nicht in seiner Absicht, etwas unter allen Umständen Neues zu machen. Er will es nicht anders machen, sondern besser.
Nichts ist mehr geeignet, das Gesetz der musikalischen Sympathie und Antipathie klarzumachen, dem Mozart folgt, als sein Verhältnis zu Gluck. Das persönliche Verhältnis der Mozartschen Familie zu Gluck war: mißtrauische Zurückhaltung. Als sich, im Sommer 1768, in Wien der Aufführung der »Finta semplice« Wolfgangs Hindernisse entgegenstellten, sah der Vater in Gluck einen der Hauptschuldigen (30. Juli 1768): »... alle Compositores, darunter Gluck eine Hauptperson ist, haben alles untergraben, um den fortgang dieser opera zu hindern ...« Offenbar hatte Leopold die vorgefaßte Meinung von Gluck als einem großen Intriganten; aber Gluck war nur ein großer Diplomat und hat in der Aufführung der Opera buffa eines Knaben – ein Feld, das er selber gar nicht bebaute – sicherlich keine Benachteiligung gesehen. Wir haben bereits erwähnt, daß Leopold dem Sohne während des Pariser Aufenthaltes jeden Umgang mit Gluck geradezu untersagte. In Wien gerät Gluck ungewollt unserm Wolfgang wirklich in die Quere: die Vorbereitungen der »Alceste« und »Iphigenie auf Tauris« Ende 1781 verhindern eine Aufführung des »Idomeneo« in Wien, an die Mozart denkt und für die er das Werk »mehr auf die französische Art eingerichtet« haben würde, das heißt im Gluckschen Stil. Und die gleichen Aufführungen verlangsamen die Fertigstellung der »Entführung«. Mozart trägt es Gluck nicht nach; er besucht zwar nicht die eigentliche Aufführung der »Iphigenie« am 23. Oktober 1781, aber fast alle Proben, und für das Wohlgefallen, das Gluck an der »Entführung« an den Tag legt, bedankt sich Mozart durch die Improvisation von Variationen über ein Thema (»Unser dummer Pöbel meint« K. 455) aus Glucks »Pilgern von Mekka«. Gluck besuchte am 11. März 1783 das Konzert Aloisias, in dem Mozart unter anderm sie die Arie »Non sò d'onde viene« singen ließ und seine Pariser Sinfonie wieder hervorholte, und Gluck war so entzückt,[150] daß er die Ehepaare Mozart und Lange für den nächsten Sonntag zum Essen einlud. Es muß ein denkwürdiges Mahl gewesen sein. Und die Gefühle Mozarts für Gluck hatten sich sicherlich gewandelt seit dem Tage, da er dem Vater ganz trocken schrieb (27. Juni 1781): »Den Gluck hat der Schlag gerührt, und man redet nicht gut von seinen gesundheitsumständen.« Er war nicht dumm genug, um nicht die Größe der Persönlichkeit des gewaltigen Mannes zu erkennen und anzuerkennen.
Trotzdem bleibt er im Wesentlichen und Innersten von Glucks Wesentlichem und Innerstem ganz unberührt. Er entlehnt von ihm gewisse Wirkungen der Opera Seria, er erkennt die Stärke und Gewalt der Gluckschen Chorszenen; und er bewundert ihn als Melodiker: der Fandango in den »Nozze« ist nicht der einzige Beweis, daß er den »Don Juan« Glucks genau gekannt hat, auch das Finale des Streichquartetts in d-moll ist Blüte aus einem Gluckschen melodischen Samen. Als das »Gluckischeste« in Mozarts Werk, als Ganzes genommen, könnte höchstens das Singspiel des Knaben gelten, »Bastien und Bastienne«, das sich berührt mit der von Gluck gepflegten Opéra comique, wenn auch nicht mit einem bestimmten Werk Glucks auf diesem Gebiet. Und es ist handgreiflich, daß Beziehungen bestehen zwischen Glucks »türkischer Oper«, den »Pilgern von Mekka«, und der »Entführung aus dem Serail«. Aber ein wirklicher Vergleich zwischen Gluck und Mozart ist möglich nur auf dem Gebiet der Opera seria. Und da findet sich, daß Gluck und Mozart im Grunde ganz unvergleichbar sind. Denn der Dramatiker Mozart ist am größten nicht auf dem Gebiet der Opera seria, sondern auf dem des italienischen Dramma giocoso; und dies Gebiet war nun wiederum Gluck vollkommen verschlossen. Warum es ihm verschlossen war, habe ich an einer andern Stelle anzudeuten versucht, in meinem kleinen Buch über Gluck (The Master Musicians, London, J.M. Dent, 1936): er hatte nicht die Fähigkeit, in Ensembles, in Introduzioni und Finales, die Handlung weiterzurücken, die Charaktere mit einem leichten Pinselstrich zu färben, ihnen blitzschnell sinnliche Gegenwart zu verleihen – eine Fähigkeit, die Mozart im höchsten Maß besaß. Glucks Verfahren war[151] rationalistisch. Er gab in einer Aria nur einen einzigen wesentlichen Charakterzug seiner Figuren, einen weiteren in einer andern Arie, und erst die Summierung dieser Züge ergab das volle runde Charakterbild. Und er ist vielleicht gerade deshalb zum »Reformator« der Opera seria geworden, weil ihm das »Ventil« der Opera buffa fehlte; er wollte und mußte auf seinem eigensten Gebiete die Handlung vereinfachen, vermenschlichen, alle musikalischen Glieder: Arien, Chöre, Ballettstücke, Ouverture und Zwischenspiele in neue Bewegung versetzen und in neue Beziehung bringen. Und dabei änderte sich auch die Beziehung von Wort und Ton, von Drama und Musik. Es ist nicht ganz wörtlich zu nehmen, wenn Gluck äußerte: vor dem Beginn der Komposition einer Oper vergesse er zunächst, daß er Musiker sei. Er wollte damit nur zum Ausdruck bringen, daß er für sein Werk die sinnliche Fülle, die Präponderanz der Musik nicht gebrauchen könne, die seine operndramatische Absicht ersticken würde. Und großer Diplomat, der er war, hat er eine Tugend gemacht aus einer seiner Schwächen, der Kargheit seines musikalischen Naturells, der Mühe, die er hatte, den monumentalen Stil seiner Generation zugunsten eines beweglicheren, flüssigeren zu überwinden. Die rationalistisch gestimmte Zeit, mit ihrem puristischen Ideal von Griechentum und Antike, verlangte die Reform der Oper; Gluck war prädestiniert, diesem Verlangen entgegenzukommen.
Mozart hat nicht das mindeste Bedürfnis, die Oper zu »reformieren«, das Verhältnis zwischen Drama und Musik zu ändern. Von dem Knaben ist nichts anderes zu verlangen. Er nimmt die Libretti seiner ersten Opere serie, des »Mitridate« und des »Lucio Silla« sowie des Festspiels »Ascanio in Alba« – alle segelnd im Fahrwasser Metastasios – wie er sie geliefert bekommt, und komponiert sie ohne den mindesten Skrupel, ohne sich des »Orfeo« oder der »Alceste« zu erinnern, die er beide kannte. Noch weniger Skrupel macht er sich bei den folgenden dramatischen Gelegenheitsarbeiten, dem »Sogno di Scipione« oder dem »Re pastore«. Aber auch der »Idomeneo« ist nicht gluckisch, trotz Chören und Orakel. Er ist gerade die Oper Mozarts, in die er am meisten Musik investiert hat, eine überwältigende Fülle von Melodik, eine überwältigende Fülle[152] von musikalisch-sinnlicher Gegenwart. Wir haben eben, aus seinen Briefen an den Vater, gesehen, daß er die Rivalität dieser Oper mit Glucks »Alceste« oder »Iphigenie« durchaus nicht scheute, daß er sie nur ein wenig französisieren, gluckisieren wollte, zwar: in deutscher Übersetzung, die Rolle des Idomeneo für Baß statt Tenor, die des Idamante für Tenor statt Sopran, und mit andern »mehreren Veränderungen«, aber unberührt im Kern. Seine dramatische Wahrheit ist eine andere als diejenige Glucks. Für Mozart ist Musik die Hauptsache und der Dichter lediglich da für den Musiker. Das Verhältnis, das Equilibrium von Drama und Musik ist bei ihm ein ganz andres als bei Gluck – es ist eine Verschmelzung zu gemeinsamem Strome, und manchmal ist die Fülle und Gewalt der Musik so groß, daß der Strom das Schifflein der Oper auch trägt, wo die Handlung versagt. Darüber wird bei »Don Giovanni« gesprochen werden müssen. Mozart ist imstande, ohne viel Ästhetisieren Opera seria und Opera buffa zu vermischen: wer denkt, beim Anhören des »Don Giovanni« oder der »Nozze«, darüber nach, daß auf die Ermordung des Komturs ein buffonesker Dialog, auf die Arie im Seriastil wie »Non mi dir« das Finale »Già la mensa è preparata« folgt; daß sich in den »Nozze« soviel ungebändigte, echte Leidenschaft kundtut wie des Grafen »Vedrò, mentr'io sospiro«? Bei Gluck fehlt im Singspiel durchaus die Tragik und in der Seria durchaus der Humor; darin ist nun er viel »stilreiner« als Mozart.
Am Ende seines Lebens wird Mozart selber noch einmal »stilrein« im Sinn der Opera seria, der »Clemenza di Tito«. Glucks ganzer Kampf hatte der metastasianischen Oper und ihrer höfischen Konventionalität gegolten; Mozart greift für eine Hoffestlichkeit noch einmal nach einem Libretto Metastasios, das allerdings durch den sächsischen Hofpoeten Caterino Mazzolà umgearbeitet wird »zu einer wahrhaften Oper« – »a vera opera«, wie Mozart sich in seinem thematischen Verzeichnis ausdrückt. Aber nicht zu einer »Reform-Oper«. Mozart liebt es nicht, zu reformieren oder gar zu revolutionieren. Er traut sich zu, im gegebenen Rahmen das Letzte, das Richtige zu sagen. Er vermeidet die Gewaltsamkeit. Und Gewaltsamkeit war, wenn irgendeine, eine der Grundeigenschaften Glucks.[153] Der zeitgenössische Meister, von dem nächst Johann Christian Bach Mozart am meisten gelernt hat, ist der ältere der beiden Brüder Haydn, Joseph Haydn. Auch von Michael Haydn, dem jüngeren, hat Mozart viel Anregung empfangen – Michael war seit 1762 erzbischöflicher Orchesterdirektor in Salzburg und später Konzertmeister und Organist am Dom; und seine Frau, Maria Magdalena Lippin, hat oft genug in Werken des jungen Mozart mitwirken müssen. Die Familie Mozart verfolgte das Privatleben Haydns und seiner Gattin mit kritischen Blicken; die Briefe sind voll von abfälligen Bemerkungen über Madame Haydns Neigung zum Schuldenmachen und Michaels starke Vorliebe für Bier und Wein und über seine bäurischen Manieren (Wolfgang findet ihn zwar »trocken und glatt«) – siehe etwa Leopolds Bemerkung vom 29. Juni 1778, als Michael beim Orgelspiel im Dom, bei einem feierlichen Tedeum, sich die Wirkungen eines kleinen Rausches leistete: »... Haydn wird sich in wenigen Jahren die wassersucht an Hals sauffen, oder wenigst, da er itzt zu allem zu faul ist, immer fäuler werden, so wie er älter wird ...« Das hindert nicht, daß Mozart Vater und Sohn für den Musiker Michael Haydn die größte Hochachtung hegen; daß Wolfgang schon als Kind sich für Michaels kräftige, »deutsche« Menuette interessiert, in München Haydnsche Quintette mitspielt, der Vater die Zwischenaktmusiken zur »Zaire« Voltaire-Haydns rückhaltlos lobt; daß Wolfgang eine Sinfonie Haydns mit einer Introduktion versieht und zur Aufführung bringt und schließlich für ihn, während des Salzburger Aufenthalts von 1783, die beiden Duos für Violine und Viola (K. 423 und 424) komponiert, die uns über sein »intelligibles« Verhältnis zu Michael die beste Auskunft geben. In besonderer Hochschätzung stand bei Vater und Sohn der Kirchenkomponist Michael Haydn, der Kontrapunktist; und in seinem Bericht über die Salzburger Musikverhältnisse an den Padre Martini rühmt Mozart Haydn und Adlgasser als »due bravissimi contrapuntisti«. Diese Hochschätzung hält bei Wolfgang an bis in die ersten Wiener Jahre, bis er einen noch bessern Kontrapunktisten kennenlernt oder vielmehr mit wahrer Polyphonie Bekanntschaft macht, nämlich mit der – Johann Sebastian Bachs.
[154] Aber nicht bloß die Sinfonie, die er mit einer Introduktion versehen hat, gibt davon Zeugnis, daß er das Schaffen Michaels sehr aufmerksam verfolgte. Wir verdanken der Anregung durch Michael vielleicht die Entstehung der Trias der großen Sinfonien Mozarts von 1788. Zwar für die g-moll-Sinfonie gibt es nicht nur kein Modell, sondern auch kein »Sprungbrett« als bei Mozart selber. Aber bei der Es-dur-Sinfonie hat für den ersten Allegrosatz vermutlich der Beginn einer Sinfonie Michaels vom 14. August 1783 – damals war Mozart in Salzburg und hat das Werk vielleicht kennengelernt – die Anregung gegeben:
Mozart und die Zeitgenossen

Und ebenso steht es mit Haydns »Adagio affettuoso« und Mozarts Andante. Und ganz gewiß besäßen wir nicht das Finale der Jupiter-Sinfonie in seiner besonderen Gestalt, in seiner kontrapunktischen Haltung, ohne ein »Fugato« betiteltes Finale einer C-dur-Sinfonie Michaels, datiert 19. Februar 1788. Hier ist kein Zweifel möglich.
Mozart und die Zeitgenossen

[155] Und wer noch an einen Zufall glauben sollte, der sehe das rhythmische Motiv, das zuerst in den Hörnern auftaucht:
Mozart und die Zeitgenossen

oder ein Gegenmotiv zum Hauptthema:
Mozart und die Zeitgenossen

– ferner das Spiel der Synkopen, die Einführung von rapiden Achtelgruppen; den Kontrapost all dieser Motive. Aber freilich: es sind nur Anregungen, nichts weiter. Eine Welt trennt beide Sätze: der Michael Haydns der »gelehrte«, wenn auch kräftige und gesunde eines wackeren Meisters, der sein Handwerk versteht; der Mozarts eine wundersame Verschmelzung der Stile, aber darüber hinaus die Krönung sinfonischen Lebenswerks, Triumph und Selbstbestätigung in einer allem Irdischen unzugänglichen Sphäre. Mozart konnte von Michael Haydn im tieferen Sinne nichts lernen. Ganz anders steht es um Mozarts Verhältnis zu Michael Haydns älterem und größerem Bruder. Von Michael Haydn war äußerlich viel zu lernen, und er konnte eine Reihe von Vorbildern für Mozartsche Werke liefern. Joseph Haydn aber war eine der großen Musikerpersönlichkeiten der Zeit, mit der man sich auseinandersetzen mußte und die nur wieder Mozart als ganze Persönlichkeit beeinflussen konnte. Nun darf man nicht vergessen, daß Haydn, obwohl ein Vierteljahrhundert älter als Mozart, sich langsam und spät entwickelt hat, während Mozart ein Wunderkind war. Haydn ist kaum fünf Jahre vor Mozart öffentlich hervorgetreten, und er muß viel mehr als ein Zeitgenosse und – Nachfolger Mozarts gelten denn als ein Vorgänger. Aber er war der wichtigste Zeitgenosse für Mozart. Es ist sehr merkwürdig und bezeichnend, daß im Briefwechsel zwischen[156] Vater und Sohn der Name Haydn nicht vor den Wiener Jahren auftaucht. Aber das beweist durchaus nicht, daß Leopold und Wolfgang das Schaffen des stillen Musikers in Estoras oder Eisenstadt nicht mit Aufmerksamkeit verfolgt hätten. Auf dem Gebiet der Oper hatte er ihnen freilich nichts zu sagen, um so mehr aber auf den Gebieten der Kammermusik, der Sinfonie und vielleicht auch der Kirchenmusik. Schon bei dem Wiener Besuch von 1768 muß Mozart Bekanntschaft gemacht haben mit einigen Haydnschen Sinfonien, die ihren Weg nach Wien gefunden hatten, und ein paar Jahre später haben Haydns sechs Quartette op. 20, die 1771 erschienen waren, tiefen Eindruck auf Wolfgang gemacht – er hat sie in den sechs in Wien im August und September 1773 komponierten Quartetten K. 168 bis 173 sofort nachgeahmt. Und zehn Jahre später ahmt Mozart Haydn wieder nach – einen andern Haydn, der inzwischen den großen Schritt vom halb »galanten«, halb »gelehrten« Quartettstil zum »Quatuor dialogué« gemacht hatte, in seinen »Russischen Quartetten« von 1781. Mozart schreibt zwischen 1783 und 1785 seine sechs großen Quartette op. 10 und widmet sie »seinem teuren Freund Haydn«, von dem er das Quartettschreiben erst gelernt habe. Er liebt und empfiehlt den neuen Quartettstil selbst in Haydns Schülern, zum Beispiel bei Ignaz Pleyel, auf dessen neu erschienene Quartette er den Vater aufmerksam macht (24. April 1784) mit der Bemerkung: »Gut – und glücklich für die Musik, wenn Pleyel seiner Zeit im Stande ist, uns Haydn zu remplaciren!« (Es ist dann freilich nicht Pleyel geworden, sondern Beethoven.) In seinen ersten Wiener Jahren notiert er sich die Themen von drei Sinfonien Haydns (47, 62, 75), entweder um sie aufzuführen oder um sie genauer anzusehen – es sind zufällig drei Sinfonien von besonders kantabler Haltung.
Über das Verhältnis Mozarts zu Haydn im einzelnen wird in diesem Buche noch viel die Rede sein; und es soll hier nur von beiden als Persönlichkeiten im allgemeinen gesprochen werden. Sie waren sehr verschieden. Mozart war eine Treibhausfrucht. Und das größte Wunder an dem Wunderkind Mozart ist, daß es sich zu dem großen, harmonischen Schöpfer Mozart auswuchs. Haydn war nichts weniger als ein Wunderkind, und[157] es ist das größte Wunder, daß aus dem verprügelten Chorknaben von St. Stefan, dem Lakaien bei Niccolo Porpora, dem bescheidenen und armen Wiener Gelegenheitskomponisten, nicht ein Heurigen-Musikant oder, im besten Fall, ein Chorregent an einer der zahlreichen Wiener Kirchen geworden ist, sondern der große Haydn. Mozart hatte in Frankreich, England, Italien tausend musikalische Anregungen erfahren; Haydn geriet aus Wien zuerst in die ländliche Zurückgezogenheit Niederösterreichs und dann aus einer böhmischen Ecke in eine ungarische, aus der er nur selten herauskam: Besuche in Wien wurden zu Ereignissen. Haydn holte alles aus sich selbst. Er wird »originell«, lange bevor es in der Dichtung der Zeit »Originalgenies« gab.
Mozart hat sich bei Haydn mit dessen »Originalität« auseinanderzusetzen, er, der der größte Meister des Stils oder vielmehr aller musikalischen Stile ist. Originalität ist Stillosigkeit. Sie besteht bei Haydn darin – nicht daß er das, was wir Folklore nennen, als unverarbeiteten Stoff in seine Komposition hineinwirft, sondern daß er volksmäßig unbekümmert erfindet. Er ist ein Revolutionär. Seine frühesten Quartette, op. 1 und 2 und 3, beweisen, daß er den Zauber und die Süßigkeit italienischer Melodik sehr gut gekannt hat; aber auf die Dauer gibt er sich mit Galanterien nicht mehr ab. Auch in die italienische Kammermusik und Sinfonik war seit Pergolesi buffonesker Geist eingedrungen; aber er lehnt auch diese immer noch »galante« Witzigkeit ab und ersetzt sie durch seinen eigenen Witz, der derb, gesund, lustig und doch geistvoll ist. Sein Menuett ist nicht zierlich, sondern bäurisch, kräftig, natürlich. Die Musik fällt aus ihrem stilistischen Rahmen, manchmal mit großem Gepolter. Das ist Haydn von vielen seiner Zeitgenossen gewaltig übelgenommen worden, namentlich von den Berlinern, die von »Herabwürdigung der Kunst« sprachen, von dem »Lustigmacher« Joseph Haydn. Was Haydn ärgerte, aber nicht hinderte, auf seinem Weg weiterzugehen. Mozart nahm Haydn nichts übel, er war selber zu süddeutsch, um Haydns großartige Unbekümmertheit um »Stil« und Zeitgeschmack nicht zu verstehen; aber er nahm von ihm nur an, was seinem musikalischen Naturell gemäß war. Er ist kein[158] Revolutionär, sondern ein Erfüller. Wir werden später, in einem besonderen Kapitel, sehen, wie verschieden der Begriff der Tonalität für beide Meister ist: für Mozart ist der Kreis der »möglichen« Tonarten viel enger als für Haydn, aber diese wenig zahlreichen Tonarten sind viel weitere, reichere, fruchtbarere Gebiete, haben viel umfänglichere Grenzen. Und so wird Mozart doch zum kühneren und sensibleren Harmoniker: Haydn verfügt wohl über alle sieben Farben des Regenbogens, aber nicht über die irisierende Palette Mozarts. Haydn ist ein Liebhaber der Natur; er holt sich seine Anregungen aus Bewegung in freier Luft; er belauscht die Bauern bei ihren Lustbarkeiten; die »Schöpfung« und die »Jahreszeiten« sind voll von Beobachtungen und Impressionen, die nur ein Landbewohner gewinnt. Mozart hätte nie zwei solche Werke schreiben können. Er ist, wie oben bereits gesagt ist, ein »Stubenmensch«, dessen Musik ihre Anregung nur wieder aus Musik selber empfängt. Es ist eine »filtrierte« Kunst; eine Kunst vergeistigter Sinnlichkeit, versinnlichten Geistes. Sie wird durch die Berührung mit Haydn nur um so mozartischer.
So ist denn auch Mozart von den Zeitgenossen nicht verstanden worden, indes Haydn, ebenfalls vielfach mißkannt, seinen Triumph und seine Popularität noch erlebt hat. Wir haben dafür die Dokumente im sogenannten Alten Lexikon des Ernst Ludwig Gerber, Fürstlich Schwarzburg-Sondershausischen Kammermusikus und Hoforganisten, eines verständigen und wohlwollenden Mannes. Er rühmt den Sinfoniker Haydn mit sehr schönen Worten: »Alles spricht, wenn er sein Orchester in Bewegung setzt. Jede, sonst bloß unbedeutende Füllstimme in den Werken anderer Componisten, wird oft bei ihm zur entscheidenden Hauptparthie. Jede harmonische Künstelei, sei sie selbst aus dem Gothischen Zeitalter der grauen Contrapunctisten, steht ihm zu Gebote. Aber sie nimmt statt ihrem ehemaligen steifen, ein gefälliges Wesen an, sobald Er sie für unser Ohr zubereitet. Er besitzt die große Kunst, in seinen Sätzen öfters bekannt zu scheinen. Dadurch wird er trotz allen contrapunctistischen Künsteleien, die sich darinne befinden, populair und jedem Liebhaber angenehm ...« Mozart dagegen ist leider nicht »populair«. Nicht einmal als Klavierspieler und[159] Klavierkomponist erringt Mozart die Palme. Gerber sieht den Nachfolger des größten Klaviermeisters der Zeit in seinem Landsmann Johann Wilhelm Häßler, einem gefälligen Talent, aber mit Mozart ebenso unvergleichbar wie etwa Czerny mit Beethoven. Es ist nicht ohne Reiz, erst Mozarts eigenes unbestochenes Urteil über Häßler zu hören, dem er auf der Reise nach Berlin im Frühjahr 1789 beim russischen Botschafter in Dresden begegnete (16. April):
»... Nun mußt du wissen daß hier ein gewisser Häßler (Organist von Erfurt) ist; dieser war auch da; – er ist ein schüller von einem Schüller von Bach. – seine force ist die Orgel, und das Clavier (Clavichord) – Nun glauben die Leute hier, weil ich von Wienn komme, daß ich diesen Geschmack und diese Art zu spielen gar nicht kenne. – ich setzte mich also zur Orgel und spielte. – Der fürst Lichnowski (weil er Häßler gut kennt) beredet ihn mit vieler Mühe auch zu spielen; – die force von diesem Häßler besteht auf der Orgel in füßen, welches, weil hier die Pedale stuffenweise gehen, aber keine so große Kunst ist; übrigens hat er nur Harmonie und Modulationen vom alten Sebastian Bach auswendig gelernt, und ist nicht im Stande eine fuge ordentlich auszuführen – und hat kein solides Spiel – ist folglich noch lange kein Albrechtsberger. – Nach diesem wurde beschlossen noch einmal zum russischen Gesandten zu gehen, damit mich Häßler auf dem fortepiano hört; – Häßler spielte auch. – auf dem forte piano finde ich nun die Auerhammer eben so stark; du kannst dir nun vorstellen daß seine schaale ziemlich sank ...« Nun aber vergleiche man Gerber: »Häßler (Joh. Wilhelm) Musikdirector am Conzert und Organist an der Barfüßerkirche zu Erfurt, ist geboren daselbst, am 29. März 1747. Dieser mein Landsmann, auf den ich stolz bin, ist gegenwärtig unstreitig einer unserer größten und stärksten Klavier-und Orgelspieler in Deutschland. Seine Fertigkeit, mit der er nicht allein seine eigenen Werke, sondern auch jede andere Composition, ohne alle Vorbereitung, vom Blatte abfertigt, ist zum Erstaunen. Noch hinreißender wird er, wenn er sich vor dem Claviere, oder der Orgel, dem ganzen Feuer seiner Fantasie überläßt, und die Ohren seiner Zuhörer, vermittelst[160] unendlicher Figuren, Nachahmungen und Passagien, durch das ganze unübersehbare Feld der Harmonie führt. Sein Witz, sein Feuer und die unumschränkte Macht seiner beiden Hände über das ganze Griffbrett, sind dann ohne Vergleichung. Mit aller dieser Kunst verbindet er in beiden Händen eine Deutlichkeit und eine Präzision im Ausdruck, welche auch die kleinsten und unbedeutendsten Gruppen, durch accentuierte Noten, zu erheben weiß. So tätig sich aber seine Hände auf den Tasten zeigen und so heftig die Instrumente öfters unter selbigen ertönen; so angenehm weiß er den Zuhörer durch seine sanfte und zärtliche Tenorstimme zu überraschen, die er nicht bloß beim Claviere hören läßt, sondern vermittelst welcher er ganze Rollen, auf die rührendste Art, mit dem strengsten Ausdrucke, auszuführen weiß.
Noch ist dies nicht sein ganzes Verdienst. Auch denen, die nie Gelegenheit haben, ihn selbst in seinem Spiele zu bewundern, muß er in seinen Werken, als Componist, ebenso schätzbar sein. Und seine Jugend gibt uns ein Recht, in ihm den Verlust unseres großen Clavierkomponisten, Eman. Bachs, mit der Zeit, wieder ersetzt zu sehen. Schon vereinigt er in seinen neueren Clavierwerken, auf eine glückliche Art, die Bachische mit der Haydnischen Manier. Wie sollte wahren Musik- und Clavierliebhabern, wenn er diesen Weg noch weiter verfolgt, wohl noch etwas an seinen Klaviersachen zu wünschen übrig bleiben?« Mozart dagegen geht, laut Gerber, einen gefährlichen Weg: »Dieser große Meister hat sich durch seine frühe Bekanntschaft mit der Harmonie so tief und innig mit selbiger vertraut gemacht, daß es einem ungeübten Ohre schwer fällt, ihm in seinen Werken nachzufolgen. Selbst geübtere müssen seine Sachen mehrmals hören. Ein Glück für ihn, daß er noch jung, unter den gefälligen und tändelnden wienerischen Musen, seine Vollendung erhalten hat; es könnte ihn sonst leicht das Schicksal des großen Friedemann Bachs treffen, dessen Fluge nur wenige Augen der übrigen Sterblichen noch nachsehen konnten. Daß er noch immer unter unsere itzt lebenden besten und fertigsten Klavierspieler gehört, wird man ohne mein Erinnern glauben.«[161] Und das ist 1790 gedruckt, ein Jahr vor Mozarts Tod, und geschrieben von einem musikverständigen Manne! Die ferneren Zeitgenossen, wenn auch nicht die Wiener, sind freilich entschuldigt, da sie die entscheidenden Werke Mozarts nur wenig kannten: sind doch zum Beispiel nur wenige Klavierkonzerte Mozarts zu seinen Lebzeiten weiter bekannt geworden. Erst sein früher Tod und der wachsende Erfolg der »Zauberflöte« (der sich in Goethes »Hermann und Dorothea« spiegelt) und des »Don Giovanni« kamen auch der Würdigung der Instrumentalwerke zugute. Und so sieht denn auch der Artikel Mozart im Neuen Lexikon Gerbers (1813) ganz anders aus als im Alten, wenn auch Mozart immer noch als Revolutionär gilt:
»Diese Vorzüge Mozarts hatten zum Teil ihren Grund in seiner äußerst reizbaren Empfindsamkeit und in seinem angeborenen, außerordentlichen musicalischen Talent. Vermittelst dieser natürlichen Gaben und seines unablässigen Studierens am Claviere und Schreibetische wurde mit der Zeit seine Einbildungskraft groß und unerschöpflich, indes er sich eine Fertigkeit erwarb, für die es keine Schwierigkeit mehr gab. So entstand die Kühnheit, mit der er seltene Melodien über- und durch einander webte, neue Harmonien schuf, und einen so mächtigen Zauber über seine Musik verbreitete, daß es scheint, als ob er, in Zeit von wenigen Jahren, die Fortschritte des musicalischen Geschmacks um mehr als ein halbes Jahrhundert beschleunigt habe. Diese Einbildungskraft und große Virtuosität erhob ihn weit über das Alltägliche zu den seltensten Melodien und Harmonien, die, mit tiefer Einsicht angebracht, nie ihre große und tiefe Wirkung verfehlten. Sein ideenreicher Geist spiegelte sich auch reizend ab in dem Glanze und dem blühenden Leben der Instrumentalpartien seiner Singstücke, worin seine Musik stets sehr überdacht und charakteristisch war. Fast kann man sich der paradox scheinenden Bemerkung nicht enthalten, daß Mozart zu früh auf dem Schauplatze erschien und zu früh wieder abtrat. Noch hatte er uns nicht alle Schönheiten in ihrer vollkommenen Entwicklung gezeigt, die, sozusagen, in den Falten seines Genies verborgen lagen, als er starb; – und doch war das, was er uns bei seinem kurzen Verweilen auf der Erde gab, groß und erhaben genug, um öfters[162] an das Unbegreifliche zu grenzen. Er war ein Meteor am musicalischen Horizonte, auf dessen Erscheinung wir noch nicht vorbereitet waren; noch klimmten wir an den Bergen, welche uns auf unserer musicalischen Laufbahn zurückhielten, als er dieselben mit einem Riesenschritte übersprang, uns zurück ließ, und uns gleichsam von der Ferne her die Vollkommenheit schon zeigte, zu der wir uns noch in unbestimmter Erwartung der Zukunft, auf dem langsamen Wege der Natur, entwickelten. Die Vollkommenheiten und Schönheiten, die wir an seinen Kunstwerken empfanden, bezauberten und begeisterten in dem Grade, daß der Geschmack beinahe für andere, minder geniale Musik verwöhnt wurde, und manche in ihrem Enthusiasmus zu vergessen anfingen, was Hasse, Graun, Hiller, Benda, Schulz und andere Meister in ihrer Art Großes und Schätzbares geleistet hatten. Noch schritten die Künstler mit Fleiß und Tätigkeit ruhig auf dem sichern und geraden Weg der Kunst fort und näherten sich ihrer Vollkommenheit, nach den Gesetzen der Natur, zwar langsam, aber auch um so sicherer und wirksamer; als plötzlich Mozart erschien, und durch den Schwung seines Genies eine allgemeine Revolution in dem Kunstgeschmack bewirkte. Mit einer Einbildungskraft, die, um das Ganze einer empfindungsreichen Situation in einem Bilde zusammenzufassen, jedes einzelne Gefühl bis zu seiner unbemerktesten Nuance verfolgte, unterstützt durch ein Genie, das diese Bilder ordnete und mittelst einer allumfassenden praktischen Kunstkenntnis und Fertigkeit den ganzen Umfang des Tonsystems mit scharfem Überblick beherrschte, um die Bilder so vollkommen darzustellen, wie sie ihm Gefühl und Phantasie vorhielten, mit diesen Hilfsmitteln, sage ich, lieferte er Kunstwerke, die von alle dem, was man bisher von praktischer Anwendung der Kunstgesetze gehört und gesehen hatte, weit abzuweichen schienen. Da herrschte ein Reichtum an Erfindung, eine Fülle und Kraft in der Darstellung, deren Schönheit nur wenige kunstmäßig entwickeln und zergliedern – die meisten nur fühlen konnten.« Als ein weiteres Dokument zeitgenössischer, insbesondere Berliner Überheblichkeit sollte jedoch in keiner Biographie das Diktum eines Anonymus fehlen, den eine enthusiastische Besprechung des »Don Giovanni« durch[163] Bernhard Anselm Weber im »Musikalischen Wochenblatt« von 1792 zu folgendem Tadel veranlaßte: »Sein Urtheil über Mozards Don Juan ist höchst übertrieben und einseitig. Niemand wird Mozard, den Mann von großen Talenten und den erfahrnen, reichhaltigen und angenehmen Componisten verkennen. Noch hab' ich ihn aber von keinem gründlichen Kenner der Kunst für einen correcten, viel weniger vollendeten Künstler halten sehn, noch weniger wird ihn der geschmackvolle Kritiker für einen in Beziehung auf Poesie richtigen und feinen Componisten halten.«
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 132-164.
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