Einleitung

[3] Doch Bachs Geist, der deutsche Geist, trat aus dem Mysterium der wunderbarsten Musik, seiner Neugeburtsstätte, hervor. Als Goethes ›Götz‹ erschien, jubelte es auf: ›Das ist deutsch!‹

Richard Wagner.


Im Jahre 1750 konnte Voltaire in einem Briefe von Berlin aus schreiben: ›Ich lebe hier in Frankreich; man kennt nur unsere Sprache. Deutsch ist nur für die Pferde und für die Soldaten.‹

Aus den hochmütigen Worten des eitlen Emissärs französischer Zivilisation fällt ein greller Lichtschein auf den damaligen Zustand deutscher Bildung. Der Nation war in der Ohnmacht einer tiefen Erschöpfung am Ende selbst ihr letztes Gut, die eigene Sprache, abhanden gekommen. Lateinisch war Rede und Schrift des Gelehrten, italienisch des Sängers und Musikers, französisch des Adels und der vornehmen Welt; mit französischen Floskeln zierte sich der Verkehr des Bürgers; deutscher Atem, deutsche Zunge schien einzig in Dorf und Winkel, auf Flur und Feld, in die Werkstatt und hinter den Pflug entwichen. Und während so die Ausrottung deutschen Namens und Wesens vollständig geglückt und besiegelt schien, schloß eben, vergessen und einsam, von schweren Lebenssorgen bedrückt, der Leipziger Thomaskantor Sebastian Bach sein müdes Auge, die Seinigen in Armut und Entbehrung zurücklassend. Von ihm sagt Wagner, er habe ›während des grauenvollen Jahrhunderts der gänzlichen Erloschenheit des deutschen Volkes die Geschichte des innerlichsten Lebens des deutschen Geistes‹ repräsentiert.

Auf ein solches innerliches Weiterleben angewiesen war alles, was sich von diesem Geist aus den blutigen Erschütterungen verwüstender Glaubenskämpfe gerettet. In tiefer Entkräftung nach innen wie nach außen war dem Deutschen die verhängnisvolle Tugend der Geduld zu eigen geworden. Er hatte es gelernt mit dem Unwürdigen sich auf erträglichen Fuß zu stellen, empörender Bedrückung den passiven Widerstand einer zähen Ausdauer entgegenzusetzen. Gegenüber dem prahlenden Glanz seiner Fürstenhöfe und ihrer selbstsüchtig verächtlichen Politik, die so grenzenloses Elend über das Land gebracht, bewahrte er seinem jeweiligen ›verehrten und geliebten Landesherrn‹ [3] auch dann noch sein unwandelbar langmütiges Vertrauen, wenn dieser – wie in Siegfried Wagners ›Herzog Wildfang‹ – seine Untertanen an den fremden Unterdrücker verkaufte. Aber schon saß auf dem preußischen Throne der Mann mit den großen grauen Feueraugen, vor dessen Krückstocke bald ganz Europa Respekt gewinnen sollte. Der Beschützer des französischen Geschmackes in der Literatur – weil er keinen anderen Geschmack kannte und deutsches Wesen ihm immer nur erst noch unter der abschreckenden Maske einer steifen und ungeschickten Pedanterie begegnet war –, der Freund und Zögling französischer Bildung bewies auf dem Schlachtfelde von Roßbach zum ersten Male wieder die deutsche Kraft. ›Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensinhalt kam in die deutsche Dichtung durch Friedrich den Großen und die Taten des siebenjährigen Krieges‹, sagt Goethe von ihm, und wie die wiedergewonnene Sprache der deutschen Muse in den ›Kriegsliedern eines preußischen Grenadiers‹, noch spröde und ungelenk, sogleich zum Volke sich wandte, kehrte nun auch von unten nach aufwärts deutscher Sinn und deutsche Rede in neu erblühenden städtischen Gemeinwesen zunächst dem Bürgerstande wieder. ›Während das töricht entfremdete Wesen der den französischen Einflüssen fortgesetzt unterworfenen höheren Regionen einer gespenstischen Impotenz verfiel, nahm die gebildete Bürgerschaft an der wiedererweckten Pflege der deutschen Literatur den Anteil, der es ihr ermöglichte, dem unerhörten Aufschwunge des deutschen Geistes, dem Wirken eines Winkelmann, Lessing, Goethe und endlich Schiller zu folgen‹ (Richard Wagner, Ges. Schr. IX, 397)

So war dem wiedererwachenden ›deutschen Geiste‹ zugleich der heimische Boden gewonnen, in den er seine Wurzeln treiben und weithin erstrecken konnte. Um die Zeit, da der fremde gallisch-romanische Geist auf dem weiten Plan eines zertretenen Volkstumes sich als unbeschränkten Sieger fühlte, war bereits ein Goethe geboren und mit dieser Geburt dem Genius des deutschen Volkes ein Unterpfand für seine Erneuerung gegeben. Die in dem großen Bach innerlich verborgene Kraft drängte machtvoll nach außen. Ein jugendgewaltiger Trieb ohnegleichen, eine universale Empfänglichkeit strebte die ganze Welt der Erscheinung der Gebundenheit durch die schöne Form einer idealen Kunst zuzuführen. Der vollkommenste Gegensatz Goethes ward Beethoven, der aus der Tiefe von Sebastian Bachs Wunderschacht die Form nur suchte, um sie durch gänzliche Vergeistigung und Beseelung aufzuheben und von innen heraus zu vernichten. Aber während der Schwung des Goetheschen Geistes den Dichter in seinem größten Werke von der vorhandenen Stätte einer volkstümlichen Kunstausübung zu freieren Höhen fortzog, neigte sich der Genius Schillers, in dem mühevollen Bestreben zur Veredelung des Gegebenen, von der offenen populären Schaubühne zu den aufhorchenden Genossen seiner Zeit herab, um sie in der Folge seiner dichterischen Schöpfungen vom ›Don Carlos‹ bis zur ›Braut von Messina‹ Schritt um Schritt zu sich in das Reich des [4] Ideales zu ziehen. Er verfuhr hierin ganz getreu seinem edeln Grundsatze, der an die Stelle des ungestümen Wunsches nach dem Vorhandensein des Guten und Schönen die strenge Forderung stellt, daß das Vorhandene gut und schön sei. Wie bedeutsam, daß es eben das deutsche Theater war, auf welchem solche Taten vollzogen werden konnten, dasselbe rohe deutsche Volkstheater, das eben noch in den Händen eines Gottsched und unter dem mißverständlichen Einfluß des französischen Vorbildes den wunderlich entstelltesten Anblick geboten. ›Von der höhern Bildung der Nation gänzlich unbeachtet und unberührt, rettet es sich aus den Händen experimentirender Schöngeister der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in die wohlgesinnte Pflege einer redlichen, aber engen bürgerlichen Welt, deren Grundton sein Gesetz der Natürlichkeit wird, auf welches die schnell erblühende poetische Literatur der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sich stützt‹ (Wagner, Ges. Schr. IX, 223). Von der schlichten Natürlichkeit des deutsch-bürgerlichen Schauspiels zur erhabenen Idealität der szenischen Vorgänge des Bayreuther Festspielhauses führt die Bahn, welche die deutsche Kunst im Verlauf ihrer Entwicklung zu durchmessen hatte. Wie mannigfach ist diese Bahn durchkreuzt, ihre vorgezeichnete Richtung unkenntlich gemacht worden; wie oft hat kritische Weisheit seitdem ihre Ausgelebtheit und ihren Verfall konstatiert, da doch vielmehr das gewaltigste künstlerische Genie jene Richtung mit der unentwegten Sicherheit des Magneten festhielt!1

Unter allen, denen das großherzige Beispiel Schillers zur schrittweisen Veredelung des deutschen Theaters, zur Ausbildung einer wahrhaft deutschen ideal-theatralischen Volkskunst gegeben war, ist es einzig Karl Maria von Weber gewesen, der mit gleicher Hingebung das gleiche Ziel im Gebiet des deutschen Singspiels verfolgte. Es blieb ihm nicht erspart, auch die gleichen äußeren Schicksale des Dichters an sich zu erfahren. Gegen beide verhielten die deutschen Höfe und die vornehme Welt sich kalt und ablehnend; beide fanden dagegen in allen Schichten des Volkes unverkennbare Anzeichen eines entgegenkommenden deutschen Instinkts, der ihm eben diese beiden Meister besonders vertraut und innig wert erscheinen ließ – was nicht zu hindern vermochte, daß beide in einem gleich leidenvollen Verschmachten dahinsiechten. – Das Erbe beider Meister, die Weiterführung ihrer Aufgabe, sollte nach ihnen Richard Wagner antreten. Vom Freischütz zur Euryanthe hatte sich Weber auf demselben Wege befunden, auf welchem Schiller von seinen Räubern zur Braut von Messina vorgedrungen war, auf dem Wege zur ›Idea lisierung des Dramas‹, dem der Charakter der Idealität hier durch das Heraustreten aus dem Bereiche des Bürgerlichen in das Historische und Historisch-Sagenhafte, [5] endlich durch Heranziehung des antiken Chores (als lebendige Mauer gegen den Naturalismus), dort von vornherein durch die Mithilfe des verklärenden Elementes der Musik gewährt werden sollte. Nachdem die, Schiller noch fast gänzlich unbekannte, Tonwelt Beethovens die volle Wundermacht deutscher Musik erschlossen hatte, konnte der Weg selbst nicht mehr zweifelhaft sein, allerdings nur für das vermögende Genie. Der willige Glaube aber, der noch Schiller und Weber, wenn auch nicht aus der Sphäre der Macht, entgegengetreten war, – für die durch das Maß seines Könnens unendlich erhöhte Aufgabe Richard Wagners blieb er dem schaffenden und ringenden Künstler allzulange und schmerzlich versagt. Nun steht das Haus auf dem Bayreuther Hügel da, als Ziel und Zeugnis dieses Ringens: es hat sein Publikum, ein wissendes zum Teil, die durch alle Ränge der Gesellschaft weit zerstreute Bayreuther Gemeinde, – doch harrt es noch des ›Volkes‹. Des Volkes, welches hier seiner Aufgabe, der Monumentalisierung dieses, im Vertrauen auf den deutschen Geist errichteten, provisorischen Baues, sich bewußt wird! Allen täuschenden Gaukeleien des modernen Theaterwesens gegenüber halte es fest an der Erkenntnis und Überzeugung: daß das Festspielhaus des Meisters einzig und allein in einer kleinen Stadt, in Bayreuth, zu stehen habe, und daß jeder Versuch einer Verpflanzung desselben in eines unserer, im voraus durch den Meister gerichteten, großstädtischen Kulturzentren dem Willen seines Schöpfers entgegen, eine Veruntreuung seines Gedankens und dem Geiste feindselig sei, aus welchem heraus es entstand und durch welchen es lebendig erhalten wird!

Kehren wir einstweilen, für unsere diesmalige Absicht, dem Ursprunge des großen deutschen Meisters aus dem Schoße und Herzen unseres Volkstumes nachspürend, in die Mitte des deutschen Bürgerlebens zurück, wie es sich seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts freier und ungehemmter zu entfalten beginnt. Von den entzündeten Flammenzeichen der Führer und Träger des erwachenden ›deutschen Geistes‹ strömt durch das laue, dumpfe Halbdunkel der Erstarrung und Apathie ein Licht und eine Wärme, wie es seit fünf öden Menschenaltern nicht empfunden worden war. Aus den freieren Regungen des bürgerlichen Lebens aber schlug dem edeln Wollen vortrefflichster Geister ein verwandtes Fühlen und Streben sympathisch entgegen. ›In Etwas ist jeder Deutsche seinen großen Meistern verwandt‹: für die tiefe Wahrheit dieser herrlichen Worte Wagners kann uns eben der Entwicklungsgang als Beispiel dienen, den der deutsche Sinn in der von uns bezeichneten Epoche genommen hat. Die bis jetzt noch so unvollkommenen Versuche zur Konstatierung der Vorfahren unseres Meisters führen uns zunächst ein Familienbild vor die Augen, in dessen eigener Entwicklung der große nationale Entwicklungsgang sich auf kenntliche Weise wiederspiegelt.

Fußnoten

1 Vgl. die hochbedeutende Arbeit Hans von Wolzogens ›Die Idealisierung des Theaters‹, Leipzig 1885, C. F. Leede. Ursprünglich in den ›Bayr. Blättern‹ (Jahrg. 1884/85) erschienen.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 3-6.
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