Universalität

[127] Mozart hat einmal seinem Vater geschrieben (7. Febr. 1778): wie Leopold wisse, könne er, Wolfgang, »so ziemlich alle art und styl von Compositions annehmen und nachahmen« – das Italienische, das Französische und auch das Deutsche ... Das ist wahr, Mozart konnte in jedem der im 18. Jahrhundert gangbaren Nationalstile schreiben. Aber es begründet nicht die Universalität, die wir hier im Sinn haben, sondern nur seine Übernationalität, seine seltsame Stellung in der Musikgeschichte, daß er weder ein »italienischer« noch ein »deutscher« und am allerwenigsten ein französischer Komponist gewesen ist, sondern eben Mozart, der weit über allen nationalen Grenzen und Beschränkungen steht. Nicht italienische oder deutsche Musik hat sein musikalisches Wesen bestimmt – es sind nur Äußerlichkeiten, in denen er italienisch oder deutsch ist –, sondern er bestimmt das Wesen der italienischen oder deutschen Musik. Seine Universalität wird klar, wenn man sich die Frage vorlegt, ob er größer als Vokal- oder als Instrumentalkomponist gewesen ist, ob die »Nozze di Figaro« oder der »Don Giovanni« über oder unter der C-dur-Sinfonie, dem c-moll-Klavier-Konzert oder dem C-dur-Quintett stehen. Es wäre müßig, sich dar über den Kopf zu zerbrechen; das Vollkommene auf verschiedenen Gebieten läßt sich nicht vergleichen. Vergleichen läßt sich seine Universalität nur mit dem Verhältnis anderer großer Meister zu diesem Begriff – wobei wir uns aufs 18. und 19. Jahrhundert beschränken wollen. Am nächsten kommt ihm vielleicht Händel, der Meister der Kantate, der Oper, des Oratoriums, des Concerto grosso, der Sonate – aber schon stutzen wir. Ist das nicht alles aus einer einheitlichen, mächtigen Quelle geflossen, der italienischen Vokalität, dem Bel Canto der monumentalen Aria? Ist Händel, als Erbe von Formen des 16. und 17. Jahrhunderts, der Fuge, des Ricercars, ebenbürtig seinem Zeitgenossen Johann Sebastian Bach? Und schon stutzen wir wieder. War Bach denn universal? Ja, er hat auf dem Felde der Instrumental- und Vokalmusik keine Ecke unbebaut gelassen, weder[127] das Kirchliche noch das Weltliche, nicht einmal die Oper, wenn man seine weltlichen Kantaten als Opern gelten lassen will. Aber in Wahrheit wächst auch dies alles aus einer Wurzel, dem Instrumentalen, ja noch enger: aus der Polyphonie der Orgel, die auch Bachs vokale Themen bestimmt – man könnte sehr mißverständlich und doch mit Recht sagen, daß Bach überhaupt kein Vokalkomponist gewesen sei, daß selbst sein so malerisches, plastisches Rezitativ feste, instrumental bestimmte Form habe.
Ganz unbestreitbar wird die Einseitigkeit, der Mangel an Universalität bei Gluck. Gluck hat wohl einige Instrumentalmusik und eine Handvoll Lieder geschrieben, aber er war Opernkomponist und nichts anderes, in der ersten Hälfte seines Lebens, bis zu »Paride ed Elena«, ein italienischer, und in der zweiten, von »Iphigénie en Aulide« an, ein französischer. Es ist, nicht ganz mit Unrecht, gesagt worden, daß Gluck zum Genius, zum Reformator der Opera seria geworden sei infolge seiner Einseitigkeit. Die Fülle musikalischer Erfindungskraft war ihm versagt, die durch alle Formen sprudelt; sein Pathos drängte ihn aufs Gebiet des musikalischen Dramas, der Oper; und ein großer, machtbegieriger, logischer Kopf wie der seinige macht Tugenden auch aus seinen Beschränkungen. Bei Haydn und Beethoven wird die Behauptung der Einseitigkeit heftiger bestritten werden: die Behauptung, sie seien im Wesen Instrumentalkomponisten gewesen. Wie, der Schöpfer der »Schöpfung«, der Meister des »Fidelio« und der »Missa solemnis« kein Vokalkomponist? Und doch ist es nicht anders: sowohl Haydn wie Beethoven werden beengt durch das Wort, sie sprechen sich am freiesten aus auf dem Gebiet des Instrumentalen, Haydn auf dem des Quartetts und des Orchesters, Beethoven auch auf dem des Klaviers. Weder Haydn noch Beethoven sind Meister des Lieds gewesen, obwohl sie Lieder komponiert haben. Und so kämen wir zu Schubert, dem Komponisten der »Unvollendeten« und des d-moll-Quartetts und von Hunderten vollendeter Lieder, dem einzigen, der Mozart zu vergleichen wäre, wäre ihm nicht hinwiederum – obwohl er auch Opern geschrieben hat – das Dramatische, Szenische, der Blick für die Bühne versagt gewesen. Im 19. Jahrhundert vollends beginnt die Blütezeit der Einseitigkeiten.[128] Weber: Kirchen-, Opern- und Instrumentalkomponist; aber seine Instrumentalwerke, von denen nur die fürs Klavier noch einigermaßen leben, sind auf die Formel der »Brillanz« gestellt, und von seinen Opern hat selbst beschränkte nationale Geltung nur der »Freischütz«. Mendelssohn und Schumann fehlt die starke dramatische Ader; Wagner, wieder ein »internationaler« Meister, wird schwach und hilflos, wenn ihm die Anregung durch das szenische Wort, durch die Anschauung der Bühne, fehlt. Verdi hat internationale Geltung als Opernkomponist gewonnen, weil italienische Oper eben internationaler Export ist und – weil er dank seiner Humanität weit übers Nationale hinauswächst; aber ihm war wiederum das Sinfonische versagt, auf dem fast alle Wagnerschen Wirkungen beruhen.
Bedenkt man die nachtwandlerische Sicherheit und Anmut, mit der Mozart Vokales und Instrumentales meistert, Messe und Oper, Quartett und Konzert, so wächst die Bewunderung vor dem Phänomen seiner Einmaligkeit als Universalmusiker ins Ungemessene. Sie wächst noch mehr, wenn man die historische und nationale Problematik seiner Stellung bedenkt. Der historischen muß ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Sie besteht darin, daß Mozart in ein »galantes« Zeitalter der Musik hineingeboren war, dem der Ausdruck durch Polyphonie nicht mehr natürlich und gemäß war. Es bedurfte einer schweren Krise, ehe er auch diese Schwierigkeit überkam. Die nationale Problematik wird sichtbar, wenn man bedenkt, daß er als deutscher Musiker italienische Oper zu komponieren hatte und daß er zu groß oder zu persönlich war, um ganz zum italienischen Komponisten zu werden – oder vielmehr, um es zu bleiben. Für andere deutsche Musiker war das kein Problem: Hasse, Graun, Misliveczek und manche andere –; sie gehören gänzlich in die italienische Operngeschichte. Ist es nicht sehr bezeichnend für die Unbefangenheit und Problemlosigkeit der italienischen Oper zwischen 1720 oder 1725 und 1775, daß es in Italien so gut wie gar keine ästhetisierende Literatur über die nationale Opernfrage gibt? Wohl über die Oper als Gattung, in ihrer Relation zum Drama, vor allem zum antiken Drama. In Frankreich dagegen reißt die Kette von dergleichen Literatur[129] kaum jemals ab, wo die Oper immer von Italien her bedroht war; und in Deutschland ist nicht bloß die Oper, sondern der musikalische Stil der Nation bedroht von allen Seiten. Mozart hat gar keinen Einfluß gehabt auf die italienische Opera buffa, in der er die größten Meisterwerke der Gattung hinterlassen hat; und es wäre sehr interessant, zu wissen, was Musiker wie Paisiello, Sarti, Cimarosa über »Nozze« oder »Don Giovanni« ausgesprochen oder gedacht haben. Von Paisiello wissen wir wenigstens, wie er über den Unterschied der italienischen und deutschen Musik im allgemeinen gedacht hat. Befragt darüber von einem Schüler, Giacomo Gotifredo Ferrari aus Roveredo, erwidert er: »Ich will's dir sagen. Wenn zwei Meister in der gleichen Schule aufgewachsen wären, wäre gar kein Unterschied (im Stil), nicht wahr? Aber die Italiener fangen im allgemeinen an, ohne zu Ende zu kommen, und die Deutschen kommen zu Ende, bevor sie anfangen: ich weiß nicht, ob ich mich deutlich ausdrücke. In Italien legen wir Wert nur auf die Melodie; sei es von Natur, sei es durch die harmonischen Wirkungen, die unsere Stimmen und unser Gesangsvortrag auf uns ausüben; und wir machen Gebrauch von Modulationen, nur um den Ausdruck des Wortes zu verstärken. In Deutschland aber, sei es aus andern Gründen oder weil die deutschen Musiker sich uns im Gesang unterlegen fühlen, legen sie wenig Wert auf die Melodie und brauchen sie nur sehr wenig; so kommt's, daß sie gezwungen sind, sich einer gesuchten Harmonie zu bedienen, um derart dem Mangel an Melodie und am Zauber einer schönen Stimme abzuhelfen1
Ein paar Ausnahmen gesteht Paisiello zu: auf deutscher Seite Hasse, Händel und Gluck (!), auf italienischer Seite Padre Martini, Durante und Vallotti. Aber abgesehen davon, daß diese[130] Unterredung am 21. November 1784 stattfand, vor Entstehung der »Nozze« und des »Don Giovanni«: wie oberflächlich und primitiv ist diese Belehrung! Mit solchem geistigen Rüstzeug kann man weder dem Problem des »Nationalen in der Musik« noch dem Problem Mozart beikommen. Rossini hat sich mit höchster Bewunderung zum mindesten über »Don Giovanni« ausgesprochen, aber ohne sich im mindesten durch den »ultramontanen« Meister beeinflussen zu lassen.
Eine andere Gefahr für Mozarts Universalität ist, feinsinnigerweise, bereits durch Wyzewa und de Saint-Foix angedeutet worden – die einseitige instrumentale Erziehung Mozarts durch den Vater. Wie ist Mozart dieser Gefahr entgangen? Es ist, sozusagen, ein Wunder, daß Mozart auch ein großer Vokalkomponist geworden ist. Mozart ist dieser Gefahr glücklicher, stärker entgangen als Beethoven, der ihr niemals ganz entronnen ist. Mozart und Beethoven, beide wurden erzogen als Pianisten, zum mindesten war das Klavier ihr Instrument, das sie beeinflußte, auch als Komponisten. Aber Mozart denkt als Schöpfer bald ganz unabhängig vom Klavier, und Kantabilität wird ihm ein Gesetz, erst fürs Vokale, dann auch fürs Instrumentale. Die gleiche Problematik wie auf dem Gebiet der Oper bestand für den Instrumentalkomponisten Mozart. Für Joseph Haydn lag der Fall viel einfacher. Haydn hatte es leicht, ja er war in seiner Isolierung geradezu gezwungen, »originell« zu werden. Auch Haydn ward erreicht durch italienische, französische, wienerische, tschechische Einflüsse, aber aus der Ferne; er schuf in der Stille von Weinzierl, Lukavec, Eisenstadt; er machte seine erste große Reise erst, als er fast sechzig Jahre alt geworden war und der ganzen musikalischen Welt bereits seinen persönlichen Stil diktiert hatte. Mozart, mit sieben oder acht Jahren auf seine erste Reise mitgenommen, in die Welt hinausgeworfen, war jedem musikalischen Einfluß ausgeliefert. Es ist wunderbar genug, daß er nicht erlag, daß er nicht mit sechzehn Jahren sein Talent verlor, wie es die Regel ist bei Wunderkindern; daß seine Persönlichkeit, seine Widerstandskraft stark genug war, um nur das ihm Gemäße sich anzueignen. Er hätte leicht ein Abbè Vogler oder, um einen Schüler des Abbè Vogler[131] zu nennen, ein Meyerbeer werden können: ein internationales Ungeheuer, das das Stilungeheuer der »Großen Oper« mit großem Talent zur Welt bringt. Aber er wurde Mozart. Das heißt, er gehört keiner Nation an – und jeder. Er ist universal; er ist weder ein nationaler noch ein internationaler Musiker. Er ist übernational.

Fußnoten

1 »Ti dirò. Se i due professori avessero studiato nello stesso modo, non vi sarebbe differenza alcuna: capisci? Ma gl'italiani incominciano generalmente senza finire, e i tedeschi finiscon prima d'incominciare: non sò se mi spiego. In Italia non facciam caso che della melodia; sia per natura, o per gli effetti armoniosi che le voci e la maniera di cantare ci producono; nè usiam modulazioni che per rinforzare l'espressione della parola. In Germania, poi, sia per altre ragioni o perchè i tedeschi si veggono inferiori a noi pel canto, essi non si curan della melodia, ne l'usan che pochissimo; ond'è che sono obbligati di servirsi di un'armonia ricercata, per supplire in tal guisa alla mancanza e alla bellezza magica della voce.«
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 132.
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