IX.

Erste Pariser Anknüpfungen.

[217] Gasperini, Léon Leroy. – Entstehende Zweifel an Karlsruhe. – Einzug in die Rue Newton. – Edmond Roche. – Roger als Übersetzer des ›Tannhäuser‹. – Die Karlsruher ›Tristan‹-Aufführung wird unmöglich. – Nachruf an Fischer und Spohr. – Plan einer deutschen Theaterunternehmung. – Malvida von Meysenbug. – Schottsches Anerbieten.


Weiß Gott, dies Paris war nicht meine Wahl! ich ergriff es nur mit der Sicherheit Eines, der eben keine Wahl hat.

Richard Wagner.


Ein geräuschloses Winkelchen war alles, was Wagner, als er um die Mitte September 1859 in Paris eintraf, von der glänzenden Kapitale Frankreichs verlangte. Nicht um mit ihrer Kunstöffentlichkeit, ihren Direktoren und Virtuosen in nähere Berührung zu treten, war er hierher gekommen, sondern um sich abseits von dem lauten Getriebe der Tagesinteressen eine stille Zuflucht zu ungestörter Arbeit zu suchen. In diesem Sinne hatte er sich nach einem passenden Unterkommen umgesehen, und war dabei mehr auf den Zufall, als auf Freundesrat oder Empfehlung angewiesen. Die Tuilerien im Rücken, lenkte er den suchenden Schritt den glänzenden Palästen der Champs-Elysées entlang, bis wo die Avenue Matignon auf die Anlagen des Rond Point mündet und ihn der wimmelnden rauschenden Ode des Mittelpunktes der Stadt zu entziehen verhieß. Sie bis zum Faubourg St. Honoré verfolgend, fand er in der Rue Matignon Nr. 4 ein bescheidenes und von seiner einstigen frühesten Pariser Niederlassung hinreichend verschiedenes Logis, das ihm für die nächsten Wochen, bis zum Eintreffen Minnas, als provisorisches Asyl dienen konnte. ›Die Gegend, wo ich für jetzt wohne, ist mir für einen Pariser Aufenthalt ganz neu; die anständige Abgelegenheit und reine Luft derselben läßt mich auf Aushalten hoffen. Fürs erste halte ich noch strenges Inkognito. Erst gestern ging ich daran, einige Bekannte aufzusuchen und traf alles noch à la campagne, selbst unseren würdigen Kietz. Nur Mme. [217] d'Agoult scheint vorhanden zu sein. Olliviers treffen in diesen Tagen ein‹. ›Für eine definitive Wohnung habe ich gute Aussicht, und da ich nun einmal entschlossen bin, unter allen Umständen einen längeren Aufenthalt in Paris daranzugeben, so gebe ich heute Auftrag, mir meine (Züricher) Möbel nachzuschicken.‹1

Die Ankunft Olliviers mit seiner liebenswürdigen jungen Gattin gab denn auch Veranlassung, die von diesem bereits früher in Aussicht genommene Pariser Aufführung des ›Tannhäuser‹ durch Mr. Carvalho amThéâtre lyrique neuerlich wieder ins Auge zu fassen. So wenig positiven inneren Antrieb der Meister dafür empfand, so wenig wünschte er dem, vielleicht schon bis Januar zu realisierenden Unternehmen seinerseits hinderlich zu sein. Die Hauptschwierigkeit blieb eine taugliche Übersetzung des Textes in das Französische, und auch hierfür schien sich ihm eine günstige Möglichkeit zu bieten. Schon bald nach seiner Ankunft hatte er sich unter seinen Pariser Verehrern nach einem, ihm durch Bülow besonders empfohlenen, jungen Arzt und gleichzeitig geistvollen Literaten und Musikfreund, Mr. A. de Gasperini, umgesehen und, da dieser zur Zeit von Paris abwesend war, ihm nach Marseille geschrieben, wo er sich besuchsweise aufhielt. Umgehend schickte ihm dieser seinen Freund Léon Leroy ins Haus, um einstweilen, bis zu seiner eigenen Rückkehr, dem Meister an seiner Statt dessen Dienste anzubieten. ›Am 22. September 1859‹, so erzählt Leroy,2 ›empfing ich von Gasperini die nachstehenden Zeilen: »Schnell, schnell, eine große Neuigkeit: Lassen Sie alles stehen und liegen, um nach der Avenue Matignon Nr. 4 zu laufen und den Concierge zu fragen, ob – – Richard Wagner zu Hause ist! Er hält sich für einige Zeit in Paris auf und hat mir einen prächtigen Brief geschrieben; ich bitte Sie, bei dem großen Manne meine Stelle zu vertreten: ich habe ihm den Besuch eines ausgezeichneten Freundes von mir angekündigt.« Eine Stunde später wurde ich an der angegebenen Adresse durch Wagner empfangen. Ich sehe ihn noch vor mir, in einer Art Hausrock von violettem Sammet, auf der mächtigen Stirn ein Barett aus dem gleichen Stoffe. Diese erste Unterhaltung dauerte fast zwei Stunden: Wagner wünschte möglichst bald eine französische Übersetzung seines Tannhäuser. Es handelte sich um eine Aufgabe von auserlesener Schwierigkeit; es konnte keine Rede davon sein, daß es der Übersetzer es sich bequem mache, wie bei dem italienischen Operntext. Ich versprach dem Meister, mit allem Eifer nach der ihm nötigen ergebenen Hilfskraft zu suchen; aber die Auffindung eines solchen weißen Raben unter den Spezialisten dieses Faches war mehr als bloß mühevoll. Ich dachte daher an den berühmten Tenoristen Roger, der schon mehrfache Kunstreisen in Deutschland gemacht hatte und, wie man sagte, die Sprache Schillers aus dem Grunde verstand. Infolge eines schrecklichen Unfalles auf der Jagd [218] hatte er kürzlich einen Arm verloren; sein Engagement an der großen Oper war nicht wieder erneuert, er mußte demnach Muße haben. Ich bat daher einen gemeinschaftlichen Freund, ihm einen darauf bezüglichen Vorschlag zu machen, der denn auch auf den ersten Anlauf akzeptiert ward. Sofort lief ich mit dieser neuesten Nachricht zu Wagner, der sie mit einem stürmischen Freudenausbruch aufnahm. Er wollte Roger auf der Stelle sehen, die Arbeit sogleich beginnen. Aber Roger wohnte damals auf seinem Schloß in Villiers-sur-Marne, wenigstens zwei Stunden von Paris. Ich mußte die Ungeduld des Meisters beschwichtigen, indem ich ihm in kürzester Frist ein Rendezvous mit dem berühmten Sänger versprach.‹3

Es war dies Ende September oder in den ersten Tagen des Oktober, zu einer Zeit, wo die Bitterkeiten seiner Lage in Paris sich doch bereits mehrseitig und in mannigfacher Weise fühlbar machten. Ein ausführlicher ärztlicher Bericht Pusincilis über das Befinden seiner Frau betrübte ihn wieder sehr; doch durfte er hoffen, daß gerade die Lebensweise, welche er hier auch für sie im Sinn hatte, vorteilhaft auf ihren Zustand wirken werde. Im Hinblick auf die Wiedervereinigung und ein dauerndes Zusammenleben mit ihr hatte er die ihm gleich anfangs in Aussicht gestellte ›definitive Wohnung‹ nunmehr fest gemietet. Allerdings unter schweren Opfern. Er mußte einen Kontrakt auf 3 Jahre mit dem Hauseigentümer abschließen, unter Vorausbezahlung der ganzen dreijährigen Miete. Aber es kam ihm darauf an, sich für eine dauernde Niederlassung das Rechte nicht entgehen zu lassen. Es war das nachmals von seinen Pariser Freun den und Besuchern in ihren Erinnerungen viel genannte und wegen seiner geschmackvollen künstlerischen Einrichtung gepriesene ›fort joli petit hôtel4 in der Rue Newton, einer der geräuschlosen Verbindungsstraßen zwischen den breiten Verkehrswegen, die vom Arc de Triomphe sternförmig nach allen Richtungen auslaufen. Ein solches angenehm gelegenes einzelnes Häuschen bot ihm andererseits die einzige Möglichkeit eines Schutzes gegen Wagengeräusch und – ›nachbarliche Klaviere, die hier in jedem Laufe mit unglaublicher Wut rasen‹. Was aber seine Sorgen mehr als alles vermehren, ja seine weitere Existenz bedrohen mußte, das war die zunehmende Ungewißheit der verheißenen Karlsruher ›Tristan‹-Aufführung, auf die er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte. Gleich die allererste Nachricht, die er – am 5. Oktober – in Paris von seinem alten Freunde Devrient empfing, belehrte ihn, wie unsicher dort seine Sache stehe. Bei so manchen vortrefflichen und selbst so ausgezeichneten Eigenschaften erwies sich letzterer doch als tief in die Theaterroutine versunken und ohne die mindeste [219] Elastizität für die Erfassung der ihm durch dieses ungewöhnliche Unternehmen zugefallenen Aufgabe. ›Was Der mir manchmal für Antworten gibt!‹ äußert sich Wagner vertraulich über ihn gegen Wesendonck. ›Und noch muß ich froh sein, wenn ich nur einmal etwas erfahre. Und von dem famosen jungen Großherzog soll ich auch erst noch ganz sprechende Belege für einen energischen Willen erhalten!‹ Wo dem armen Meister wieder einmal von mehreren Seiten her jede Aufmunterung versagt blieb und ihm alles schwer und drückend aufs Herz fiel, war es nur zu natürlich, daß ihn ›das Pariser Klima für jetzt sehr nervös machte‹ und er sich selbst ›zum Promenieren oft sehr schwach fühlte‹. Er hatte nur Verlangen nach Ruhe und Zurückgezogenheit. Es war ihm unmöglich, verschiedene Einladungen in Pariser Familien anzunehmen, obwohl diese, wie er in demselben Briefe an Wesendonck (5. Oktober) erwähnt, von gebildeten und liebenswürdigen Leuten ausgingen. ›Ach, Freund‹, fährt er fort, ›aber das Sprechen! Das viele unnütze Sprechen! Entweder gleichgültige Konversation – was soll mir die? Und ich immer die Kosten tragen? Ich kann nicht mehr so verschwenden: ich bin wirklich müde.‹ So traf ihn auch der erste Besuch Gasperinis, der bald nach seinem vorausgesandten Freunde Leroy sich in Person bei ihm einfand. ›Ich habe Sie ungeduldig erwartet‹, sagte er zu dem Eintretenden, indem er ihm wie einem guten Bekannten die Hand bot. Trotzdem fiel diesem anfangs eine gewisse Zurückhaltung, eine Unbeweglichkeit seiner Züge auf, die erst im Laufe ihrer Unterhaltung schwand. Da belebte sich diese ausdrucksvolle Physiognomie, eine vollständige Umwandlung vollzog sich, und sein Gast fand in ihm den Mann, den er nach dem Inhalt seiner Werke erwartete. ›Alle Züge seines Gesichtes trugen das Gepräge jenes unbeugsamen Willens, des tiefsten Grundes seiner Natur. Überall gab es deutlich sich kund: in dieser breiten vorspringenden Stirn, dem kühnen Schwung dieses energisch kraftvollen Kinnes, in diesen schmalen, feingefalteten Lippen und den tiefen Furchen der unteren Gesichtshälfte, in denen die Erregungen eines leidensreichen Lebens zu lesen waren. Das war der Ringer, dessen Geschichte ich kannte, der mit der Vergangenheit unzufriedene und stets der Zukunft zugewendete Denker. In diesem bald klaren und gesetzten, bald fieberhaft unruhigen Blick, in dieser äußersten Beweglichkeit aller Züge, gegen deren Regungen ein despotischer Wille vergeblich ankämpfte, erkannte ich den glühenden Dramatiker, den Erforscher der menschlichen Seele, die er bis in ihre verborgensten Falten und Schlupfwinkel verfolgt und ergründet, und für den selbst die Ruhe, die Ausspannung, die Resignation noch eine Tätigkeit, eine Konzentration, eine gewaltsame Heftigkeit in sich schließt; im tiefsten Hintergrund all dieser mannigfachen Regungen seines Gesichtsausdruckes aber den überzeugten Jünger Buddhas und Schopenhauers mit seiner Sehnsucht nach dem letzten Vergehen in das Nichts, der für die Welt und ihre trügerischen Komödien nur noch ein großes, allumfassendes Mitleid übrig hat. Endlich [220] aber, nachdem ich ihn erst auf einen Gegenstand von augenblicklichem Interesse, seine Pläne für die allernächste Zeit, seine Aussichten für ihre Durchführung gebracht, konnte ich ihn getrost mit den Schwierigkeiten der ihm noch wenig geläufigen Sprache sich abmühen lassen: trotz aller Theorien der Weltentsagung sah ich in ihm einen jugendlich begeisterten Mann voll Leben, Glauben und Hoffnung.‹5 So ist es auch charakteristisch, daß Gasperini den Meister, trotz seines besseren Wissens, bei dieser ersten Begegnung ›eher für einen Sechsunddreißiger, als für einen Sechsundvierziger hielt.‹6

Acht Tage später, am 21. Oktober, bezog Wagner die hübsche freundliche Villa in der Rue Newton Nr. 16, nachdem er tags vorher noch von seiner alten Adresse aus einen Gruß an Liszt gesandt, welcher diesen zu seinem achtundvierzigsten Geburtstage erreichen sollte. Eine zweimonatliche Unterbrechung ihres brieflichen Verkehrs hatte seiner Einbildungskraft soeben unwillkürlich die erschreckende Größe der Lücke im Wesen der Dinge vergegenwärtigt, wenn er sich diesen Freund plötzlich aus dem Dasein geschieden vorstellte. ›In diese furchtbare Lücke blickend, wandte ich den Blick, wie aus einem schrecklichen Traume erwachend, wieder auf Dich, und freute mich so innig und tief erregt Deines wirklichen Vorhandenseins, daß Du mir wie ein Neugeborener er scheinen konntest.‹ Durch Bülow hatte er tags zuvor von der erfolgten Vermählung der Prinzeß Marie erfahren (15. Oktober, mit dem Fürsten Konstantin Hohenlohe-Schillingsfürst); er wünscht nun von Liszt zu erfahren, wohin er ihr schreiben könne, um ihr seinen Glückwunsch zu bringen. ›Ich stehe soeben im Begriff in eine neue Wohnung einzuziehen! So habe ich mich denn wieder einmal eingerichtet – ohne Glauben, ohne Liebe und Hoffen‹. ›Hast Du eine Vorstellung davon, in welcher Lage ich mich befinde? welcher Wunder von Treue und Liebe ich bedarf, um immer wieder Mut und Geduld fassen zu sollen? Karlsruhe ist mehr wie ungewiß, der Tristan überhaupt wieder ganz Schatten und halbe Unmöglichkeit.‹7 – In Wahrheit war ihm der Tag, wo er dieses Häuschen mietete und, verlangter Sicherheit halber, sogleich die zwei letzten Termine seines dreijährigen Kontraktes vorausbezahlte, der Ausgangspunkt unabsehbarer Sorgen geworden. Alle seine Berechnungen waren dadurch niedergerissen, und er kam sich auf Grund dieser und ähnlicher Pariser Erfahrungen vor, wie einer kalten, fremden Räuberwelt wehrlos ausgeliefert. Das Häuschen selbst, in früheren Jahren von dem bekannten französischen Schauspieldichter Octave Feuillet bewohnt, war rings von hohen Linden und kühlen Parkanlagen umgeben und dadurch vor allzu naher Nachbarschaft geschützt, von der Straße durch ein Eisengitter getrennt. Die Lage desselben in einer der völlig ruhigen Verbindungsstraßen zwischen derAvenue d'Jéna und der Avenue Josephine war für ihn völlig [221] unschätzbar. Auch hier war der kleinere Musiksalon mit dem Erard und sein Arbeitskabinett im oberen Stock gelegen, die unteren Räume, darunter ein etwas größerer Salon, für Minna bestimmt, deren Ankunft er in der zweiten Hälfte des November erwartete. Die Einrichtung an Möbeln, Teppichen, Vorhängen etc. war fast ausschließlich mit seinem Züricher Mobiliar bestritten. An die Abholung desselben, wie es, in Kisten und Kasten wohlverpackt, aus Zürich auf das Pariser Zollamt gelangt war, knüpfte sich für ihn ein unerwartetes Abenteuer. Als er sich eben auf der Administration des douanes mit lauter Stimme ungeduldig gegen die endlosen Weitläufigkeiten ereiferte, mit denen ihre Auslieferung verknüpft war, trat aus einem düsteren Bureau plötzlich ein junger Beamter auf ihn zu, verbeugte sich tief und ehrerbietig und beseitigte zuvorkommend alle Schwierigkeiten. Es war der junge Edmond Roche, der spätere Übersetzer des ›Tannhäuser‹ ins Französische. Durch eigenes Studium der Klavierauszüge seit länger mit Wagners Werken bekannt, war ihm dieser kein Fremder mehr, und er erwiderte dessen überraschte Danksagung für seine Gefälligkeit mit der angelegentlichsten Versicherung, wie sehr es ihn ehre, einem so berühmten Meister einen unbedeutenden Dienst erweisen zu können. Das Abenteuer mit dem Pariser Douanier erinnerte ihn an jenes früher ihm begegnete mit der ›Tannhäuser‹-Ouvertüre in Straßburg (S. 171). Das kleine Lächeln der Umgebung machte auf ihn eine um so stärkere Wirkung, als es ihm eben so unerwartet und mitten aus der kältesten Fremde zukam, und er nahm es für ein gutes Omen. Trotzdem verschwand ihm der junge Mann, nachdem er ihm als flüchtige Erscheinung aufgetaucht war, für längere Zeit aus den Augen. Kaum daß er bei dieser Gelegenheit von dessen poetischen Neigungen und Fähigkeiten etwas Näheres erfuhr.

Dagegen erschien nun, wenige Tage nach seinem erfolgten Einzug, Mr. Leroy, um ihm für den nächsten Sonntag (23. Oktober) eine Einladung zu Roger auf dessen Schloß in Villiers, dem Château de la Lande, zu überbringen. Dieser hatte im ersten Feuer bereits die erste große Venusberg-Szene übersetzt, und die ungeheuchelte Ehrerbietung, mit welcher der gefeierte Sänger und in seiner Art unvergleichliche Darsteller den Meister bei dessen Eintritt in seine fürstliche Behausung empfing, übertraf selbst die Erwartung von Wagners freundlichem Begleiter. In der phantastisch möblierten und dekorierten Vorhalle des Hauses gab es eine archäologische Merkwürdigkeit von monumentaler Beschaffenheit und nicht geringen Dimensionen: die zum ersten Stockwerk führende Treppe, aus irgend einem alten ungarischen Schlosse stammend, welche der glückliche Besitzer auf irgend einer seiner Kunstreisen dereinst selbst akquiriert und in ihrer ganzen Ausdehnung nach Villiers hatte überführen lassen! Er liebte es, seine Gäste im Vorbeigehen auf diese Rarität aufmerksam zu machen und ihre bewundernden Exklamationen dafür einzuernten. Es habe, so meinte Leroy zu beobachten, seine gute Laune in etwas [222] verstimmt, daß ihr Wagner keine sonderliche Beachtung schenkte. ›Aber‹, fügt er hinzu, ›die Gedanken des Meisters waren anderweitig zu sehr in Anspruch genommen; auf der ganzen Fahrt von Paris an hatte ihn der bestimmte Zweck und Gegenstand der Zusammenkunft beschäftigt und kein archäologisches Weltwunder hätte ihn davon ablenken können.‹ Ohne weitere Umschweife schlug nun der Hausherr die sofortige Audition der fertigen Szene vor. Wagner nahm am Flügel Platz und begann die Szene, deren beide Rollen Roger abwechselnd sang, mit voller Stimme und vielversprechender Überzeugung und Intelligenz. Besonders war auch die Übersetzung recht befriedigend gelungen: der französische Text recht sangbar, die Akzente treu, die Phrase nicht merklich entstellt. Leroy wendete die Blätter und sein Blick hing an den Zügen des Meisters: diese waren unbeweglich, aber die Atemzüge schwer, fast keuchend. Bei der Allegro D dur-Stelle, die Roger mit hinreißender Verve sang, schien sich ein feuchter Schleier über sein Auge zu senken. Gleichwohl hielt er mit aller Willenskraft die unwillkürliche Rührung zurück, und die Sitzung schloß, ohne weiteren Zwischenfall, mit dem Austausch einiger rein technischer Bemerkungen. Die an die Audition geknüpfte lebhafte Unterhaltung bis zur Stunde des Diners handelte vorzugsweise von den Zwecken Wagners bei seinem diesmaligen Pariser Aufenthalt. Hingerissen von den Eindrücken dieses Tages, bestand Roger feurig auf seinem Wunsche, seine begonnene Übersetzungsarbeit fortzusetzen. Wagner hingegen, so berichtet Leroy weiter, gewann bis zu diesem Moment des Abschiedes Zeit genug, um von der hoffnungsvollen Erregtheit des Augenblickes wieder ganz zu sich selbst zu gelangen und ohne Selbsttäuschung den weiteren Verlauf dieser Mitarbeiterschaft sich zu vergegenwärtigen. Auf der Rückfahrt teilte er sich darüber seinem Begleiter offen mit. Der Eifer seines liebenswürdigen Wirtes stand für ihn außer Frage; aber würde der verwöhnte Bewohner des Schlosses zu Villiers, der seine glanzvolle Sängerkarriere so grausam zerstört sah, inmitten der Pflege seiner ländlichen Passionen Ausdauer und Selbstüberwindung genug für die Vollendung seiner begonnenen Arbeit haben?8 Seine Voraussicht täuschte ihn nicht. Er war dringend eingeladen, oft hinaus auf Rogers Landgut zu kommen, um dort ungestört mit ihm zu arbeiten; die nächste Zusammenkunft war für den kommenden Mittwoch (26. Okt.) angesetzt. ›Gestern war ich denn wieder bei ihm; ich sah ein, daß ich es mit einem liebenswürdigen, gut begabten Naturell zu tun habe, das aber geistige Anstrengungen nicht lange verträgt und gern zur trivialen Gewohnheit zurückkehrt. Er hatte sehr wenig gearbeitet und bat mich öfter zu kommen, um ihn zu treiben; zugleich aber ergriff er sehnsüchtig einen Vorwand, um vom Flügel hinweg sich an den Domino-Tisch zu stehlen, wo er dann nun mit Wonne haftete, bis ich – die trostlose [223] Gesellschaft gewahrend – mich empfahl, um meine Wanderung nach Paris anzutreten. Montag soll ich dann wiederkommen. Ein furchtbarer Unmut, ein gekränkter Stolz bäumt sich da oft in mir auf; ich komme mir elend, entwürdigt vor – Gott weiß, ob ich verstanden bin! Ich sehe wohl, ich muß mich in Roger zu finden suchen, und er ist wirklich ein ganz liebenswürdiger Bursch. Sein hübsches Talent hat sich auch an ihm gesegnet: sein Besitz und Eigen wird auf eine Million geschätzt, und ein Schloß in einem mächtigen Parke mit hohen herrlichen Bäumen hat er auch, um drin Domino zu spielen. Ich komme dann nach Hause und überlege mir, ob man es mir wohl verdenken wird, wenn ich für alle Kamine meines Hauses Chênes anschaffe. So gehts – und habe ich gute Laune, so wird auch der Tannhäuser gehen. Aber – Laune gehört dazu! Das sehen Sie.‹9

In der Tat stand Mr. Carvalho, als Direktor desThéâtre lyrique seit länger in peinlichen Repertoirenöten, und im Bestreben, seinem Institut einen entscheidenden Aufschwung zu geben, seit einem vollen Jahr mit ihm über den ›Tannhäuser‹ in Verhandlung (S. 185) und hatte sich bereits in der Rue Matignon wiederholt zu Besuchen gemeldet, um sich darüber mit ihm ins Einvernehmen zu setzen. Selbst zu einer Audition war es bei einer dieser Gelegenheiten gekommen. Der Meister selbst improvisierte sie am Klavier, und Gasperini, welcher zugegen war, beschreibt sie drastisch genug. ›Im Moment, wo ich die Tür zum Salon öffnete, verarbeitete er soeben das Finale des zweiten Aktes, er sang, er schrie, er war außer sich, er spielte mit den Händen, den Fäusten, dem Ellbogen, er zertrat das Pedal, zerschlug die Tasten etc.‹ Dieser Schilderung nach habe der zahme Direktor des lyrischen Theaters von dieser Vorführung vorwiegend den Eindruck des Schreckens erhalten und mit aller Höflichkeit seinen vorsichtigen Rückzug angetreten.10 Gasperini macht Wagner den Vorwurf, durch seinen aufgeregten Vortrag den armen Mr. Carvalho bloß verwirrt zu haben, da er es doch hätte ermöglichen können, in dem großen Paris einen berufenen ›Accompagnateur‹ und einen oder zwei Sänger mit passabler Stimme dafür aufzutreiben. Diese Darstellung bestätigt sich keineswegs. Carvalho war bereit, und wünschte die Oper geben zu können; das Hindernis für eine baldige Aufführung lag in etwas ganz Anderem. Er wußte, daß man einer, vom Seinepräfekten angeordneten Straßendurchbrechung wegen sein Theater demnächst niederreißen würde; dagegen sollte ihm nun auf der Place du Châtelet ein neues, großes Theater errichtet werden. Für dieses wünschte er den ›Tannhäuser‹ sich aufzuheben, um mit ihm die Vorstellungen in dem neuen Gebäude zu eröffnen. Das war alles klar und verständlich; und nur das Eine mußte dem von allen Mitteln entblößten Autor schwer fallen, sich bei ähnlichen Unternehmungen nur ja [224] nicht die mindeste Miene von Eile zu geben. Somit betrachtete er auch dieses Pariser Projekt, ernstlich genommen, doch nur als eines der täuschenden Verführungsmittel, um ihm eine neue Möglichkeit zu zeigen und ihn so zum Ausharren zu verlocken. Ganz ähnlich berührte ihn eine plötzlich auftauchende Nachricht Tichatscheks. Lüttichau ließe ihm sagen, er hoffe beim König von Sachsen zu erwirken, daß er im Juli nächsten Jahres zu einer Aufführung des ›Tristan‹ nach – Dresden berufen würde! Alles, was ihm nur in sofortiger, unmittelbarer Nähe hätte förderlich sein können, verschob sich statt dessen in ungewisse Fernen und ließ ihn für die Gegenwart in einer unbeschreiblichen Beklemmung. Wie gerne hätte er sich den Geist jetzt frei und klar erhalten, um alle zerrüttenden Sorgen von sich zu werfen, ruhig arbeiten, schaffen, gestalten zu können! Selbst der Aufführung des ›Tristan‹ hätte er entsagen können, wie er der Anhörung seines ›Lohengrin‹ zu entsagen gezwungen war. ›Jetzt stemme ich mich, um wieder Luft für meinen letzten Akt des Siegfried zu bekommen; atme ich diese erst wieder, dann ist mir Alles gleich. Die eigentliche Aufführung meiner Werke gehört einer geläuterteren Zeit an, einer Zeit, wie ich sie erst durch meine Leiden vorbereiten muß.11

Die beabsichtigte Karlsruher Aufführung von ›Tristan und Isolde‹ hatte sich nun völlig zerschlagen. Das Fernbleiben Wagners vom Schauplatz der Vorbereitungen der ursprünglich für den 3. Dezember angesetzten Aufführung erschwerte die unerläßliche Verständigung mit den Sängern derart, daß bei den großen und ungewohnten Schwierigkeiten der Aufgabe die fortdauernde Verhinderung seiner persönlichen Anwesenheit mit dem Aufgeben fernerer Versuche zu ihrer Lösung zusammenfiel. Beide erste Sängerinnen sollten die Erklärung abgegeben haben, sie fühlten sich der Partie der Isolde nicht gewachsen. Dem zur Bedingung gemachten Wunsche des Meisters, mindestens die Trägerin der Hauptrolle solle diese unter seiner eigenen Leitung einstudieren, konnte oder wollte man nicht entsprechen. Auch die an das Orchester gestellten Anforderungen bezeichneten die wohlbekannten ›Sachverständigen‹ als exorbitant und schlechterdings unerfüllbar. Dieses Urteil schien zu den An-und Absichten Eduard Devrients nicht eben in schreiendem Widerspruch zu stehen – und gegenseitig suchte man sich in der badischen Residenz über die Voraussicht zu trösten, daß ›Tristan und Isolde‹ wohl nicht bloß für die Gegenwart, sondern auch für alle Zukunft beiseite gelegt werden müsse.12 Wäre jetzt Wagners Berufung nach Karlsruhe möglich gewesen, er [225] hätte daselbst eben diejenigen Vertreter für die Hauptrollen seines Werkes vorgefunden, welche fünf Jahre später, bei gewonnener völliger Freiheit der Wahl, als einzig dazu befähigt aus dem zahlreichen Personale der deutschen Operntheater von ihm nach München berufen wurden. Es waren dies der ihm einstweilen nur durch die Empfehlung Tichatscheks (S. 114) bekannte Ludwig Schnorr von Carolsfeld und dessen Gattin, die treffliche Sängerin Malvina Garrigues, deren echt künstlerisches Beispiel den jungen Künstler hinsichtlich des darstellerischen Teiles seiner Leistungen gefördert haben soll, während sich andererseits besonders in der Rolle des ›Tannhäuser‹ die Krafteigenschaften seines Organs entfalteten und seine Stimme wachsend an Wohllaut und Umfang gewann. Zugleich freilich nahm seine jugendliche Gestalt infolge einer Art Fettsucht gewaltige und ängstliche Dimensionen an, die für seine Bühnenzukunft fürchten ließen. Auch über Schnorr war dem Meister hierbei durch Devrient amtlich berichtet worden, trotz großer Hingebung für seine Aufgabe dünke ihm namentlich die Bewältigung der im letzten Akt gestellten Anforderungen unausführbar. Nichts lehrte ihn mehr, wie furchtbar er alles um sich her übersprungen hatte, als wenn er – von sich ab – genau und scharf auf. Die blickte, die zwischen ihm und jener Welt vermitteln sollten.13 ›Devrient hat es für gut befunden, die Folgen seines gänzlich fehlerhaften und nachlässigen Aufgreifens der Idee einer ersten Aufführung des »Tristan« auf seinem Theater mit der Unmöglichkeit der Aufführung dieses Werkes zu entschuldigen‹, äußert er sich darüber gegen Liszt. ›Ich antworte auch darauf nichts. Was soll ich reden? Ich kenne mein Los und meine Stellung und schweige. Bedenklicher ist es, die Folgen zu ermessen, die ein solches Ausstreichen meines neuen Werkes aus der Liste meines Lebens jetzt für meine Subsistenz hat. Wer fünf Sinne hat, muß wissen können, welches jetzt meine Lage ist. Ich kann nicht mehr klagen, denn dies heißt jetzt anklagen. Und selbst Freund Devrient mag ich nicht anklagen, er hat kein Wort von mir erfahren.‹14 Nichtsdestoweniger hinterließ ihm die rücksichtslos schweigsame Feigheit gerade dieses ehemaligen Freundes, der doch seiner Zeit hinsichtlich des ›Tristan‹ den Mund recht ordentlich voll genommen und seine Rückkehr mit der fertigen neuen Partitur ganz unfehlbar proklamiert hatte, den nicht leicht zu verwindenden Stachel einer tief empfundenen schmerzlichen Kränkung.

Während er eben mit Tichatschek in lebhaften Verhandlungen darüber stand, ob es denn wirklich nicht möglich sei, die ihm von Dresden aus so [226] unerwartet angebotene Aufführung seines ›Tristan‹ doch lieber ohne Verzug alsbald in Angriff zu nehmen, als ein halbes Jahr darüber ungenützt verstreichen zu lassen, riß ihm in eben diesem Kreise seiner Dresdener Freunde der Tod eine schmerzliche Lücke durch das Hinscheiden seines alten treuen Chordirektors Wilhelm Fischer. Fischer war, wie wir uns erinnern,15 der Erste gewesen, welcher dem jungen Schöpfer des ›Rienzi‹ bei seiner einstmaligen Rückkehr in das Vaterland ein offenes Herz voll Liebe entgegengetragen. Längst hatte der wackere Mann sich nach einem Wiedersehen mit Wagner gesehnt, sobald diesem die Rückkehr in die Heimat aufs neue sich erschloß; aber die Hoffnung darauf sank immer tiefer. Er wollte sich endlich selbst aufmachen, den fern Entrückten unter den Alpen aufzusuchen; da trat ihm Krankheit entgegen: das Ersparte mußte auf eine Kur verwendet, der Freund auf gegeben werden.16 So sicher hatte Wagner gehofft, den ›guten väterlichen Bruder‹ noch einmal wiederzusehen, ihn an sein Herz drücken zu können; nun traf ihn die Kunde von seiner gefährlichen Krankheit und er konnte ihm nur schreiben; Fischer starb – und sein Brief erreichte ihn nicht mehr! Kurz zuvor hatte ihn die Nachricht vom Tode Ludwig Spohrs (22. Okt. 1859) mit schmerzlicher Teilnahme erfüllt: auch dieser hatte sich ja, fast um die gleiche Zeit, durch sein warmes Interesse für den ›fliegenden Holländer‹ dem jüngeren Kunstgenossen innig genähert. Dem zwiefach betrübenden Eindruck lieh Wagner Worte in seinem brieflichen Nachruf an Spohr und Fischer, welcher unter der Aufschrift: ›Dem Andenken meines teuren Fischer‹ unmittelbar darauf in der Dresdener ›Konstitutionellen Zeitung‹ (vom 25. Nov. 1859) zur Veröffentlichung gelangte. ›Des berühmten, hochbegabten Meisters (Spohrs) Andenken wird weit und breit, und besser als durch mein geringes Wort gefeiert werden: aber dieses herrlich kräftigen, über alles liebenswerten Greises, unseres teuren Fischer, Gedenkfeier möchte ich für den bei weitem kleineren Kreis seiner Kenner gern selbst übernehmen‹, so lauten die herzlichen Eingangsworte dieses Doppelnachrufes. Wenige Monate später folgte diesen beiden die Schröder-De vrient († 26. Januar 1860). Es bedurfte für ihn nicht erst dieser Mahnungen an die Vergänglichkeit, um auch seinem, schon vor Fischers Tode abgefaßten Brief vom 4. November an seinen ›lieben guten Tscheckel‹ doch auch schon ernstliche Bedenken verwandter Art einfließen zu lassen. ›Das Du in Deinem jetzigen Alter‹, heißt es darin, ›noch diese unglaubliche Rüstigkeit und Frische Deines Organes besitzest, ist ein Wunder der Natur, welches ganz einzig dasteht: ein solches merkwürdiges Geschenk sollte aber mit Bedacht genossen une benutzt werden. Hörst Du einmal zu singen auf, so hat es weit und breit ein Ende, und gewisse Aufgaben, wie [227] sie z.B. mein »Tristan« enthält, sind dann auf gewiß lange Zeit gar nicht mehr zu lösen. Der »Pardon de Ploërmel«17 wird sich nach Dir allenfalls noch singen lassen; aber mich dünkt es wie eine frevelnde Versuchung der Natur, ein so wunderbar kostbares halbes Jahr mit Alfanzereien zu vertrödeln und die schwierigsten und höchsten Aufgaben der Kunst auf gut Glück hinauszuschieben. Ich will damit keineswegs den Zweifel aussprechen, als ob ich in einem halben Jahre Dich nicht noch ebenso rüstig finden dürfte, wie jetzt, gewiß nicht! Aber Du sollst nach einem halben Jahre noch viele halbe und ganze Jahre mir gehören: verkürzen wir uns diese nicht leichtsinnig und unwiederbringlich, wenn wir jetzt dieses Eine für nichts und wieder nichts hingeben?‹

Die Antwort Tichatscheks ward ihm durch Minna überbracht, als diese um die Mitte November bei ihm eintraf, um sich nach mehr als jähriger Trennung wieder mit ihm zu vereinigen. Die erste und nötigste Voraussetzung für die Dresdener Aufführung, für deren Gelingen ihm wenigstens Sänger mit guten stimmlichen Mitteln in Tichatschek und Frau Bürde-Ney zu Gebote gestanden hätten, war die ihm endlich zu erteilende Bewilligung einer Rückkehr in die Heimat. Minna hatte während ihres Dresdener Aufenthaltes nichts unterlassen, was dazu führen konnte, und selbst einen persönlichen Besuch bei Wagners einflußreichstem politischen Gegner, dem Grafen Beust, nicht unterlassen, ohne jedoch zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen. Das muß man wissen, was das ist, mit meinen Gefühlen Deutschland gegenüber zu stehen, alles vergebens versucht zu haben, um mich dort niederlassen zu können, endlich, widerwillig, sich in Paris ansiedeln zu müssen, eine so leidende Frau zu haben, der ich aus absolut nötiger Schonung alle nur ruhigen angenehmen Aussichten eröffnen darf, und nun, wo ich die Unterstützung der günstigsten Umstände nötig hätte, nichts wie Rückgängigkeiten, Verzögerungen und Mißgeschick zu erfahren!18 Wirklich sah es für ihn in Deutschland in jedem Sinne traurig aus. Zwar war in Wien zur Feier des Namensfestes der Kaiserin (19. November) nun auch der ›Tannhäuser‹, mit Grimminger in der Titelrolle, zum ersten Male über die Bühne der Hofoper gegangen, aber wieder ohne Tantieme-Bewilligung, bloß gegen eine einmalige Abfindung des Autors. Dresden, das damals ebenfalls keine Tantieme kannte, feilschte [228] mit ihm um das Honorar für den erst ganz kürzlich (6. August) zur Aufführung gelangten ›Lohengrin‹, und zahlte ihm dafür schließlich bloß fünfzig Louisd'or, d.h. 200 Francs weniger als für seine früheren Werke.19 In dem einzig Tantieme-gewährenden Berlin standen überhaupt wieder einmal gar keine Aufführungen in Aussicht, da – der dortige Tenorist seine Stimme verloren. In Weimar endlich hielt, unter Dingelstedts Ägide, statt des immer noch hingehaltenen ›Rienzi‹, Meyerbeers ›Prophet‹ nachträglich seinen glänzenden Einzug!20 Mit dem Unmöglichwerden der Karlsruher Aufführung seines jüngsten Werkes verblichen nun aber auch alle ferneren, daran geknüpften Hoffnungen. Einmal unter seiner leitenden Mitwirkung zu mustergültiger Darstellung gebracht, hätte er seinen ›Tristan‹ dann auch, gleich seinen Vorgängern, den übrigen Theatern Deutschlands überlassen. Ihm genügte die Aussicht, mit seinen Werken in Zukunft ebenso verfahren zu dürfen, und Paris würde für ihn dann lediglich das Interesse gehabt haben, mit welchem er es von vornherein aufgesucht: die bloße Anziehungskraft eines ruhigen Domizils, ohne daß er deshalb an eine Übersiedelung auch seiner Werke auf die Pariser Bühnen zu denken brauchte. Dies alles änderte sich nun plötzlich, als er aus Karlsruhe die bestimmte Meldung erhielt, man habe von einer dortigen Aufführung des ›Tristan‹ für jetzt definitiver Weise Abstand genommen. Der Pariser Aufenthalt gewann somit jetzt für ihn notgedrungen einen anderen Sinn. Die Beziehungen zu seiner hiesigen Umgebung, bis dahin, wenn auch nicht zurückgewiesen, so doch auch nicht gesucht hatte, galt es nun anzuknüpfen und soweit zu führen, daß ihm an seinem Wohnsitz selbst die Möglichkeit guter Vorstellungen seiner Werke und insbesondere seines ›Tristan‹ geboten würde.

Wie gern hätte er sich über alle diese Dinge recht aus dem Grunde seines Herzens mit Liszt ausgesprochen! Nach Venedig und Luzern hatte ihm dieser noch geschrieben, er würde seine Übersiedelung nach Paris schon deshalb gern sehen, weil er ihn dort öfter besuchen könnte. Eine Einladung zu einem [229] zweitägigen Rendez-vous in Straßburg mit der Aussicht auf ›einige gepreßte hastige Tage‹ in einem dortigen Gasthof genügte ihm nicht. ›Ich will Dich genießen, will mit Dir einige Zeit leben, da wir so wenig noch mit uns lebten. Ich kann Dir in meiner Nähe – sehr abgelegen – eine Wohnung besorgen; bei mir bringen wir die Tage zu; Du siehst bei mir, wen Du willst. Oder mußt Du immer zugleich ein öffentlicher Mensch neben dem intimen sein? Sieh', das verstehe ich nicht; mein ganzes armes verlassenes Leben macht mich unfähig eine Existenz zu fassen, die bei jedem Schritt die volle Welt mit im Auge hat.‹ Ganz eigentümlich berührte es ihn, von einem Verweilen der Fürstin Wittgenstein in Paris erst nachträglich zu vernehmen, nachdem sie diesem Orte bereits wieder den Rücken gekehrt. ›Daß die Fürstin mich nicht aufzusuchen wußte, hat mich ungemein geschmerzt. Ihren sehr wertvollen Brief verstehe ich nicht. An meiner unwillkürlichen freudigen und herzlichen Begegnung würde sie beim Wiedersehen sogleich wieder erkannt haben, was sie mir ist. Sie hat das oft erfahren, und wird mich gewiß nie im Verdacht der Affektation gehabt haben.‹ Konnte auch Liszts wahre Freundschaft für ihn nie und unter keinen Umständen eine innere Änderung erleiden, so legte sie ihm doch durch seine auffallende Zurückhaltung gerade während der ganzen Pariser Periode eine schwer ertragene Entbehrung auf. Desto aufrichtiger erfreute ihn die gleichmäßig fortdauernde Teilnahme Wesendoncks. Mit ihm blieb er seit seiner Übersiedelung in regelmäßiger brieflicher Verbindung. Sehr deutlich empfand er, daß der starke und anhaltende moralische Aufschwung, ohne den eine wahre Freundschaft für ihn nicht denkbar war, nicht von seinem biederen und rechtlichen Freunde allein ausging. Ohne Frau Wesendonck, als eigentliches Bindeglied, hätte diese Beziehung nicht die schöne und gleichmäßige Dauer gehabt. Diesem freudigen Bewußtsein gibt er in einem, an die letztere gerichteten Briefe einen warmen und feierlichen Ausdruck. ›Kinder‹, heißt es darin, ›daß wir Drei sind, ist doch etwas wunderbar Großes. Es ist unvergleichlich, mein und Euer größter Triumph! Wir stehen unbegreiflich hoch über der Menschheit, unbegreiflich hoch! Das Edelste muß einmal Wahrheit werden: und das Wahre ist so unbegreiflich, weil es so ganz für sich ist. Genießen wir dies hohe Glück: es hat keinen Nutzen, und ist zu nichts da – nur genossen kann es werden, und nur von denen, die selbst es sich sind. –‹21

Es war unausbleiblich, daß seine Pariser Niederlassung den französischen Journalisten reichlichen Stoff zu allerlei Vermutungen über die voraussichtliche baldige Aufführung einer seiner Opern gewährte. Noch hatte er den Boden von Paris nicht betreten, als die ersten Aufstachelungen und spannenden [230] Neuigkeiten der Presse ihren Anfang nahmen. Unter den französischen Blättern das vorlauteste, wußte der ›Figaro‹ seinen Lesern selbst mit der Hoffnung zu schmeicheln, der ›berühmte Kompositeur‹ werde für die Pariser eigens eine Originaloper schreiben; demnächst wurden seine Beziehungen zu Carvalho und demThéâtre lyrique jedesmal der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die wohldisziplinierte Art des Angriffes, beziehungsweise der Abwehr des unberechenbar gefährlichen Einflusses, den seine Werke, sollten sie auch in Frankreich Terrain gewinnen, auf den Geschmack der großen Nation, auf ihr Wohlgefallen an der bisher ohne Störung ihr verabfolgten Geistesnahrung ausüben konnten, verglich Wagner später selbst einmal mit einem auf ihn gerichteten, unausgesetzten und bestkommandierten, Pelotonfeuer. Auch die tiefere Ursache davon konnte ihm unmöglich entgehen; sie lag keineswegs in irgendwelchem nationalen Gegensatz. Noch immer war der von ihm erstrebte Boden der Pariser Theater das unbeanstandete Eigentum Meyerbeers. Berlin, Paris, London blieben nach wie vor seine eigentlichen Stützpunkte und uneinnehmbaren Festungen. Wer es mit dem Komponisten des ›Propheten‹ hielt – und dies war bei den unzähligen Feuilletonisten der großen und kleinen Tagesblätter aus tausend, zum Teil handgreiflichsten Gründen meist der Fall – hatte seine Stellung gegen dessen gefährlichsten Rivalen nicht erst zu wählen. Um uns dafür der geschmackvoll umschreibenden Wendung eines bekannten Musikforschers zu bedienen: ›die Pariser Journalistik hing mit ihren materiellen Interessen zu fest an der nächsten Vergangenheit, um die eigene Lebensfrage ohne weiteres der neuen Erscheinung zum Opfer zu bringen.22 Oder mit Herweghs Worten: ›Es galt eine Schlacht gegen eine, mit dem besten Kriegsmaterial, mit Geld, ausgerüstete Koalition.‹23 Und Wagner unternahm diese Schlacht ohne alle Geldmittel, ohne jedes kapitalistische Gegengewicht, einzig durch die Macht seines Genius und seiner [231] ungeschützten, einzelnen Persönlichkeit, über welche das Pariser Publikum bereits damals ›durch Journale und müßige Plauderer täglich die abgeschmacktesten Dinge erfuhr‹. Die wunderlichsten typischen Vertreter der Pariser musikalischen Kritik, teils im speziellen Dienste des großen Alleinbeherrschers der Oper, teils konservative Originale, welche gleicherweise über Meyerbeer und Gounod, über Berlioz und Wagner den Stab brachen, die Scudo, Fiorentino, Azevedo, die Jouvin, Chadeuil und Prevost, begannen in Voraussicht eines heißen und entscheidenden Kampfes zeitig die Schneiden ihrer Schwerter zu schärfen. Schon zündeten einige gegen ihn geschleuderte Stichworte, die den deutschen Künstler als den ›terrible revolutionnaire‹, den ›Marat der Musik‹ bezeichneten; Berlioz mußte dem letzteren Vergleich zu seinem nicht geringen Verdruß als ›Robespierre‹ die Folie bieten. Den heftigen und leichtfertigen Angriffen gegenüber, welche die ›Revue des deux mondes‹, der ›Siècle‹ und besonders der ›Figaro‹ gegen ihn brachten, sah Wagner sich endlich zu einer Erwiderung genötigt, zu der ihm die ›Europe artiste‹, ein Blatt, das ihn schon mehrmals in Schutz genommen, bereitwillig ihre Spalten öffnete. Es heißt in diesem in seiner Einfachheit tief ergreifenden Schriftstücke: ›Seit zehn Jahren bin ich aus Sachsen verwiesen und folglich aus ganz Deutschland verbannt. Ich habe seitdem in der Fremde zwei Opern (?) komponiert, deren (?) eine, »Lohengrin«, in Deutschland mit Erfolg aufgeführt wird, die ich aber wegen Mangel eines Orchesters nie gehört habe. Ich bin nach Frankreich gekommen, um wo möglich meine Musik vor einigen Freunden aufführen zu lassen. Ich vermeide den Lärm und die Reklame. Ich bin fremd, verbannt und habe von Frankreich Gastfreundschaft und freundliche Aufnahme erwartet. Man nennt mich den »Marat der Musik«. Meine Kompositionen haben keine solche Umsturztendenz, wie man zu sagen beliebt. Selbst der König, der mich verbannt hat, läßt in seiner Residenz meine Opern aufführen und schenkt ihnen Beifall. Die französische Presse möge noch etwas warten; vielleicht wird sie mich dann anders beurteilen, als bloß nach der Aussage einiger deutscher Zeitungen. Ich verlange nichts anderes, als Unparteilichkeit.‹24

Zu dieser würdig maßvollen Entgegnung auf die maßlosen und abenteuerlichen Journalistenausfälle in den größten Preßorganen Frankreichs bestimmte den Meister die Absicht, sich für die Ausführung eines mittlerweile in ihm gereiften Entschlusses den Boden zu bereiten. Seine schwierige Lage [232] nach der Zerstörung seiner auf Karlsruhe gesetzten Hoffnungen gab ihm den Gedanken ein, für das kommende Frühjahr ihm bekannte vorzügliche Sänger und Sängerinnen nach Paris einzuladen, um mit ihrer Hilfe im Saale der Italienischen Oper die ihm so sehr am Herzen liegende Musteraufführung seines ›Tristan‹ zustande zu bringen. Zu dieser wollte er die Dirigenten und Regisseure sämtlicher ihm befreundeten deutschen Theater ebenfalls einladen, um so dasselbe zu erreichen, was er zuvor mit der Karlsruher Aufführung im Sinne gehabt. Als Termin für diese Aufführungen dachte er sich den Mai und Juni 1860. Im April sollten die Studien beginnen. Das um diese Zeit (vom 1. Mai ab) alljährlich frei werdende Théâtre italien sollte unmittelbar nach dem Schlusse der Saison eigens für diesen Zweck gemietet und von der deutschen Operngesellschaft zu ihren Studien und Aufführungen bezogen werden. Da er unter den ihm bekannten und befreundeten Künstlern die vorzüglichen Sangeskräfte, wie Tichatschek, Niemann, Formes, Mitterwurzer, den Bassisten Dr. Schmid, die Damen Frau Bürde-Ney, Meyer-Dustmann, Csillagh u.a. im allgemeinen bereit fand, seiner Einladung Folge zu leisten, und es selbst tunlich erschien, fünfzehn deutsche Choristen als Kern des Chores zu gewinnen, durfte er auch daran denken, den Plan dieser ›Tristan‹-Aufführung, der Versammlung so auserlesener Kräfte gemäß, dahin zu erweitern, daß mit derselben eine Aufführung des ›Tannhäuser‹ und seines – von ihm noch nicht gehörten – ›Lohengrin‹ verbunden würde. Wie die Dinge lagen, vermeinte er auch die dereinstige Realisation seiner ›Nibelungen‹ schließlich einzig und allein auf der Grundlage von Pariser Erfolgen zu ermöglichen. ›Ob diese und der Tristan je aufgeführt werden, kümmert ja in Deutschland keinen Menschen, vor allem meine näheren Freunde nicht im mindesten.‹ Doch mußte vor allem die materielle Ermöglichung des ganzen Vorhabens bewirkt werden, und eben hierdurch ward er vor der Hand noch zu einem anderen Unternehmen geführt.

Ein geschäftlicher Leiter für die beabsichtigten Aufführungen des nächsten Sommers war in der Person eines der Eigentümer des italienischen Operntheaters leicht gefunden. Schwieriger war der Gewinn der finanziellen Garantie eines Kapitalisten. Zur Übernahme dieser letzteren mußte einem wohlwollenden reichen Manne, dem Freunde eines seiner Pariser Freunde (Gasperini), Mut gemacht werden. Da andererseits die Ausführung seines Planes ohne eine namhafte Beteiligung des Pariser Publikums unmöglich war, mußte er zuvor dieses selbst, trotz aller gegen ihn gerichteten Journal-Manöver, durch eine wirkliche Anhörung seiner Musik zur Teilnahme dafür zu bestimmen suchen. Hierbei fühlte er sich denn wieder in dem ›ewig jugendlichen Zustande eines Debütanten‹. In humoristischer Darlegung führt er dies gegen Wesendonck aus: ›Nachdem ich diese Rolle längere Zeit in Deutschland gespielt und dort fortgegangen war, als ich anfing mich im Repertoire [233] festzustellen, hatte ich in Zürich dasselbe durchzumachen, d.h. den Leuten die etwas von mir kennen wollten, durch alle die schwierigen Hilfsmittel desjenigen, dem die wahren Mittel der Ausführung nicht zu Gebote stehen, einen vorläufigen Begriff von seinen Manuskriptwerken beizubringen. Nachdem ich nun dort endlich durch Hilfe vortrefflicher Theaterunternehmungen in das gehörige Fach eingestellt worden bin, geht es hier in Paris wieder von neuem los; immer bleibe ich der Anfänger, der sich erst bekannt zu machen hat. Vermutlich komme ich mir auch deswegen immer noch so jung vor: das Alter mit seinen Früchten will sich gar nicht einstellen.‹25 Aus all diesen Erwägungen und zugleich auch dem dringenden Wunsche seiner Pariser Freunde Rechnung tragend, bestimmte er sich zu dem Entschlusse, zu Beginn des neuen Jahres auf eigene Rechnung und Gefahr drei große Konzerte zu veranstalten, in welchen er, unter dreimaliger Wiederholung des gleichen Programmes, Bruchstücke seiner Musik von einem großen Orchester und – wie dies in Paris nicht anders möglich – mit sehr bedeutenden Unkosten ausführen lassen wollte.

Mit einem Projekt dieser Art inmitten der fremden Weltstadt war über Vieles entschieden. Mit der ersehnten Schaffensstille war es für längere Zeit völlig aus. Tatsächlich stürzte er sich damit in ein Meer von Unruhen, aus dem er erst nach Jahren wieder auftauchen sollte. Zwar führte ihm sogleich diese allererste Betätigung eine Anzahl überzeugter Verehrer und Freunde zu, die er den achtungswertesten und liebenswürdigsten Elementen des französischen Geistes zuzählen durfte.26 Aber dieser Gewinn war schwer erkauft. Zunächst haben wir an dieser Stelle noch der Erneuerung einer früheren Bekanntschaft mit einer deutschen Landsmännin zu gedenken, der er zuerst in London begegnet war, und die ihm von dieser erneuten Begegnung an bis zum Ende eine der treuesten unter seinen Getreuen verblieben ist. ›Im Jahre 1859‹, so erzählt Malvida von Meysenbug, ›führte mich der Zufall wieder mit ihm zusammen, eines Abends in Paris, in einem Konzert, wo er mit seiner Frau die Plätze gerade vor mir einnahm. Zwar hatte unser Zusammentreffen in England (S. 78/79) keinen freundlichen Charakter gehabt, und ich wußte nicht, ob es ihm genehm sein würde, mich wieder zu sehen. Aber ich wollte es doch ehrlich versuchen. Ich fühlte, daß ich ihn verstand, und kam ihm mit der reinsten Huldigung für seinen Genius entgegen. So, dachte ich, wird sich auch die Brücke finden, auf der ich zu ihm gelange. Ich wandte mich zu ihm und begrüßte ihn. Er erkannte mich und sagte freundlich: »Ach ja, bei Ihnen habe ich auch etwas gut zu machen; ich war damals sehr schlechter Laune; daran waren aber bloß die englischen Nebel schuld.« Er machte mich mit seiner Frau bekannt und lud mich ein, ihn zu besuchen. Es verstand sich von selbst, daß ich bald von dieser Einladung Gebrauch machte, [234] und von nun an wuchs die verehrende Freundschaft, die aus der Ferne begonnen hatte, in der Nähe mit jedem Tage.‹27

Es erscheint uns am Platze, an dieser Stelle den Gang unserer Erzählung so weit zu unterbrechen, daß wir einigen der wertvollen und lebendig anschaulichen Erinnerungen dieser bewährten Freundin an das äußere Leben des Meisters und seine damaligen freundschaftlichen Beziehungen eine Stelle einräumen. Sie schildert zunächst das kleine Haus in derRue Newton; es habe reizend behaglich darin ausgesehen, besonders Wagners Arbeitskabinett und das Musikzimmer daneben seien, wenn auch klein, doch von künstlerischer Bedeutung gewesen. ›Hier nun singen eine Reihe glücklicher Stunden an: Wagner erschien mir jetzt erst im rechten Licht. Die Londoner Nebel waren gewichen und mit staunender Freude sah ich diese gewaltige Persönlichkeit sich vor mir enthüllen.‹ ›Leider verstand ich bei meinen wiederholten Besuchen immer tiefer, daß der Freund in seinen häuslichen Verhältnissen nicht glücklich war. Es wurde mir klar, daß seine Frau so wenig zu ihm passe, daß sie nicht imstande war, ihn über die Mißverhältnisse und die Ungunst seiner Lebenslage zu erheben oder sie mit Seelengröße und weiblicher Anmut versöhnend zu mildern. Dem so ganz von seinem Dämon Beherrschten hätte von jeher ein hochgesinntes, verständnisvolles Weib zur Seite stehen müssen – ein Weib, die es verstanden hätte, zwischen dem Genius und der Welt zu vermitteln, indem sie begriffen hätte, daß diese beiden sich ewig feindlich zu einander verhalten. Frau Wagner hatte dies nie erkannt. Sie wollte vermitteln, indem sie von ihm Konzessionen an die Welt verlangte, welche er nicht bringen konnte, nicht bringen durfte. Aus dieser gänzlichen Unfähigkeit, das Wesen des Genius und die daraus entspringenden Folgen in seinem Verhältnis zur Welt zu begreifen, entstand nun fast tägliche Pein und Qual im Zusammenleben, das durch die Kinderlosigkeit der Ehe auch noch des letzten versöhnenden und mildernden Elementes entbehrte. Dennoch war Frau Wagner eine gute Frau und in den Augen der Welt entschieden der bessere und leidende Teil. Ich entschied anders und empfand ein grenzenloses Mitleid mit Wagner, dem die Liebe hätte die Brücke bauen müssen, über die er zu den anderen Menschen hinüberschritt, und dem sie statt dessen den bitteren Kelch des Lebens noch bitterer machte. Ich stand übrigens recht gut mit Frau Wagner: sie war freundlich und vertrauensvoll mit mir und kam oft, mir ihr häusliches Leid zu klagen. Ich tat dann, was ich konnte, um sie zu einem besseren Verständnis ihrer Lebensaufgabe zu bringen, allein natürlich vergeblich. Es war ihr in fünfundzwanzigjähriger Ehe nicht aufgegangen und konnte es auch nicht, eben ihrer innersten Natur nach. Ich lernte im Hause Wagners, [235] unter mehr oder minder interessanten Persönlichkeiten auch Blandine Ollivier, die Tochter Liszts und Gattin Emil Olliviers, kennen, eine wundersam fesselnde Erscheinung. Dieses holdselige Wesen verband die Grazie der Französin und einen seinen, witzigen, fast sarkastischen Geist mit einem tiefen seelischen, weiblichen Element, das, im Verein mit ihrer edlen Erscheinung, sie unwiderstehlich anziehend machte. Sie war mit Wagner, als dem Freunde ihres Vaters, von Kindheit auf bekannt. Wir trafen einander oft in seinem Hause und waren beide der Ansicht, daß wohl kaum jemals zwei unpassendere Menschen (als Wagner und seine Frau) zu einem so engen Bunde zusammengeführt worden seien.‹28

Im Zusammenhang mit seinen Pariser Konzert- und Aufführungsprojekten standen auch seine damaligen (bis in den folgenden Sommer sich hinziehenden) Verhandlungen mit dem Pariser Musikverleger Flaxland wegen des Verlagsrechtes seiner Werke für Frankreich.29 Einigermaßen überraschend kam ihm, nach seinen langjährigen Erfahrungen in diesem Betreff, ein unerwartetes Anerbieten des Musikverlegers Franz Schott in Mainz. Dieser bewarb sich, ganz aus eigenem Antriebe, um das ehrenvolle Vorrecht, eines seiner großen dramatischen Musikwerke für seinen Verlag bewilligt zu erhalten. Wagner erwiderte ihm sofort, in einem Briefe vom 11. Dezember, um ihm seine prinzipielle Befriedigung über das Anerbot zum Ausdruck zu bringen, hielt sich indeß, seiner mit Wesendonck getroffenen Übereinkunft gemäß, nicht für berechtigt, die vollendeten Teile seines ›Ring des Nibelungen‹ dazu anzubieten, bevor er sich nicht mit diesem darüber geeinigt. Da nun Wesendonk kürzlich, für das Winterhalbjahr, mit seiner ganzen Familie nach Rom gegangen war, verzögerte sich dessen zustimmende Antwort um etwa vierzehn Tage, so daß er dem Mainzer Hause seine definitive Bereitwilligkeit, zunächst für das ›Rheingold‹, nebst seinen daran geknüpften Forderungen, erst am Weihnachtstage 1859 melden konnte und die Verhandlungen darüber, da zunächst sein Pariser Konzertunternehmen ihn ganz beanspruchte, sich noch bis in das folgende Frühjahr zogen. Und noch eine andere, wirklich rührende Überraschung ward ihm in eben diesen Weihnachtstagen durch eine huldigende Zusendung aus der Heimat seitens eines, ihm bis dahin fast gänzlich unbekannten Verehrers zuteil. Es war ein, in Dresden ganz zurückgezogen privatisierender Schriftsteller, namens R. Weiland, dessen empfängliches Gemüt aus seinen Werken einen tiefen, sein ganzes Leben bestimmenden Eindruck erhalten und der nun aus dankbarer Sympathie für den verbannten [236] Meister sich dazu gedrungen fühlte, diesem einen sinnigen Gruß zu übersenden.30 Hierzu hatte er durch den kunstreichsten Goldschmied der Elbresidenz nach seinen Angaben eine eigene Huldigungsgabe ausführen lassen: ein silberner Schild, auf rotsammetnem Postamente ruhend, und am Rande mit Vignetten aus Wagners Werken geschmückt, bildete die Grundlage für einen darauf liegenden ungeschlossenen Kranz, halb aus Lorbeer-, halb aus Eichenblättern, an den Stielen von einer goldenen Schleife zusammengehalten. Dem Kranz war eine silberne Rolle mit musikalischen Themen aus den sämtlichen Werken (bis zum ›Tristan‹) durchsteckt. In einem freudig herzlichen Briefe brachte der Meister dem Urheber dieser wundervollen Überraschung seine Dankesempfindung zum ergreifenden Ausdruck. ›Ich konnte mich‹, heißt es darin, ›immer noch über manchen meiner Kunstgenossen lustig machen, der von da und dort her, von oben und unten empfangene Geschenke, Huldigungen und Schmeicheleien angehäuft hatte; ich konnte ihm sagen, weder Orden noch Ehrentitel, ebensowenig sonst irgend ein Zeichen der Huldigung je empfangen zu haben‹. Um so schöner, edler und sinniger habe er nun dafür den Eindruck einer solchen schmeichelnden Überraschung an sich erfahren. ›Ihnen aber sollte ich diesen belebenden Eindruck zu danken haben, dem schlichten Manne, der mich nur einmal flüchtig persönlich kennen gelernt, der aber in seiner tief innigen Teilnahme für den stets Fernen sich getrieben fühlte, mit sinnreichem Vorbedacht und kenntnisvoller Anordnung seiner Sympathie einen Ausdruck zu geben. Ihre freundliche Tat ist mir unendlich wert, ein schöner Lohn, eine reiche Verkündigung und rührende Aufforderung.‹

Fußnoten

[237] 1 Brieflich an Wesendonck, September 1859.


2 ›Bayreuther Festblätter‹ 1884, S. 41.


3 Léon Leroy in den ›Bayreuther Festblättern‹, München 1884, S. 41.


4 In der Nähe der Champs Elysées gab es damals (wie auch noch jetzt) zahlreiche sogenannte ›Hotels‹, d.h. ganze, bloß von einer Familie zu bewohnende, meist schon mit fertiger eleganter Einrichtung versehene einzelne Läufer mit kleinen Gärten.


5 Gasperini, Richard Wagner S. 52/53.


6 Ebendaselbst S. 52.


7 An Liszt, II, S. 259.


8 Vgl. Leroy a. a. O. S. 41.


9 Brieflich an Wesendonck, 27. Oktober 1859.


10 Gasperini a. a. O. S. 53/54.


11 Brieflich an Wesendonck, 27. Okt. 1859.


12 So bringt die N. Berl. Musikzeitung die Notiz: ›Karlsruhe, Mitte November: Das Hauptereignis unseres theatralischen Lebens ist die Zurücklegung von Richard Wagners »Tristan und Isolde« wegen Unausführbarkeit. Dahin hat es kommen müssen; jetzt erst ist der so oft angefochtene Name »Zukunftsmusik« erst recht am Platze: die Gegenwart kann diese Musik noch nicht einmal exekutieren. Angeblich geschah die Zurücklegung wegen unserer Sängerinnen; nach glaubwürdigen Berichten sind aber die an das Orchester gestellten Zumutungen ebenfalls exorbitanter und unerfüllbarer Art.‹ (N. Berl. Musikzeitung 28. Dez. 1859).


13 An Wesendonck, 27. Okt. 1859.


14 An Liszt, Briefwechsel, Band II, Seite 261/62.


15 Vgl. Band I, S. 441. 449


16 Vgl. Wagners rührend zärtlichen, von der Vereitelung dieses Besuches handelnden Brief aus Venedig vom 9. Oktober 1858 an den alten Getreuen.


17 Die Ziegen-Oper ›Dinorah‹ oder ›die Wallfahrt nach Ploërmel‹ war damals kürzlich (4. April 1859) zum erstenmal über die Bühne der Opéra comique gegangen. Nachdem sie sich bereits in ihrer ersten flüchtigeren Bearbeitung in unzähligen Aufführungen den gebührenden Beifall erlangt, zog sie Meyerbeer noch einmal zurück, um sie ein Jahr später mit einigen Veränderungen am 24. Oktober 1860 (während der Vorbereitungen zum Pariser ›Tannhäuser‹!) aufs neue zur Aufführung zu geben. ›Nichts ist gespart, um das Werk seinem außerordentlichen Werte entsprechend würdig vorzuführen‹, ließ sich die ›Neue Berliner Musikzeitung‹ schreiben.


18 An Tichatschek, 24. November 1859.


19 ›Für den Rienzi und Tannhäuser hat Dresden mir seiner Zeit 60 Louisd'or gezahlt; ich dachte, man würde nun für den Lohengrin dort wenigstens dasselbe geben. Ja, da der Intendant gegen Dich ganz besondere Miene machte, und nachdem er jetzt die große Zugkraft meiner Opern erfahren, glaubte ich mindestens, er würde sich einmal recht honorig zeigen wollen, und sich etwa bis auf 100 Louisd'or versteigen; zumal er erst besonders darüber an den König berichten wollte ... Es ist zu schändlich, wie man bei Euch mit uns armen Teufeln von Autoren umgeht. In Frankreich lachen einem die Leute geradewegs ins Gesicht, wenn man ihnen sagt, wie es dort in diesem Bezug steht‹. (An Tichatschek, 4. Nov. 1859.)


20 Höhnisch bemerkte dazu sein alter Londoner Widersacher Davison im ›Musical World‹: Meyerbeers Prophet erlangte in der erklärten Wagner-Hauptstadt den größten Erfolg; Dr. Liszt ist niedergeschlagen, Cornelius liegt in Krämpfen. Wir wollen hoffen, daß dies den Anfang einer neuen, besseren Epoche (!) bezeichne.


21 Brief an Wesendonck, vom 29. Nov. 1859, veröffentlicht durch A. Heintz, Allgemeine Musikzeitung 1898, Seite 5.


22 Ed. Schelle, der Tannhäuser in Paris und der dritte musikalische Krieg. Leipzig 1861, S. 10.


23 Vgl. dazu die sehr offenherzigen Angaben von Meyerbeers Biographen, dem Dr. Kohut: ›Meyerbeer liebte die Reklame sehr und soll derselben, wie seine Gegner behaupteten, sehr viel Geld geopfert haben.‹ Er wußte wohl, daß es ihm nicht verloren ging, selbst wo er es in kaltblütiger Berechnung zu Tausenden ausstreute. ›Man kann es wohl heute unumwunden aussprechen, daß, wenn der Komponist nicht reich genug gewesen wäre, seinen Ruhm vorzubereiten, wenn nicht zu bezahlen, Frankreich wahrscheinlich dieses Meisterwerkes beraubt worden wäre.‹ ›Der Presse legte er die größte Bedeutung bei und wußte sich deren Anerkennung auf jede Weise zu erzwingen.‹ ›Um seinen Angreifern und Gegnern den Mund zu stopfen, wandte er allerdings manchmal recht schlaue Mittel an.‹ ›Besonders tatkräftig unterstützte er Künstler, Dichter und Schriftsteller und er gab, was so wenige kennen, mit Takt und Diskretion.‹ Im übrigen gewann er die Presse durch sein ›liebenswürdiges Benehmen‹ etc. etc. Die näheren Ausführungen aller dieser einzelnen Sätze (im Sinne ihres Schreibers ebenso vieler Belobigungen seines merkantilen Genies!) lese man direkt in Dr. Kohuts Meyerbeer-Biographie S. 32. 51. 77. 80–82. etc.


24 Zitiert nach den ›Signalen‹ v. 8. Dez. 1859, denen aber bei ihrer Mitteilung nicht das deutsche Original dieser Zuschrift vorgelegen hat, sondern eine Rückübersetzung aus dem Französischen. Daraus erklärt sich die jedenfalls ungenaue Wiedergabe des zweiten Satzes von den ›seitdem in der Fremde komponierten zwei Opern‹, von denen die eine – ›Lohengrin‹ sein soll! Vielleicht war das ganze Schriftstück auch nicht eigenhändig von Wagner sondern in seinem Auftrage etwa von Gasperini abgefaßt?


25 Brieflich an Wesendonck, 12. Dez. 1859.


26 Ges. Schr. Band VI, Seite 381.


27 M. v. Meysenbug, ›Genius und Welt‹ in der 4. vermehrten Auflage der ›Stimmungsbilder‹ (Berlin, Schuster und Löffler 1905), ergänzt aus den ›Memoiren einer Idealistin‹, Bd. III, S. 258.


28 ›Memoiren einer Idealistin‹, Bd. III, S. 258/59. 286/87.


29 Vgl. die stark vorgreifende Pariser Notiz der N. Berl. Musikzeitung v. 18. Januar 1860: ›Herr R. Wagner, der seit einigen Monaten unter uns weilt, hat seine Tonschöpfungen »Lohengrin«, »Tannhäuser«, »Der fliegende Holländer« Herrn Musikverleger Flaxland für Frankreich verkauft.


30 Richard Weiland, geb. 1829 als der Sohn des Historienmalers Wilhelm Weiland, kurze Zeit als Schauspieler tätig, dann als unabhängiger Schriftsteller in seiner Vaterstadt lebend.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 3, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 217-238.
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Große Erzählungen der Hochromantik

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Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

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