[301] Der alten vielgeschmähten deutschen Kleinstaaterei müssen auch ihre guten Seiten nachgerühmt werden. Zwischen den gekrönten Häuptern der vielen Herzogs- und Fürstentümer, welche im politischen Leben wenig bedeuteten, hatte schon während der friedlichen Zeiten der Regeneration, die dem großen Religionskriege folgten, ein rühmlicher Wetteifer in der Pflege von Künsten und Wissenschaften begonnen. Seit der Mitte des achtzehnten Säkulums war es neben dem kostspieligen Theater das wohlfeilere Konzert, welches in der Liebhaberei der Höfe obenan stand. Die Musik verdrängte die anderen Künste um so schneller in der Gunst der Vornehmen, je bereitwilliger sie dilettantischen Neigungen entgegenkam, und vor dem alles gleichmachenden, demokratischen Klavier, dessen Suprematie erst vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts an allgemein anerkannt wurde, erfreuten sich die äußerlich unvollkommeneren Soloinstrumente der Bläser und Streicher besonderer Protektion. Im Streichquartett ließ sich der Souverän sogar höchst eigenhändig zur zweiten Geige oder zur Bratsche herab, falls ihm sein bescheidener Staatshaushalt den Luxus eines Orchesters oder einer reicher besetzten Tafel-und Unterhaltungsmusik nicht gestattete. Das Ziel des fürstlichen Ehrgeizes aber blieb doch der Besitz einer eigenen Hofkapelle, neben der ein geschulter Chor von Singstimmen um so höheren Anwert fand, als er dem Landesvater aus dem Schoße seiner Untertanen von selbst entgegenwuchs und nicht unwillkommene Gelegenheit bot, seiner Leutseligkeit im Kreise hübscher Landestöchter froh zu werden.
Am Fürstenhofe zu Detmold standen Oper und Konzert schon unter der Regierung Paul Alexander Leopolds in Blüte; das Hauptgewicht wurde auf die Oper gelegt, die während des Engagements des Schauspielers, Sängers und Komponisten Albert Lortzing (1826–1833) einen frischen und fröhlichen Aufschwung [301] nahm. Das neue, durch einen antikisierenden Vorbau mit vier dorischen Säulen ausgezeichnete Theater war 1825 mit Mozarts »Titus« eröffnet worden. Hier fand vier Jahre darauf die erste Aufführung von Grabbes Tragödie »Don Juan und Faust« statt, zu welcher Lortzing die Musik geschrieben hatte – das Stück wurde dann sofort wieder verboten – und hier wurden auch die Konzerte der Hofkapelle abgehalten, die in August Kiel, einem Schüler Ludwig Spohrs, ihren tüchtigen Dirigenten gefunden hatten. Sie gingen ruhig weiter fort, als das Theater, der größeren Sicherheit wegen in den Revolutionsjahren auf allerhöchsten Befehl geschlossen werden mußte. Fürst Paul Friedrich Emil Leopold zur Lippe (geboren 1821, gestorben 1875), der seinem Vater 1851 als Leopold III. in der Regierung folgte, ließ in der von seiner freisinnigen Großmutter ruhmreichen Andenkens eingeleiteten Politik einen bedenklichen Umschwung eintreten. Aus eigenem Antriebe hatte einst Fürstin Pauline die Hörigkeit abgeschafft und durch Verbesserung und Vermehrung der Unterrichtsanstalten Licht im Ländchen zu verbreiten gesucht. Der Nachglanz ihrer Regentschaft erlosch unter ihrem Enkel, der schon zwei Jahre nach seinem Antritt das Wahlgesetz aufhob und die engherzige landständische Verfassung von 1836 wiederherstellte. Mit der »Teestunde einer deutschen Fürstin« – so hieß eine ehemals vielgelesene, die Frauenfrage berührende Dichtung Paulinens – waren die Zeiten des Liberalismus vorüber.
Aber einen künstlerischen Zug hatte Leopold III. von der poetisch veranlagten Bernburgerin doch geerbt, und seine Vorliebe für die Musik wurde zwar nicht von seiner Gemahlin Elisabeth, einer geborenen Prinzessin von Schwarzburg-Rudolstadt, aber von seinen drei Schwestern geteilt. Die holde Kunst der Töne tröstete den kinderlosen Herrscher über das Unglück, den Lippeschen Thron einem liberalen Agnaten vererben zu müssen. Es wurden, außer den Konzerten bei Hofe, im Winter immer zwei Zyklen von je zwölf Abonnementskonzerten veranstaltet; und jeden Mittwoch nach dem Vesperläuten füllten sich die Räume des verödeten Theaters mit einer unterhaltungslustigen Menge, die, einige wirkliche Musikfreunde abgerechnet, in Ermangelung anderer Kunstgenüsse hinkam, weniger um zu hören, als um zu sehen [302] und gesehen zu werden. Zwei Stunden lang mußten die getreuen Untertanen stillsitzen, und der menschenfreundliche Hofkapellmeister Kiel sorgte dafür, daß sie nicht mit lauter schweren und ernsten Stücken gequält wurden. In jedem Konzerte gab es mindestens eine Solisten- oder Konversationsnummer, und neben den Ouverturen und Symphonien der Klassiker, bei welchen die Chargen und Ämter, ihre ehrfurchtsvollen Blicke auf Serenissimus gerichtet, ein nie gefühltes Interesse für Beethoven an den Tag legten, wurden Flöten-Rondos, Oboen-Konzertinos, Horn-Romanzen, Klarinettenphantasien und Opernpotpourris für Harmoniemusik aufgeführt, zur besonderen Genugtuung der Hofdamen und Kammerfrauen. Nachdem Karl Bargheer, der Schüler Joachims, auf den Posten des ersten Konzertmeisters nach Detmold berufen worden war, kam mehr Stil und strenger Charakter in die Winterkonzerte, und das gemischte Programm war nur den Sommerkonzerten erlaubt, die im Gartensaale des Bergmannschen Kaffeehauses ohne allzu steife Etikette vor sich gingen. So wurde die Musik in Detmold in Permanenz erklärt, die Tonkunst unterstützte den guten »Ton«, und den Einwohnern der Residenz, welche keine Hofämter bekleideten, blieb schließlich, sofern sie »oben« etwas gelten wollten, nichts übrig als so musikalisch zu sein, wie sie nur irgend werden konnten. Nachdem sich die wilden Wässer der Revolution in Deutschland wieder verlaufen hatten, ohne daß eine Welle der Erregung bis in das stille Werratal gedrungen wäre – der Bau einer Eisenbahn und der damit verbundene Anschluß an die Strecke Köln-Minden blieb lange Zeit ein unerfülltes Desiderium der Regierung, und man fuhr bis Bielefeld mit der Thurn- und Taxisschen Post – zogen Thalia und Melpomene unter Führung des Theaterdirektors Mewes wieder in die ihnen geweihten Hallen ein. Die Wintersaison wurde nunmehr in eine Konzert- und Theaterzeit getrennt, und die Zahl der Abonnementskonzerte auf zwölf reduziert. Was die Pflege der Musik an Ausdehnung dabei verlor, gewann sie an Intensität, und der Fürst dachte daran, einen Gesangverein von Herren und Damen, der, 1849 gegründet, sich unter Kiel nicht zu halten vermochte, wieder ins Leben zu rufen. Es sollte ein gemischter Chor geschaffen werden, zur Ergänzung der [303] Orchesterkonzerte, um bei Aufführungen größerer Vokal- und Instrumentalwerke nicht mehr ausschließlich auf die Mithilfe der Detmolder Liedertafel angewiesen zu sein. Eine distinguierte musikalische Körperschaft sollte gebildet werden, die sich auch in eigenen Konzerten, besonders aber bei Hofe, wo der Fürst samt seinen drei Schwestern, den Prinzessinnen Louise, Friederike und Pauline, eifrig mitsang, produzieren konnte. Zur Leitung dieser singenden Eliteschar wurde Johannes Brahms ausersehen.
Die Prinzessin Friederike, die im Oktober 1855 nach Düsseldorf gekommen war, um ihre schon früher bei Frau Schumann begonnenen Studien im Klavierspiel fortzusetzen, hatte bei dieser Gelegenheit Brahms kennen gelernt. Im Jahre darauf verbrachte Frau Ministerin von Meysenbug aus Detmold, die Mutter der »Idealistin«, Wagner- und Nietzsche-Freundin Malvida, mit ihren beiden anderen Töchtern den Frühsommer in Düsseldorf, und Laura von Meysenbug erhielt in Abwesenheit Klara Schumanns von Brahms Klavierunterricht. »Bei einer solchen Musikstunde,« erzählt Freiherr Karl von Meysenbug, der Enkel der Ministerin und ältere Sohn des Detmolder Hofmarschalls1, »sah und hörte ich zuerst den fast noch knabenhaft aussehenden, anscheinend schüchternen und gesellschaftlich unbeholfenen jungen Künstler – er spielte uns das bekannte Moment musical inf-moll von Schubert vor. Die eigenartige Wiedergabe dieses reizenden Stückes machte auf mich einen unvergeßlichen Eindruck.« Wie derselbe Gewährsmann versichert, gelang es den vereinten Anstrengungen von Mutter und Töchtern, den Fürsten und dessen Schwester Friederike für Brahms zu interessieren, und es wurde beschlossen, sein Engagement von einem Konzert bei Hofe abhängig zu machen, zu welchem der Empfohlene eingeladen werden sollte. Ob Meysenbugs es nötig hatten, ihren Einfluß für Brahms geltend zu machen, ist die Frage, da Brahms schon 1856 einmal eingeladen war, nach Detmold zu kommen. Schumanns Tod trat dazwischen. Im Juni 1857 folgte Brahms der erneuerten Einladung und spielte in Detmold »den Fürstlichkeiten acht Tage lang morgens und abends vor – für zwölf Louisdors«; [304] er hatte »keinen Akkord gemacht«. So schreibt er Joachim. Danach scheint er entweder gar nicht gewußt zu haben zu welchem Zweck er eigentlich nach Detmold berufen worden war, oder aber erst später benachrichtigt worden zu sein, daß der Fürst auch in Zukunft auf ihn rechnete. Jedenfalls wurde sein Unmut, der aus dieser brieflichen Bemerkung hervorbricht, bald behoben; denn er schloß mit dem Hofmarschall, der im Namen des Fürsten verhandelte, einen Vertrag ab und verpflichtete sich während der musikalischen Saison, d.h. vom September bis Ende Dezember, der Prinzessin Friederike Klavierstunden zu geben, außerdem aber jenen wieder aufgelebten kleinen Gesangverein auf dem Schlosse zu leiten. Das zweite »Amt« war für Brahms das verführerischere.
Karl von Meysenbug schildert den Empfang des Gastes sehr lebendig: »Am Tage seiner Ankunft wurde ich von meiner Tante, einer späten Jungfrau, aufgefordert, sie zur Post zu begleiten, um Brahms abzuholen.« Wir brachten den der gelben Taxisschen Postkutsche Entstiegenen glücklich zu Fuß in die nahegelegne großmütterliche Wohnung. Noch sehe ich den Jüngling in sprachloser Verlegenheit im Salon der alten ›Exzellenz‹ stehen (die eine geistreiche und lebenslustige Dame war), nicht recht wissend, wie er die Unterhaltung mit den ihm im ganzen doch recht fremden Damen beginnen sollte. Da – es war vier Uhr nachmittags – rollte wie alltäglich eine fürstliche Galakutsche die stille Straße herauf, in der die drei Schwestern des Fürsten zum Palais ihres Bruders zum gemeinsamen Mittagsmahle fuhren. Die Insassen pflegten dann im Vorbeifahren zu den Fenstern meiner Verwandten hinaufzugrüßen, und namentlich war dies heute zu erwarten, da die Prinzessin Friederike natürlich von der voraussichtlichen Ankunft des von ihr mit Ungeduld erwarteten jungen Meisters unterrichtet war. Den Wagen kommen sehend, sagte also meine Tante: »Ich will doch der Prinzessin zunicken, daß Herr Brahms angelangt ist.« Brahms, den Zusammenhang nicht kennend, brach darauf sein Schweigen mit den Worten: »Wohnt denn das alles so bürgerlich nah hier beisammen?« – Für den »verlegenen« Jüngling eine merkwürdig muntere Frage, die von wenig Respekt vor den hohen und höchsten Herrschaften zeugte. »Das alles!« [305] Hat man je zu einer Exzellenz von dero hochwohlgeborenen Angehörigen und von der erlauchten Familie des allergnädigsten Landesfürsten in solchem Tone gesprochen? Zwei Baroninnen, eine Exzellenz und drei Prinzessinnen – »das alles« und weiter nichts? Ein künftiger fürstlich Lippe-Detmoldscher Kammermusikus und Hofkapellmeister hätte sich etwas distinguierter ausdrücken sollen. In seinem schroffen Benehmen gegen die Aristokratie ist sich Brahms (ähnlich wie Beethoven) sein Lebenlang gleich geblieben; er konnte diejenigen, die sich etwas auf Vorzüge der Geburt oder des Ranges einbildeten, nicht geringschätzig und wegwerfend genug behandeln. Seiner Meinung nach war der Adel, wenn kein direkter Makel, so doch gewiß eine unangenehme Zugabe für den Menschen, die der mit ihr Behaftete durch ganz besondere Vorzüge des Geistes und Herzens aufwiegen und vergessen machen mußte.
Freiherr von Meysenbug berichtet weiter, daß am Abend des Einzugstages seine Eltern und Konzertmeister Bargheer gekommen seien, der die Bekanntschaft mit dem im Fremdenstübchen bei der Großmutter und den Tanten Einlogierten nicht schnell genug erneuern konnte. Brahms gewann den musikalischen Hofmarschall durch den »überaus reizvollen« Vortrag seines Lieblingsstückes, der Beethovenschen Phantasie-Sonate op. 27 Nr. 1, für sich, und da er im Hofkonzert mit Beethovens G-dur-Konzert und der Klavierpartie in Schuberts Forellen-Quintett »das alles« und den Fürsten dazu entzückte, so bedurfte es wohl keiner weiteren Proben für seine Qualifikation. Das achttägige Morgen- und Abendmusizieren bei Hofe hatte jeden Zweifel behoben2. Nach dem Konzert gingen einige seiner Zuhörer mit ihm in die Priestersche Konditorei, wo eine »höchst fidele« Nachfeier des schönen Musikabends stattfand. Auch der Kapellmeister Kiel, der das Konzert geleitet hatte, befand sich, wie Karl von Meysenbug als Augenzeuge zu melden weiß, nach seiner Gewohnheit in diesem seinem Stammlokale und »warf oft sehr mißtrauische Blicke über die auf seiner großen roten Nase [306] sitzende Brille hinweg nach dem jugendlichen und doch so sicher und selbstbewußt auftretenden Künstler hin, in dem er einen gefährlichen Nebenbuhler in der Hofgunst und wohl gar Nachfolger in der Leitung der musikalischen Veranstaltungen bei Hofe witterte, und von dem er noch nicht recht wußte, wie er sich zu ihm stellen sollte.« Mit Behagen denke ich daran, wie Kiel, ein Musiker vom alten Schlage und originelles Kneipgenie, Brahms damit imponieren wollte, daß er erzählte, er komponiere gerade einen der Psalmen für Chor, wie er sich überhaupt viel mit biblischen Texten beschäftige. Nur sei es oft schwer, die Psalmen richtig zu verstehen; was bedeute zum Beispiel wohl die Bemerkung, die sich am Anfange einiger derselben finde: »Auf der Githith zu spielen.« »Ich bitte Sie, was mag das gewesen sein, eine Githith?« fragte Kiel. »Wahrscheinlich ein hübsches Judenmädchen,« erwiderte Brahms scherzhaft, »was ihm abermals einen mißtrauischen Blick des alten Musikers eintrug.« Kiel mahnte bei weit vorgerückter Stunde zum Aufbruch. Brahms aber bestand darauf, noch einen Spaziergang im Teutoburger Walde zu machen; er wollte von der Grotenburg aus die Sonne aufgehen sehen. Mehrere Herren aus der Gesellschaft schlossen sich an, aber nur der junge Meysenbug blieb der Expedition treu, während die übrigen im Dunkel davonschlichen. In der ersten Morgenfrühe kamen sie bis zum »Hiddeser Krug« und schliefen auf einer Bank in der Laube des Wirtsgartens ein. Erst der über die frühen Gäste in Frack, weißer Weste und Lackstiefeln erstaunte Wirt weckte sie wieder. Noch mehr aber verwunderte und entrüstete sich Fräulein von Meysenburg, als ihr die heimkehrenden Nachtschwärmer auf ihrer Frühpromenade begegneten. So debütierte Brahms bei Hofe.
Derartige nächtliche Exkursionen wurden auch später noch, als Brahms in Detmold festen Fuß gefaßt hatte, meist in Gesellschaft Bargheers und der beiden Brüder Karl und Hermann von Meysenbug unternommen. Der erste Spaziergang war mehr als die Ausführung einer Augenblickslaune, er war für Brahms eine symbolische Handlung gewesen. Das lebhafte nationale Gefühl des Jünglings ließ ihm keine Ruhe: er mußte nach der parfümierten Atmosphäre des Hofkonzerts den frischen Hauch des Teutoburger [307] Waldes einatmen, das reine Element seines Lebens und seiner Kunst begrüßen. Droben auf dem langhingestreckten Kamme des dichtbewaldeten Höhenzuges, der das Lippesche vom westphälischen Münsterlande scheidet, thronte in ungefüger Herrlichkeit der dunkelbogige zyklopenhafte Unterbau des Hermannsdenkmals. Ohne die erst 1875 aufgesetzte Statue des germanischen Römerbesiegers sah es aus, als hätte sich der die Grotenburg umspannende uralte Hünenring in einen steinernen Troglodytentempel zusammengezogen, in dessen Wölbungen noch die Geister der erschlagenen Freiheitskämpfer hausten. Die Scherz- und Spottgedichte Heines und Scheffels kamen Brahms gewiß nicht in den Sinn, als er den ihm heiligen Boden betrat, auf welchem, der Sage nach, in grauer Vorzeit seine Urväter das Joch der fremden Eindringlinge abschüttelten und die römischen Legionen vernichteten. Eher wird er an Klopstock und Heinrich v. Kleist, an den Dichter der »Hundert Tage« und den Sänger von »Ein Glaubensbekenntnis« gedacht haben. Freiligraths Geburts- und Grabbes Sterbehaus in der Wehmstraße können für Typen der nüchternen und dürftigen Bauart gelten, die das mittlere Deutschland, besonders Sachsen und Thüringen, bis in die Neuzeit hinein beherrschte. Nirgends trat der Gegensatz zu den Handelsemporien und Städten, in denen ein unabhängiges Bürgertum blühte, eindringlicher hervor als in den Residenzen der kleinen Souveräne, wo die untergeordnete Stellung der nichtadeligen Einwohnerschaft auch äußerlich in jeder Weise markiert wurde. Massive Gebäude waren ein verpönter Luxus; nur diejenigen durften sich ihn gestatten, die zur näheren Umgebung des Fürsten gehörten.
Das alte Detmolder Schloß, in welchem die Prinzessinnen residierten – der Fürst bewohnte das bequemere »neue Palais« in der »Allee« – erinnerte noch durch den mit Wasser ausgefüllten Wallgraben an die Zeit, wo aus den Luken und Scharten des glockenförmig behelmten, dicken runden Turmes Hakenbüchsen und Karthaunen unberufene Annäherungsversuche zurückschreckten. In seiner romantischen Verwilderung muß der von herrlichen Baumgruppen umgebene, teilweise mit Epheu überwachsene Renaissancebau mit der durch vier Giebel gegliederten Fassade noch poetischer und geheimnisvoller ausgesehen haben als er heute, nach der mit [308] Liebe und Verständnis vom Fürsten Woldemar (1876–95) durchgeführten Renovation erscheint. Ein Künstler von Phantasie brauchte nur, sobald die Abendsonne die Wipfel des Parks in purpurgoldenen Dämmer einhüllte, das melodische Geplätscher des neben einer riesigen Traueresche emporschnellenden Springbrunnens zu belauschen, um allerlei märchenhafte Geschichten zu vernehmen, die sich in dem grünumsponnenen Erker des beständig von weißen Tauben umflatterten Turmes oder auch auf den mit Galerien und Balustraden besetzten Sandsteinterrassen des Schloßgartens abgespielt haben mochten. Beide in Detmold entstandene Orchester-Serenaden von Brahms können es bezeugen. Die von Woldemar in den Park einbezogene »Schloßfreiheit« war unter Leopold III. noch der Exerzierplatz der Lippeschen Armee. Das ihre Braven sich tapfer schlugen, beweisen die im malerischen Schloßhof aufgestellten französischen Geschütze, eine Kriegsbeute von 1813. Über den Platz ist Brahms oft gegangen, öfter als ihm lieb war: denn er führte direkt von seinem im Gasthofe zur Stadt Frankfurt gelegenen Wohnung zu seiner durchlauchtigen Schülerin hinüber. Dort wurde er, als er im September 1857 sein Hofamt antrat, auf Staatskosten einquartiert und verpflegt. Ein Avancement vom bürgerlichen Wirtshause ins fürstliche Schloß fand auch später nicht statt, als der Gast Leopolds III. ein berühmter Mann geworden war. Niemand war mit dieser Lage der Dinge zufriedener als Brahms.
In seinem kleinen, aber gemütlichen Zimmer entwickelten sich mit der Zeit sehr hübsche gesellige Abende, an denen einige musikalisch veranlagte Offiziere und andere junge Herren es sich bei einfachem Bier und kaltem Aufschnitt wohl sein ließen. Mit der geistigen Bewirtung vermochte keine Hoftafel zu rivalisieren. Denn Brahms trug der Gesellschaft freigebig von den Leckerbissen seiner Kunst auf, und er geizte mit seiner Kammermusik nur in der Camera des Fürsten, wenn er aufs Schloß befohlen wurde. Für ein Instrument mußte die Hofmarschallin sorgen. Sie hatte in ihrer Mansarde einen Grafschen Flügel stehen, auf welchem ihre Söhne übten, ein schmales abgespieltes Tonmöbel mit vier Pedalen, aber geweiht durch die Berührung eines Liszt, einer Klara Schumann; da sie außerdem noch einen [309] »Tomaszek« besaß, so konnte sie das andere Instrument leicht entbehren und ließ es in die »Stadt Frankfurt« transportieren, wo es in ungeahnter Weise seine Schuldigkeit tat. Ausübende Teilnehmer an diesen zwanglosen musikalischen Abenden waren ein Bratschist, der Violoncellist Schmidt, »Schlummer-Schmidt«3 genannt, beides Mitglieder der fürstlichen Kapelle und Konzertmeister Bargheer.
Bargheer war ein liebenswürdiger, gefälliger und gebildeter Mensch, dazu ein firmer Musiker, vorzüglicher Violinspieler und auch als solcher ein Original. Indem er sein Instrument immer mit einer Unbekümmertheit zu behandeln schien, die an Geringschätzung streifte, spielte er so, als ob ihm gerade nichts Besseres einfiele, als ob es ihm durchaus nicht in den Sinn käme, daß er vor dem Publikum stand. Seine Soloeinsätze geschahen wie zufällig und gelegentlich, und doch gab sein feuriges und bedeutendes Spiel im Gegensatz zu dem äußeren Gebaren des Spielers die tiefste künstlerische Empfindung kund. Die Führung seines Bogens erinnerte in ihrer vollkommenen Ausgeglichenheit im Auf- und Abstrich an eine ausgeschriebene Männerhand, bei welcher Haar- und Grundstriche in gleichmäßiger Stärke auf das Papier fließen. Mit einem Manne seiner Art war gut umgehen. Brahms schloß sich daher auch eng an ihn an, während er mit dem alten argwöhnischen und eifersüchtigen Kiel auf keinen vertrauteren Fuß kam. Bargheer wohnte nicht weit von Brahms am Marktplatz, und fast jeden Morgen, wenn Brahms vom Schlosse kam, bog dieser vom Wege ab, um den Freund zu begrüßen. Mittags um 1 Uhr speisten sie miteinander an der Table d'hôte zur Stadt Frankfurt und machten nach Tische einen gemeinsamen Spaziergang in die reizende Umgegend. [310] Um für größere Ausflüge, die sich über den Tag oder durch die Nacht ausdehnten, gehörig verproviantiert zu sein, sparte Brahms den Tischwein, von dem er eine halbe Flasche täglich frei hatte, immer so lange, bis er vom Wirt eine Flasche Malvasier, den er sehr gern trank, zum Tausche dafür erhielt, die dann im Ränzel mitgenommen wurde. Von 3 Uhr an pflegte Brahms Klavierstunden zu geben. Zu seinen Schülerinnen gehörten, außer der Prinzessin Friederike, Frau Hofjägermeisterin von Donop, Frau Hofmarschallin von Meysenbug und deren Schwägerin Laura, die er schon in Düsseldorf unterrichtet hatte. Trotz seiner hohen Honorarforderungen wurde es bald Mode, bei ihm Unterricht zu nehmen. »Manche Leute hofften, sich dadurch bei Hofe zu insinuieren, und es war ihnen gleichgültig, ob sie Talent hatten oder nicht. Dieser schwer zu vermeidende Zwang war ein steter Gegenstand seines Grolles und Zornes. Andererseits mochte er in seiner damaligen Lage nicht ohne weiteres alle diese gut bezahlten Unterrichtsstunden abweisen.«4
Frau von Meysenbug, die für eine perfekte Klavierspielerin galt, wirkte mehreremale in Hofkonzerten als Solistin mit – so spielte sie mit der Prinzessin Friederike und Brahms die Tripelkonzerte von Bach und unter seiner Leitung die Chorphantasie von Beethoven. Aber auch sie mußte zu Brahms in die Lehre, »um die auf dem Schlosse zu beruhigen, die ewig fragten, ob sie noch immer keine Stunden hätte«. Das brachte die Etikette so mit sich. Denn, wenn die Prinzessin, die sich mit Mendelssohns g-moll-Konzert und dem Weberschen Konzertstücke hören ließ, es nicht für unter ihrer Würde hielt, Schülerin von Brahms zu heißen, so durfte sich die Hofmarschallin doch schon erst recht nicht Meisterin genug dünken, um einen von so maßgebender Stelle empfohlenen Unterricht entbehren zu können. Eine Meisterin aber war die hervorragende Dilettantin, nach dem Zeugnis Klara Schumanns, längst. Man wird es daher leicht begreifen, daß sie nicht gerade mit besonderer Passion in die Lehre des jungen Musikers ging. Hoffentlich hat es Ihre Durchlaucht niemals zu bereuen gehabt, ihrer Hofdame diesen unerbetenen Rat gegeben zu haben. [311] Auch wurde ihr Eifer durch das Benehmen des Lehrers noch merklich abgekühlt; denn »der Gute gebärdete sich«, wie sie ihrem an die Universität Göttingen abgegangenen Sohne schreibt, »beim Vierhändigspielen so wunderbar«, daß sie die Lust verlor, es noch einmal mit ihm zu versuchen.
Sehr richtig bemerkt Freiherr v. Meysenbug dazu, das Genie sei ohne Rücksichtslosigkeit gegen die Interessen der Mitmenschen, ohne einen gewissen Egoismus nicht denkbar; das Genie von Brahms aber sei damals weniger aufgefallen als seine abstoßenden Eigentümlichkeiten. »Man tadelte an ihm allzu großes Selbstbewußtsein, ein gewisses übermütiges Auftreten älteren und höherstehenden Personen gegenüber, und tat dies um so offener, als die innere Berechtigung dazu, die Ungewöhnlichkeit seiner Natur, die ihn über das Gros der Menschheit hinaushob, noch nicht, namentlich nicht in den engherzigen, kurzsichtigen Kreisen der kleinen, abgelegenen Residenz begriffen und verstanden wurde.«
Dagegen weiß Hermann v. Meysenbug, der jüngere Bruder Karls, seinem ehemaligen Spielkameraden, ein sehr sein ausgebildetes Taktgefühl nachzurühmen, das Brahms im Verkehr mit der fürstlichen Familie über die Unkenntnis der höfischen Formen hinweggeholfen habe. Er spricht wohl nur im Sinne seiner Familie, wenn er sagt: »Eine unbeirrt aufs Ziel lossteuernde Willenskraft trat in Brahms' ganzem Wesen ausgeprägt hervor. Auch in seinen Äußerlichkeiten, seinem Gange, seinem Blick, seinen Bewegungen war irgendwelche Unsicherheit nie zu bemerken, es gab kein Zögern und kein Zweifeln. Blick und Gang schienen stets auf ein bestimmtes Ziel gerichtet; in seinem Benehmen zeigten sich bei aller Bescheidenheit des Auftretens die Sicherheit und Festigkeit des Mannes, der weiß, was er will5.«
Auf dem Schlosse fanden sehr häufig kleine musikalische Soireen statt, an denen Brahms außer verschiedenen Klavierstücken die Beethovenschen, Haydnschen, Schubertschen und Schumannschen Klaviertrios, auch mehrmals sein eigenes H-dur-Trio und g-moll-Quartett spielte. Die Quintette von Mozart und [312] Beethoven für Klavier und Blasinstrumente wurden von ihm besonders bevorzugt, da die Hofkapelle über eine Anzahl vorzüglicher Bläser verfügte. Der berühmte Hornist Cordes war ihm seines runden, sanften Tones wegen sehr sympathisch, und wenn er die Beethovensche Horn-Sonate mit ihm vortrug, rief er ihm während des Spieles ganz ungeniert ein Bravo über das andere zu.
Von den Sonaten für Klavier und Violine spielte Brahms die von Bach am liebsten. Aber auch die von Beethoven, Schubert, Schumann und Mozart wurden nicht vernachlässigt. Die Mozartschen waren die Lieblingssonaten des Fürsten, und es kam vor, daß, wenn der Fürst eine Sonate wieder zu hören wünschte, die in einer früheren Soiree auf dem Programm gestanden war, Brahms sie in einer andern Tonart anfing, so daß Bargheer nolens volens das Stück mit ihm vom Blatte transponieren mußte. Derselbe jugendliche Übermut zeigte sich auf den ausgedehnten Wanderungen, die Brahms und Bargheer mit den Söhnen des Hofmarschalls im Teutoburger Walde machten. Gebahnte Wege wurden nach Tunlichkeit vermieden, dafür aber die schönsten, intimsten Plätze des Waldes aufgesucht und das äsende Wild belauscht. Unterwegs wurden alle möglichen Spiele und Wetten im Laufen, Springen, Steinwerfen u.s.w. eingegangen. Bargheer, von kräftigem Körperbau und sehr gewandt, war dem schmächtig-zarten Brahms dabei stets überlegen. Brahms ließ sich durch das Gelächter und die Neckereien, die seine regelmäßigen Niederlagen hervorriefen, nicht beirren. Er ertrug sie mit großer Gelassenheit und Gutmütigkeit und versuchte immer von neuem wieder, den Sieg zu erringen. Auf den Spaziergängen zur Falkenburg und nach den Extersteinen pflegte Brahms immer das »Lied vom Herrn von Falkenstein« zu deklamieren, bis er es eines Tages komponiert hatte6.
[313] Nachdem Brahms die Detmolder Verhältnisse hinreichend kennen gelernt hatte, um das Feld seiner Tätigkeit mit ruhigen, sicheren Blicken genau überschauen zu können, ging er mit der ihm eigenen Besonnenheit daran, so viel wie möglich Gewinn aus ihnen herauszuschlagen, nicht materiellen Nutzen, auf den es ihm überhaupt höchstens als Mittel zum Zweck ankam, sondern Gewinn für sein Leben und die Zukunft seiner Kunst. Hermann v. Meysenbug hat ihn richtig erfaßt, wenn er von dem Eindruck seiner Persönlichkeit aussagt, es sei der einer unbeirrt aufs Ziel lossteuernden Willenskraft gewesen. Der vierundzwanzigjährige Jüngling wußte, was er hier lernen konnte; die Wahrheit des docendo discimus war ihm nie zuvor so deutlich aufgegangen. Die hohen Herrschaften bedienten ihn noch besser, als er sie bediente, und wenn sie ihn gar zu sehr langweilten, so sorgte er für Kurzweil auf ihre Kosten. Der Taktstock, den er über ihren Häuptern schwang, war ein mächtigerer Kommandostab als das Zepter des schwachen Fürsten; mit ihm konnte er, was jener vergebens anstrebte, die Zeit nach Belieben verlängern und abkürzen, die Gegenwart aus den Angeln heben, die Vergangenheit zurückbeschwören und die Zukunft heranwinken. Zwar beteuerte er Joachim, von dem er ein Vierteljahr nichts gehört hatte, in einem Briefe vom 5. Dezember 1857, die durchlauchtigen Ergötzungen ließen ihm keine Zeit, an sich zu denken. Aber er fügte hinzu, da dies nun einmal so sei, so freue er sich, wenn sie ihn recht in Anspruch nähmen, weil er so von manchem Vorteil ziehe, was er bis jetzt sehr entbehren mußte. »Wie wenig praktische Kenntnisse habe ich!« ruft er aus. »Die Chorübungen zeigen meine großen Blößen, sie werden mir nicht unnütz sein. Meine Sachen sind ja übermäßig unpraktisch geschrieben!« Er hat mancherlei einstudiert und zum Glück von der ersten Stunde an mit genügender Dreistigkeit: Rovettas »Salve Regina«, Lieder von Schumann, Mozart und Praetorius. Jetzt seien sie beim »Messias«, er aber mache zu [314] seinem Vergnügen Versuche mit Volksliedern. Er studiere die Tripel, Konzerte von Bach ein, von Mozart habe er schon zwei herausgebracht, auch das Beethovensche Tripel, Konzert mit einem Cellisten und Bargheer geübt. Daß ihm Bargheer höchst angenehm sei, könne sich Joachim denken. Sonst sei, einige Damen abgerechnet, in Detmold eine vollständige Wüste an Musikfreunden. Von dem Angenehmen und weniger Angenehmen, das er da habe, wolle er nicht viel erzählen, er unterlasse auch, mit sich selbst darüber zu reden. Mit Kiel stehe er sich etwas besser als gar nicht. Joachim solle ihm neues Kontrapunktisches senden und Grimm grüßen, den er doch wohl manchmal bei sich sähe. Er komme sich wie ausgewandert vor, als ob er schon als Detmoldscher Kapellmeister eingerostet wäre. Von Frau Klara habe er mit Bedauern gehört, daß sie in München erkrankt sei und schon zehn bis zwölf Tage das Zimmer hüte. Dafür müsse die arme Frau die Festtage in der Schweiz zubringen.
Da Brahms erst im Januar des neuen Jahres von Detmold fort konnte – er hatte das Beethovensche Tripel, Konzert noch einmal im Theater zu spielen – so verbrachte er den heiligen Abend, zum erstenmale, unter fremden Menschen. Er wäre lieber mit Joachim in Hamburg bei den Eltern gewesen; es ging ihm nahe, wenn auch die gute Hofmarschallin alles tat, um ihn aufzuheitern. Brahms war für den Abend des 24. Dezember bei Meysenbugs eingeladen, und es gefiel ihm dort so gut, daß er auch die anderen Weihnachtsabende seiner Detmolder Zeit bei diesen liebenswürdigen, vornehm gesinnten Menschen zubrachte.
Am 28. Dezember hielt er die letzte Singvereinsprobe in Detmold ab und fuhr am 1. Januar 1858 über Hannover nach Hause. Joachim, mit dem er eine Stunde auf dem Bahnhofe verplauderte, sollte am 14. Januar bei Otten in dessen neu gegründetem »Hamburger Musikverein« mitwirken, sagte aber im letzten Augenblick ab, und Brahms, der den Freund schwer entbehrte, mußte sich ohne ihn behelfen. Er hätte ihn gern bei der Redaktion seines Klavierkonzertes gegenwärtig gehabt, weil er ernstlich daran dachte, mit diesem vor die Öffentlichkeit zu treten. Otten hatte ihn für den 25. März gewonnen, und Brahms glaubte ihm mit dem Versprechen, sein neues und größtes Werk bei ihm zu [315] spielen, einen besonderen Gefallen erwiesen zu haben. Mit leichtem Herzen hatte er ihm nicht zugesagt, denn ihn ängstigte die »fürchterliche Gleichgültigkeit« des Hamburger Publikums. Auch kam es ihm sonderbar vor, daß an demselben Konzertabend Frau Bürde, Ney Mendelssohns Loreley singen und Joachim noch ein Konzert vortragen sollte. Wie sich dann herausstellte, war dem Direktor des Hamburger Musikvereins gar nichts an Brahms und dessen Konzert gelegen; er wollte nur verhindern, daß Grund und die Philharmoniker, denen er Konkurrenz machte, ihm zuvorkämen. Nach dem er seinen Zweck erreicht hatte, ließ er Brahms fallen. Zur Illustration der damaligen Hamburger Konzertzustände dient die lächerliche Tatsache, daß Brahms in seiner Vaterstadt keinen Flügel bekommen konnte, der ihm genügte: »Nur Herr Cranz hat einen brauchbaren Flügel, auf dem Alois Schmitt und Alfred Jaell gespielt haben,« und dieses Klavier wurde ihm verweigert. Möglicherweise steckte Otten dahinter; er suchte vielleicht nach einem Mittel, um Brahms und das bedrohliche d-moll-Konzert los zu werden, auf dessen Studium er mehrere Proben hätte verwenden müssen, und mochte froh sein, in der Hamburger Klaviernot die passende Ausrede gefunden zu haben. Kein Wort des Bedauerns hatte der Konzertgewaltige für Brahms übrig, wie er andererseits es nicht einmal der Mühe für wert hielt, Brahms zu danken, der ihn »mit Hintansetzung und Vergessen alles künstlerischen Stolzes« durch den Vortrag der Beethovenschen Chorphantasie (ohne Orchester!) unterstützt hatte. Und dabei erwartete er noch, daß Brahms seine »geduldigen Besuche« fortsetzen werde, obwohl er ihm nie einen Gegenbesuch gemacht hatte.
Auch sonst war für Brahms in Hamburg nicht viel zu holen. Grund, der Dirigent der Philharmonischen Konzerte, gab ihm die Partitur des von Joachim meisterhaft instrumentierten Schubertschen »Grand Duo«7 (C-dur-Sonate op. 140), welche Brahms ihm dringend empfohlen hatte, mit dem Bemerken zurück, das Werk sei langweilig, ohne jede Melodie; und die Orchestermusiker bestätigten dieses Urteil in der er sten Probe, nach der es [316] beiseite gelegt wurde. Brahms meint, beide Fälle seien »echt hamburgisch«, und es freue ihn fast, daß seine Komposition und die Bearbeitung Joachims zusammen im Schrank liegen blieben, wo es ihnen wohler ergehen werde als unter den Händen der Hamburger Kapellmeister und vor dem Hamburger Publikum. Diese und andere demütigende Erfahrungen machten ihn aber so kleinlaut, daß er anfing, sich vor seinem eigenen Klavierkonzert zu fürchten, und anfangs wünschte, Frau Schumann, die es bereits in den Fingern sitzen hatte, möchte es in der Probe spielen, die Joachim in Hannover mit seinem Orchester veranstalten wollte. Obwohl Joachim alle Hindernisse beiseite geräumt und die Orchestermitglieder durch ihre schriftliche Zusage gebunden hatte, schob Brahms die Probe doch immer wieder hinaus; er müsse das Werk mindestens erst vierzehn Tage üben, und Klara müsse der Probe beiwohnen. Zu der verabredeten Privataufführung in Hannover scheint es erst im Herbst gekommen zu sein; denn Brahms bittet Joachim, sein Konzert dem Pianisten Hans v. Bronsart zu geben, der sich im Frühjahr kurze Zeit in Hannover aufhielt. Für den Freund fertigte er eine besondere »wunderschöne« Abschrift an. Daß Joachim zur Saison nach England reisen wollte, tat ihm weh. Wiederholt schickte er ihm ernstliche, fast schmerzliche Abmahnungen zu: »Was willst Du da? Gehe nicht hin!«
Ganz frei von Egoismus war seine Sehnsucht nach dem Freunde nicht. Denn Brahms trug sich mit einem neuen größeren Instrumentalwerke, das er schon in Detmold entworfen hatte, und rechnete auf Joachims bewährten Rat. Er glaubte bemerkt zu haben, daß für ihn der Weg zur Symphonie nicht, wie er als einundzwanzigjähriger Jüngling wähnte, von Beethovens Neunter ausging. Unmöglich konnte ihm verborgen bleiben, daß der Gedanke, die Entwicklung der Kunst beruhe auf einer fortwährenden Steigerung, Häufung und Änderung ihrer Mittel oder vollziehe sich durch eine immer größere Erweiterung und Komplikation ihrer Formen, ein verhängnisvoller Irrtum ist. Nicht weniger unsinnig aber mußte ihm das von ästhetischen Fälschern und betrogenen Betrügern in die Welt gesetzte Märchen vorkommen, welches eine bestimmte Gattung der Kunst mit einem Meister oder einer Epoche sich ein- für allemale erschöpfen lassen will, als ob es nach [317] Beethoven keine Symphonie mehr geben dürfe, als ob es überhaupt nur eine Beethovensche Symphonie gebe, jene ewige Neunte, im Vergleich zu welcher alle anderen, die Beethovenschen mitinbegriffen, wenig oder nichts zu bedeuten hätten. Er sagte sich, daß die Haydnsche Symphonie keineswegs als bloße Vorstufe zur Mozartschen oder Beethovenschen aufzufassen, sondern ein in seiner Art ebenso vollkommenes, den Namen der Gattung mit demselben Rechte führendes Kunstwerk sei, wie die der anderen Meister. Ja, er irrte sich nicht, wenn er bei jedem von ihnen charakteristische Vorzüge entdeckte, die diesem allein angehörten, weil sie mit ihrer innersten, jedwede fremde Individualität von sich ausschließenden Natur zusammenhängen. Haydns Symphonien hüpften in ihrer strahlenden Heiterkeit, witzigen Laune, neckischen Schelmerei und in der ermutigenden Einfachheit ihres instrumentalen Apparates dem über seinem schwerblütigen, weitausholenden gigantischen d-moll-Konzert fast Verzweifelten wie eine fröhliche Kinderschar entgegen, um ihn aus dem düstern Dickicht, in das er sich zu verlaufen Miene machte, wieder auf die lachende Wiese hinauszuführen, die voll Sonnenschein und bunter Blumen war.
Einen großen Teil seiner freien Zeit hatte Brahms in Detmold auf das fleißige und fast alleinige Studium Haydnscher Orchesterpartituren verwendet, und bei seiner Rückkehr von Hamburg brachte er einen neuen noch größeren Vorrat davon mit. Da überdies die vorzüglichen Bläser der Detmolder Hofkapelle beim Vortrage Mozartscher Serenaden ihm ein neues Reich zauberischer Klangwirkungen erschlossen und dem Lernbegierigen bequeme Gelegenheit verschafften, sich näher mit der Natur und dem Gebrauch ihrer Instrumente zu befreunden, so sah er sich in seiner Absicht, zur durchsichtigen Klarheit und Einfachheit instrumentaler Musik durchzudringen, gleichsam von verschiedenen Seiten auf einmal aufgefordert, unterstützt und bestärkt. Der Charakter seiner ersten Serenade – beide sind, wie schon oben angemerkt, in Detmold entstanden, an die sogenannte »Bonner« op. 16 wurde im Sommer 1860 in Bonn nur die letzte Hand angelegt – schwankt zwischen der Gattung, zu der sie sich bekennt, der Symphonie und Kassation hin und her. Aus der Vereinigung mehrerer Elemente, die einander wenn nicht direkt widerstrebten, so doch sich[318] erst miteinander vertragen lernen mußten, bei Brahms eine neue Form der Instrumentalmusik ableiten und statuieren zu wollen, wäre verwegen oder übertrieben. In dem Zaudern, Zögern und Experimentieren verriet sich eben der Anfänger. Nur weil Brahms in anderer Hinsicht schon ein so großer Meister seiner Kunst war, hat man sich verführen lassen, ihn, wie bei seinem symphonischen Konzert, auch hier für einen gewaltsamen Neuerer zu halten. Ursprünglich wollte er eine Kassation, d.h. eine Musik leichteren Genres, ein Oktett für ein kleines, einfach besetztes Orchester schreiben, nach dem Vorbilde der zahlreichen Mozartschen Divertimenti. Der Symphoniker aber regte sich in ihm und durchkreuzte seinen Plan; seine Gedanken verlangten reichere Instrumentation und breitere Entwicklung. Brahms' D-dur-Serenade berührt sich ebenso mit Mozart und Haydn, wie sie sich an Beethoven und dessen Symphonien heiteren Charakters, besonders an die zweite und sechste (Pastorale) anschließt.
Es ist, als wäre der Komponist vom Lande in die Stadt, vom Volke zur Aristokratie, aus der Freiheit der Berge in die Beschränkung der höfischen Residenz gekommen, um seine Musikanten vor der Terrasse des Schloßgartens aufzustellen und der droben versammelten Gesellschaft vornehmer Kenner und Liebhaber eine artige Überraschung zu bereiten; als hätte ihn dann aber plötzlich sein demokratischer Stolz oder auch die Verlegenheit aus dem fürstlichen Park wieder fortgetrieben, weil er merkte, daß seine Haare und Kleider voll Tannenduft und Wiesenrauch waren. Viel zu arglos und dabei auch selbstgewiß genug, um sich kleinlicher Vorwürfe besonders zu versehen, gab er im zweiten Scherzo der Serenade die Quelle seiner Studien an, so deutlich sich dies in Noten tun läßt. Nicht das Dreschthema aus dem Finalsatze der Haydnschen D-dur-Symphonie, das damals von den Spatzen auf dem Dache gepfiffene:
auch nicht der ebenso populäre Gedanke des Trios aus dem Scherzo der zweiten Beethovenschen:
[319] sondern der Kontrapunkt, in welchem sich die Modifikationen beider bei Brahms zusammenfanden:
ist das Keimblatt der Serenade, aus welchem, ähnlich wie in der fis-moll-Sonate, nur nicht so handgreiflich, das Werk sich entfaltete. Mit diesem Minimal-Scherzo, das so kurz ist wie die gedrängte Inhaltsangabe eines Buches oder wie die Disposition eines Aufsatzes, erwies Brahms seinen großen Lehrmeistern die schuldige Ehre und zeigte den Herren Kollegen, daß nicht jeder Nachgeborene dem Fluche des Epigonentums zu verfallen braucht, sondern das ein gewaltiger Unterschied besteht zwischen Nachfolge und Nachtreterei.
Wie geistreich hat er das nicht gerade hervorragende, sondern eher etwas trockene Sujet seines Aufsatzes behandelt, wie unterhaltend, fesselnd und spannend ist das Buch trotz seines wenig versprechenden Index geworden, und wie durchaus selbständig, originell, modern bewegt er sich in den »altväterischen« Formen! Man hat tadelnd gesagt, das Scherzo könne gut seine hundert Jahre alt sein und in jeder schwächeren Symphonie von Haydn, Mozart und Beethoven vorkommen, und man hat, indem man diese unumstößlich richtige banale Weisheit mit der Miene eines Hierophanten, Entdeckers und Staatsanwaltes verkündete, zu erkennen gegeben, daß man nicht das geringste Verständnis für einen gut Brahmsschen Witz besaß. Das zweite Scherzo vertritt die Stelle der »Sphinxes« in Schumanns »Karneval«, welche die Enträtselung der tanzenden Lettern bringt. Fast ebenso primitiv und knapp sind die beiden ihm unmittelbar vorangehenden Menuette. Und doch [320] könnte keines von ihnen wo anders stehen als in einem Brahmsschen Werke, auch das zweite nicht, das in der Zartheit des Ausdrucks an Gluck erinnert. Beide sind insofern eines, als das in g-moll nur eine freie Variante des in G-dur ist. Eine klagende Violine löst die Klarinette ab und verändert den rhythmischen Charakter der Melodie durch den Auftakt. Welch ein seiner Hörer und Kenner der Instrumente Brahms binnen kurzer Zeit geworden war, läßt sich aus dem Kolorit des träumerischen Adagios erkennen. Die Bläser beherrschen den thematisch besonders reich bedachten, mit einer breiten Durchführung ausgestatteten Satz, ohne das Streichquartett zu erdrücken oder selbst zu einer kompakten Masse zu erstarren. Das Stimmengewebe, in welchem das kostbarste melodische Material verarbeitet ist, lockert sich immer wieder auf, kein Zug geht verloren. Die schönste Sommernacht scheint herabzusinken, sobald die tiefen Saiteninstrumente mit den Fagotten ihren dunkel wogenden, aber zögernden und stockenden Gesang beginnen. Man glaubt die Erde in ihrem Schlummer ruhig atmen zu hören, und der leise wehende Wind schleicht so behutsam über sie hin, als fürchte er die Blumen aufzuwecken. Wenn nach der überleitenden, zuerst von den Geigen intonierten, dann vom vollen Bläserchor aufgenommenen B-dur-Melodie das Horn seine sehnsuchtsvolle Klage anstimmt, ist es, als müsse einem das Herz entzweigehen vor Bangen und Verlangen. Bei dem in merkwürdig ausweichenden Harmonien bewegten Fugato aber, das den Teil abschließt, denkt man unwillkürlich an den Schluß des Goetheschen Liedes:
»Was, von Menschen nicht gewußt,
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.«
Durchführung und Coda sind durchaus symphonisch und lassen den Satz über den Rahmen der Serenade hinaustreten. Dieses Adagio, wie die meisten anderen von Brahms, widerlegt glorreich die oft vorgebrachte törichte Behauptung, es könne nach Beethoven kein Adagio mehr komponiert werden. Auch der erste, in Anlage und Ausarbeitung pastoral gehaltene (bedeutendste) Satz des Werkes vermag seine symphonische Natur nicht zu verleugnen. Ja seinem, den Violinen zugeteilten, Gesangsthema:
[321] begegnet uns wieder das Brahmssche Urmotiv:
Das eigentümliche Verfahren des Meisters, die Melodie durch Triolen zu steigern und dann durch Synkopen zu hemmen, tritt bemerkenswert hervor, desgleichen seine Ungebundenheit in rhythmischen Gliederungen. Hier scheinen die Triolen des fünften und sechsten Taktes zugleich die Schlußgruppe:
vorzubereiten, die im Durchführungsteile so reizend umgestaltet wird. Der Komponist kündigt an, welche rhythmischen Künste und Freiheiten er sich im Verlaufe des Satzes herauszunehmen gedenke. In der Durchführung verbindet er den dreiteiligen mit dem zweiteiligen Takte. Das manchmal bis zur Verwegenheit und Gewaltsamkeit getriebene »Spiel« mit Zeitmaßen und Taktarten, welches den Brahmsschen Stil kennzeichnet, mag den Laien oft in Verlegenheit und Not stürzen; keineswegs resultiert es aus dem Bestreben, durch Pikanterie aufzufallen, sondern ist, gleich der vor Härten und Schroffheiten niemals zurückschreckenden Harmonisation des Meisters als die notwendige Folge seiner polyphonen Denkweise aufzufassen. Mag eine Stimme, welche gerade die führende ist, durch inneren Antrieb genötigt werden, sich gegen das vorgeschriebene Zeitmaß zu wenden, die anderen tun so, als kümmerten sie sich nicht darum, sondern gehen, in scheinbarer Unabhängigkeit, ihren Gang weiter. Brahms hat in seiner, von Beethoven auf[322] Bach, von Bach aber zu ihm selbst zurückkehrenden Polyphonie ein dramatisches Element der absoluten Musik aufgewiesen, das sie in ungeahnter Weise belebt und fruchtbar macht. Es ist keine Übertreibung, wenn wir sagen, daß in der D-dur-Serenade schon die Symphonie der Zukunft und der Brahmsschen im besondern, enthalten liegt. Deiters8 deckt noch andere, dem späteren Brahms eigentümliche Züge darin auf, so das Hineinklingen der mit der kleinen Septime angeschlagenen Tonart der Unterdominante von D (bei der Wiederholung des Allegrothemas); das Horn nimmt das Thema wieder auf:
Dazu ertönt das tiefe C der ersten Violinen. Nicht minder charakteristisch und Brahmsisch ist der Übergang zur Repetition und die poetische Coda des Satzes; die Flöte bringt das Hauptthema und läßt es zerfallen und verhallen, während die Klarinetten pp in synkopierten Terzen begleiten, und die tieferen Saiteninstrumente in leisem Pizzicato antworten. Das erste oder kurzweg das Scherzo der Serenade ist derDes-dur-Stelle des Durchführungssatzes entsprungen; ein thematisches Quellgebiet entsendet bei Brahms immer nach allen Seiten Ströme von Melodie. Es ist ein Stück, wie aus einem Gusse und von geradezu niederwerfender Genialität! Die Gnomen und Elfen des Waldes treiben darin ihr zauberhaftes Wesen und tauchen ihren Übermut in ein melancholisches Moll, um ein paar sentimentale Musensöhne zu foppen. Wir denken an die Detmolder Mondscheinpartien mit dem Konzertmeister und den beiden Studenten; der Kobold Brahms revanchiert sich für die Neckereien seiner Begleiter. Wie brauender Dunst dampft das Hauptthema all' unisono aus der Tiefe der Täler – ein Wink des Geisterbeschwörers, und auf den dünnen Wolkenstreifen wiegen sich graziös lustige Gestalten. Fagott und Kontrabaß machen sich das Vergnügen, ihren Gesang in kanonischen Imitationen zu begleiten. »Dein Haupt will ich bedecken und drauf den Schläger strecken«, klingt es den Studenten ins Ohr:
[323] Bei Brahms lautet es, ein bißchen seiner und nicht so biedermännisch, im wiegenden Dreivierteltakte:
Dazu die artigen Bässe:
Wie das schwebt und schwillt, wogt und sich wiegt! Von den Bäumen glaubt man im Mondlicht die Dryaden ihre weißen Arme nach den Wanderern ausstrecken zu sehen:
Es flirrt und flimmert ihnen vor den Augen, der Malvasier rumort in ihrem Kopfe, die neckenden Gestalten verdoppeln sich. Eine neue Imitation:
[324] Im Trio dreht sich alles im Kreise mit den durch den Wald Taumelnden herum, Menschen und Geister geraten durcheinander – ein Sommernachtstraum!
Auch das Scherzo könnte in jeder Symphonie seine Stelle behaupten. Die Serenade hätte demnach höchstens eines anderen Finales bedurft, um das ganz zu sein, was zu werden sie sich nicht getraute, wenn die Art ihrer Entstehung ihr dies überhaupt erlaubt hätte. Das Rondo-Finale mit seinem volkstümlichen Ideenkreise eignete sich vortrefflich zum Abschlusse eines heiteren, auf realem Boden stehenden Werkes. Aber gerade dieses muntere, frohgelaunte Stück wäre ganz gut ohne großes Orchester ausgekommen. Trompeten und Pauken gaben ihm zwar äußerlich mehr Ansehen, aber weder den festlichen Glanz noch das Gewicht, dessen es bedürfte, um den anderen Sätzen die Wage zu halten9.
Da Joachim trotz aller Abmahnungen nach England reiste, so lernte er die neue Komposition seines Freundes erst ziemlich spät und nur oberflächlich in Göttingen kennen, wohin sie dieser von Hamburg mitbrachte. Die Wintermonate des neuen Jahres (1858) verlebte Brahms bei den Seinigen und im Verkehr mit [325] musikalischen Freunden und Kollegen. Am häufigsten besuchte er das gastfreie Haus Avé Lallements und das ihm besonders sympathische Heim der Familie Grädener. Auch bei Herrn Auktionarius Wagner in der Pastorenstraße, dessen älteste Tochter »Friedchen« zeitweilig seine Schülerin war, erschien er als gerngesehener Gast.10 Bei den Versammlungen des im Herbst 1857 wieder ins Leben gerufenen (zweiten) Hamburger Tonkünstlervereins fehlte er nicht und trat mit einigen seiner Mitglieder, wie mit dem Dirigenten des Cäcilienvereins Karl Voigt, dem Quartettisten Hafner, dem Sänger und GesanglehrerDr. Garvens, den Musikern Risch, Otterer und anderen in nähere Fühlung. Brahms rechnete sich zu den Mitbegründern des Vereines. Dieser aber hielt sich nur ein paar Jahre, und Brahms verwechselte ihn mit dem seit 1867 bestehenden und noch heute florierenden Tonkünstlerverein, der ihn 1892 zum Ehrenmitgliede ernannte11, als er in einem an Julius Spengel gerichteten Dankschreiben vom 4. März 1892 der »schönen, jugendlich-lebhaften Zeit« gedachte und meinte, die Ernennung zum Ehrenmitgliede habe ihn um so herzlicher erfreut, als er dem Verein nicht nur durch Landsmannschaft, sondern auch ganz eigentlich als früheres Mitglied und als sein Mitbegründer längst verbunden sei und angehöre: »Wieviel Ernstes und Heiteres könnte ich von dem Kreise erzählen, in dem ich wohl der Jüngste war!«
Ende März fand eine erste Probe des Brahmsschen Klavierkonzerts in Hannover statt. Joachim hatte Klara und Johannes telegraphisch hinbeordert, und »Johannes war selig und spielte vor lauter Seligkeit den letzten Satz prestissimo.« So schreibt Klara nach der Probe am 30. März an Bargiel. Es klinge fast alles so schön und vieles sogar schöner, als Johannes es sich gedacht habe.
Vom 12. April bis 9. Mai 1858 hielt sich Brahms in Berlin auf. Was ihn nach der preußischen Hauptstadt hingezogen hatte, war weder die Oper und die königliche Kapelle, noch Domchor, Singakademie und Sternscher Gesangverein, auch nicht die Aussicht auf eigene Konzerte, überhaupt nicht das rege [326] musikalische Leben, sondern das Verlangen, Klara Schumann in ihrem neuen Domizil zu besuchen und sich wieder einmal ihres Umganges zu erfreuen. Nach der langen Trennung hatten die Freunde einander mehr mitzuteilen, als während der flüchtigen Stunden bei ihrer Begegnung in Hannover möglich war. An Gelegenheiten, mit den Gaben ihrer Kunst in Bekanntenkreisen zu glänzen, wird es nicht gefehlt haben. In die ^Öffentlichkeit aber ist nichts davon gedrungen. Frau Schumann war noch immer leidend und sehr ermüdet von ihrer Schweizer Konzertreise, und Brahms verspürte, wie gewöhnlich, nicht die geringste Lust, sich auf irgend ein Konzertabenteuer einzulassen. Publikum und Kritik waren ohnehin von Bülow und Tausig gerade stark in Anspruch genommen worden. Lieber sah er sich in den Kunstsammlungen Berlins um und machte sich dabei die kunsthistorischen Kenntnisse Hermann Grimms zunutze, der ihm als Freund Joachims und der Arnims herzlich entgegen kam. Woldemar Bargiel, der Stiefbruder Klaras, war dabei sein unzertrennlicher Begleiter. Daneben durchstöberte er die reichhaltige musikalische Abteilung der königlichen Bibliothek nach passenden Stücken, die er mit seinem Detmolder Singverein einüben könnte. Bei Robert Radecke aber, der mit Ferdinand Laub Quartettsoiréen veranstaltete, konnte er sich für die Auszeichnung bedanken, die dieser vor zwei Jahren seinem H-dur-Trio erwiesen hatte.
Nach seinem Geburtstage kehrte Brahms ins Elternhaus zurück. Dort hielt er es jedoch nicht einmal so lange aus, als Joachim in England blieb. Der Freund war noch nicht wieder in Hannover, um seinen Sommersitz in der Musenstadt Göttingen zu nehmen, so wurde er dort schon von Brahms mit Ungeduld erwartet. Aber die alten fröhlichen Zeiten der »Studierenden« erneuerten sich nicht. Joachim blieb länger als gewöhnlich fern, und Grimm, der die Mitglieder seines »Cäcilienvereins« zur Pflege höherer Musik heranbildete, mußte ihn ersetzen. Grimm hatte die Tochter des Göttinger Instrumentenbauers Ritmüller, eine vortreffliche Klavierspielerin, heimgeführt, und sein Haus wetteiferte mit dem seines Schwiegervaters, der lebendig blühenden Kunst eine gastliche Stätte zu bereiten. Karl von Meysenbug, der als Hochschüler der Georgia Augusta Wohnung und Mittagstisch beim alten Ritmüller [327] hatte, weiß das schöne, freie und behagliche Leben, das beide Häuser erwärmte, nicht genug zu rühmen. Es wirkte so stark und so wohltätig auf ihn ein, daß er, »dem eigentlichen studentischen Treiben entrückt, fast gänzlich in ihm aufging«. Grimm, der selbst ein bemoostes Haupt und nichts weniger als ein Philister war (ein geborener Livländer, hatte er in Dorpat Philologie studiert, ehe er sich der Musik zuwandte), verstand es, die musikalische Jugend zu begeistern. Sein eigener reiner und selbstloser Kunstenthusiasmus leuchtete ihr voran wie eine helle, stet und ruhig brennende Flamme. Joachim gibt dem Freunde die bezeichnenden Eigenschaftswörter: musikalisch, teilnehmend, kreuzbrav und gemütlich. Gründliche wissenschaftliche und musikalische Studien hatten ihm zu einer hohen Bildung des Geistes und Herzens verholfen, die sich sehr zu ihrem Vorteil von jener irrlichtelierenden, ästhetisierenden Halb- oder Viertelbildung unterschied, an welcher die das große Wort führenden Phrasenhelden der damaligen Musikphilosophie krankten. Die natürliche Folge davon war, daß er den Genius eines Brahms besser zu beurteilen und zu würdigen verstand als andere, die in ihm nur ein unselbständiges oder trockenes Talent mehr sahen, und daß er das Seinige tat, um der »spröden« und »undankbaren« Musik des Freundes die gebührende Anerkennung zu verschaffen. Seinem Eifer hatte es Brahms zu verdanken, daß ihm in Göttingen schnell eine treue Gemeinde von Verehrern zuwuchs, die jedes seiner neuen Werke willkommen hieß.
»Passen Sie auf,« sagte Brahms zu Meysenbug, als er ihm in Detmold eine Empfehlung an Grimm mitgab, »Sie werden sich wundern, wenn Sie, der Sie hier schon für die steifen Hofdamen schwärmen, erst dort die schönen, frisch-fröhlichen Professorentöchter kennen lernen!« An eine solche hatte auch Brahms im Sommer 1858 sein kaum geheiltes Herz verloren. Agathe von Siebold, die in Jugend blühende Tochter des angesehenen, einer nahmhaften deutschen Gelehrtenfamilie entstammenden Professors der Medizin, wäre ganz dazu geschaffen gewesen, das häusliche Glück des Künstlers zu begründen. So wenigstens urteilten alle, die das junge Paar in Göttingen beobachteten. Agathe soll nicht nur Geist und Anmut, sondern auch einen seinen musikalischen Sinn besessen haben. Ihre [328] Liedervorträge, zu denen sie Brahms mit Leidenschaft begleitete, machten tiefen Eindruck, den tiefsten auf den am Klavier sitzenden Komponisten. Man glaubte allgemein an eine heimliche Verlobung und rechnete mit Bestimmtheit auf deren öffentliche Deklaration. Aber, wie später in einem ähnlichen Falle, blieb die Erklärung aus, und das zarte Verhältnis löste sich von selbst wieder auf dieselbe geräuschlose Weise, in der es angeknüpft worden war. Nur zu früh hatte der für Agathe besorgte Grimm den Freund aus seinem Liebestraume geweckt und ihn daran erinnert, daß er als ehrenhafter Mann keine aussichtslosen Hoffnungen in dem Herzen des jungen Mädchens erregen und nähren dürfe; denn Grimm fühlte sich als Hausvater, bei dem Agathe aus und ein ging, mit verantwortlich.12 Daß Brahms damals ein guter Ehemann und Familienvater hätte werden können, und daß er lange den heißen Wunsch nach einem eigenen Herd im innersten Gemüte trug, steht außer Zweifel. Oft genug hat er in weichen Stunden zu einem oder dem anderen vertrauten Freunde aufrichtig darüber geklagt, daß er sein Leben in Einsamkeit zubringen mußte, daß ihm mit Frau und Kindern »eigentlich das Beste fehlte«.13 Aber ob es ein Glück für ihn und seine Kunst gewesen wäre, wenn er in jungen Jahren das manchmal recht unsanfte Joch der Ehe und die nicht immer süßen Sorgen der Familie auf sich genommen hätte, ist eine andere Frage. Die befriedigte Sehnsucht, das gestillte Verlangen, der erfüllte Wunsch sind selten ein dankenswertes Geschenk für den Künstler, dessen Werke von dem ewig Unerreichbaren leben und singen, und das grausam gescholtene Schicksal meint es besser mit ihm, wenn es ihm versagt, was es dem geringsten Sterblichen meist so bereitwillig gewährt.
Um Agathens Hand anzuhalten, hätte er schon aus materiellen Gründen nicht gewagt. Seine Detmolder Besoldung reichte [329] gerade hin, um ihn allein vor Not zu schützen. Wie viele Klavierlektionen wären erforderlich gewesen, um Weib und Kind nicht hungern zu lassen! Und nicht nur Bedenken praktischer Art waren es, welche Brahms' Heiratslust lähmten. »Ich hab's versäumt,« sagte er zu Widmann14. »Als ich wohl Lust dazu gehabt hätte, konnte ich es einer Frau nicht so bieten, wie es recht gewesen wäre .... In der Zeit, in der ich am liebsten geheiratet hätte, wurden meine Sachen in den Konzertsälen ausgepfiffen oder wenigstens mit eisiger Kälte aufgenommen. Das konnte ich nun sehr gut ertragen, denn ich wußte genau, was sie wert waren, und wie sich das Blatt schon noch wenden würde. Und wenn ich nach solchen Mißerfolgen in meine einsame Kammer trat, war mir nicht schlimm zu Mute. Im Gegenteil! Aber wenn ich in solchen Momenten vor die Frau hätte hintreten, ihre fragenden Augen ängstlich auf die meinen gerichtet sehen und ihr hätte sagen müssen: Es war wieder nichts! – das hätte ich nicht ertragen! Denn mag eine Frau den Künstler, den sie zum Manne hat, noch so sehr lieben und auch, was man so nennt: an ihren Mann glauben – die volle Gewißheit eines endlichen Sieges, wie sie in seiner Brust liegt, kann sie nicht haben. Und wenn sie mich nun gar hätte trösten wollen ... Mitleid der eigenen Frau bei Mißerfolgen des Mannes ... huh! ich mag nicht daran denken, was das, sowie ich wenigstens fühle, für eine Hölle gewesen wäre15.« [330] – Eine tönende Erinnerung an seine Göttinger Liebe hat Brahms in seinem süßen G-dur-Sextett aufbewahrt, aber so verborgen, daß nur die Eingeweihten etwas davon wissen. Im zweiten Hauptthema des ersten Satzes ruft die erste Violine im Einklang mit der ersten Bratsche dreimal:
Auf das H fällt immer das D der zweiten Geige und Viola: »Agathe!« Der notgedrungene Schreibfehler D für T ist von trauriger Bedeutung; denn man kann auch Ade! aus den Noten herauslesen. Agathe, ade!
[331] Mit der jungen Liebe erwachte für Brahms ein neuer Liederfrühling. Die meisten Gesänge aus op. 14, 19 und 20 rühren aus jenen Tagen der Seligkeit her. Besonders ergiebig war der Monat September; er beschenkte den Komponisten mit Nr. 1, 4, 7 aus op. 14, Nr. 1, 5 aus op. 19, Nr. 1, 2 aus op. 20 und anderen, nicht in seinen Katalog aufgenommenen Liedern. Da Brahms die betreffenden Hefte erst 1861 und 1862 zum Druck zusammenstellte und bei dieser Gelegenheit, wie gewöhnlich, strenge Musterung hielt, so können ganz gut zweimal so viel Stücke komponiert worden sein, so daß fast auf jeden andern Tag ein Lied gekommen wäre. Auch äußerlich war der September 1858, der für Brahms zum Lenz der Liebe und der Lieder wurde, mild und schön wie ein zweiter, im Nachsommer des Jahres erwachter Frühling. Er lud den Naturschwärmer zu produktiven Streifereien durch die ländliche Umgebung der Universitätsstadt ein und hieß ihn, trunken von Melodie, auf den Wegen wandeln, welche die Miller, Voß, Hahn und Hölty vor ihm, berauscht von Poesie, gegangen waren. Der 12. September, der Tag, an welchem 1772 der Göttinger Dichterbund im heiligen Eichenhain geschlossen und besiegelt wurde, war vielleicht der Geburtstag des Brahms-Höltyschen Liedes »Der Kuß«. Brahms, der erst zwei Jahre darauf bei Dr. Emil Hallier in Hamburg Latein studierte16, stand damals der deutschen Nachbildung antiker Strophen noch völlig naiv gegenüber, wie seine Komposition des Höltyschen Gedichtes beweist. Er wußte nicht, daß er es mit asklepiadischen Strophen zu tun hatte, und nahm den gemessenen Silbenfall des »Kusses« für freie Rhythmen. Zu spät wird er erkannt haben, daß die »Mainacht«, – ebenfalls ein Höltyscher Text – genau nach demselben metrischen Gesetz konstruiert ist wie der »Kuß«. Die rhythmische Plastik welche das Brahmssche Meisterlied auszeichnet, fehlt daher der Kuß-Ode, und es hat dem Komponisten offenbar keine geringe Mühe gekostet, die widerspenstigen Verse zu bändigen. In dem kleinen Liede wechseln sechstaktige Perioden mit fünf- und viertaktigen; die dadurch, trotz des Poco Adagio! entstehende atemlose [332] Unruhe verträgt sich aber sehr wohl mit dem Inhalt des Gedichtes: »Zuckend fliegt nun der erste Kuß wie ein versengend Feu'r mir durch Mark und Gebeine.« Auf diesem Höhepunkt des Liedes wechselt mit großer Wirkung die Arsis mit der Thesis.
Daß Brahms die Ode anapästisch beginnen konnte, war eine Folge seiner Unerfahrenheit. Es verhält sich mit dem »Kuß« ähnlich wie mit Beethovens »Adelaide«. Einen so schweren Betonungsfehler, wie ihn gleich der Anfang der »Adelaide« aufweist: »Einsam wandelt« statt »Einsam wandelt« ließ sich Brahms nicht zu schulden kommen, obgleich sein »spielt ich« statt »spielt ich« auch nicht entschuldigt werden kann.
Noch rhapsodischer ist die Komposition des eigentümlich ergreifenden zweiten Liedes aus op. 19: »An eine Äolsharfe« gehalten. Mörike bediente sich der freien Rhythmen, um einen den Ossianschen Gedichten verwandten Eindruck hervorzurufen. Brahms schlägt Töne an, die ganz den geheimnis- und ahnungsvollen Schauer haben, den eine hoch in den Wipfeln der Bäume verborgene Windharfe in uns erregt. Hier ist einer der seltenen Fälle, wo er mit den modernen Stimmungsmusikern ein wenig gemeinschaftliche Sache macht. Was Wunder, wenn er dabei gleich in einen Wagnerismus verfällt und den unmittelbaren Wechsel der Dur- und Mollparallele, der bei Wagner ein beliebtes harmonisches Effektmittel ist, zur Charakteristik der Äolsharfe verwendet! Der Beginn des Liedes klingt wie ein Arioso, auch fehlt es nicht an einem erklärten Rezitativ, das die Wiederholung des zweiten Teiles fast theatralisch eintreten läßt. Die Klavierbegleitung erscheint stellenweise wie ein Surrogatorchester. Aus den klopfenden Triolen, die den Gesang vom elften Takt an begleiten, hört man Flöten und Oboen, aus den gebrochenen Akkorden des As-dur-Teiles die Harfe, und manchmal ist es, als wolle ein Frauenchor die Solostimme auf leisen Harmonien tragen. Diese Nr. 5 aus op. 19 ist ein Vorläufer der Gesänge für Frauenchor mit Begleitung von Hörnern und Harfe op. 17 und des »Ave Maria« op. 12, ein Vorläufer, der nicht ans Ziel kommt. Die übrigen drei Gesänge aus op. 19. nach Uhlandschen Texten, nähern sich im Tone dem Volksliede, welches von Brahms, ähnlich wie von unseren großen deutschen [333] Dichtern, zum Kunstliede erhoben worden ist. Keines der beiden Lieder aber – Nr. 3 ist nur eine beziehungsvolle Variante von Nr. 2 – hat eine Melodie, welche abgelöst von dem Akkompagnement des Klaviers, für sich bestehen könnte, ohne ihren eigentümlichen Reiz zu verlieren. Es sind also nichts weniger als Melodien, vom Volke oder für das Volk gesungen. Bei dem »Schmied« (»Ich hör meinen Schatz«) ist es die glockentönige, durch das schnelle Tempo und die kurz abgerissenen Achtel:
zum Schmiedemotiv umgehämmerte Mittelstimme, bei »Scheiden und Meiden« und »In der Ferne« sind es die eingeschobenen Ritornelle mit dem aufschluchzenden, nach Luft ringenden:
und dessen Umkehrung, die dem Liede seinen Charakter geben. Das Kunstmäßige der Lieder spricht sich auch im Periodenbau aus, welcher die knappe Form unmerklich erweitert; das Volkstümliche aber ist in ihrer natürlichen Einfachheit und in der wunderbaren Prägnanz ihres Ausdruckes zu suchen. Unter der Melodie des »So soll ich dich nun meiden«, welche von a-moll so herb nach d zurückgeht:
pocht ein erfahrenes Herz. Der Sänger weiß, daß sein Trennungsschmerz nur eine einschneidende Note für den Reigen des Lebens bedeutet, der, unbekümmert um das Schicksal der Liebenden oder gar mit ihrem Gram spielend, im flotten Walzertempo weitergeht:
Der Mordent auf cis bringt seinen Namen zur Geltung, er ist von einer beißenden Zierlichkeit.
Noch mehr dem Volksliede nähern sich einige der »Lieder und Romanzen« von op. 14. Bis auf das aus dem Altfranzösischen des Grafen Thibault von Champagne in Herders »Stimmen der Völker« übergegangene »Sonett« – es sollte besser Rondeau heißen, da das Gedicht ein dreizehnteiliges, in den Anfang zurücklaufendes Ringellied ist – rühren die Texte aus Volksliedersammlungen [334] her, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und früher erschienen sind.17 Ihr gemeinsames Merkmal ist eine noch mehr auf innigster Teilnahme des Gefühles als auf Beobachtung und nachempfindendem Studium beruhende objektive Darstellung. Brahms, der sich durch seine hohe Kunst und seine weit in die Vergangenheit verlierenden Forschungen vom Volke entfernt hat, kehrt immer mit verdoppelter Liebe zu ihm wieder, um das Beste, was er erlernte, ihm zuzuwenden und sich mit ihm des gewonnenen Besitzes zu erfreuen. Er besingt nicht das Volk, läßt sich nicht zu ihm herab, sondern zieht es zu sich empor, daß es mit ihm singe oder doch erfahre, wie schön es eigentlich singen könnte. So wird er zum idealen Vorsänger des Volkes und legt seine vollsten Liederkränze vor ihm nieder, als erstatte er ein geliehenes Gut wohlverwaltet und bereichert mit Zinseszinsen zurück. Nur das Reifste und Gesundeste seiner Kunst will er ihm zuwenden, und er läutert auch hier sein Gefühl im Jungbrunnen der alten Musik. Um nicht zu verweichlichen, vermeidet er alles Sentimentale und will von der entnervenden Chromatik nichts wissen. Lieder wie »Vor dem Fenster«, »Vom verwundeten Knaben«, »Gang zur Liebsten«, »Ständchen« und das im Kirchenton komponierte »Sehnsucht« erhärten das Gesagte.
Von den hier erwähnten lyrischen Stücken sind Nr. 2 und 3 aus op. 14 noch im Januar 1858 in Hamburg komponiert, 1, 4 und 7 im September in Göttingen, desgleichen Nr. 1 und 5 aus op. 19; Nr. 5, 6 und 8 (op. 14), Nr. 2 und 3 (op. 19) im Oktober, November und Dezember in Detmold.18 Aus Düsseldorf (1857) oder Detmold stammen die vierzehn, den Kindern Schumanns zum Andenken an ihren ehemaligen Sing-und Spielkameraden gewidmeten, Ende 1858 (ohne Namen) bei Rieter-Biedermann [335] erschienenen »Volkskinderlieder mit hinzugefügter Klavierbegleitung«. Es sind nicht Kinderlieder für Ewachsene, wie Tauberts »Klänge aus der Kinderwelt«,19 die sich am besten im Munde einer mit ihrer Unschuld kokettierenden Sängerin ausnehmen, sondern Lieder, die jedes musikalisch begabte Kind singen kann, ohne sich durch die kunstvolle Begleitung aus dem Text bringen zu lassen. Sogar das durch sein selbständiges Akkompagnement ausgezeichnete, vielgeliebte »Sandmännchen«, dessen Achtel gleich silbernen Körnchen niederrieseln, macht dem kindlichen Sängermunde keine Schwierigkeiten, da der gute Onkel Brahms mit der linken Hand die Melodie gestützt hat. Zwei, angeblich auch im September komponierte Duette für Sopran und Alt: Nr. 1 und 2 aus op. 20 (Nr. 3 »Die Meere«, ist im Kompositionsverzeichnisse Hamburg April 1860 datiert) gehören nicht nur nicht zu den bedeutenderen Werken des Komponisten, sondern fallen fast gänzlich aus seiner Art; aus der Harmonie kann man vielleicht auf Brahms raten. Mit ihrer regelmäßigen kurzatmigen Periodisierung, ihrem schulmeisterlichen Kontrapunkt und ihren trivialen Kadenzen aber nehmen sie sich neben anderen wie fremde Eindringlinge aus. Spitta sagt in seiner Charakteristik der Brahmsschen Lyrik, vereinzelte kleine Züge seiner Melodiegebilde erinnerten von fern an das Lied der Zwanziger- und Dreißigerjahre, da es keinen Schumann gab, und Schubert in Norddeutschland noch nicht durchgedrungen war. Hier finden sich solche Züge nicht bloß vereinzelt, sondern gehäuft. Man möchte darauf wetten, daß der Gelehrte bei seinem leisen Tadel besonders an diese Duette dachte. Sie scheinen zu jenen Jugendversuchen zu gehören, die Brahms sonst sorgsam verheimlichte. Der doppelte »Weg der Liebe« war von Anfang an ein Holzweg. Eben diese Liebe mag den Komponisten verführt haben, den alten Pfad nachbessernd noch einmal zu wandeln. Wenn seine Göttinger Angebetete die Duette mit ihrer Freundin, der späteren Frau Bargheer, sang, ließ er sich wohl von den hübschen Mädchen[336] über den musikalischen Wert seiner künstlerischen Huldigung täuschen; die schönen Stimmen der jungen Damen müssen aber auch noch 1862, als er die Duette, um ein drittes vermehrt, herausgab, die sonst so laute und untrügliche kritische Stimme seines Innern übertönt haben. Denn das dritte: »Die Meere« schmeckt nach derselben Schublade, aus welcher die beiden andern ans Licht gezogen worden sind; seine Musik ist gewöhnliche, mit Mendelssohn verbrämte Biedermeierei.
Hoch über dieses schwache Opus erhebt sich das liebliche, ihm auf dem Fuße folgende »Ave Maria«, op. 12, das auch noch vom September 1858 datiert ist. Die erste, uns überkommene Chorkomposition des jungen Meisters, zeigt das für vierstimmigen Frauenchor, Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner mit Streichquintett (oder mit Orgelbegleitung) komponierte geistliche Lied durch die Gewandheit und flüssige Glätte seines Ausdrucks, daß es gewiß nicht die erste und einzige ihrer Gattung war. Die Anregung zu dem Ave Maria mag Brahms von einer der vielen Prozessionen empfangen haben, denen er auf seinen Wanderungen am Rhein begegnete; ein idealisiertes Wallfahrtslied entstand, das, anstatt des monoton heruntergeplapperten englischen Grußes, die Worte des Evangeliums mit einer reizenden, volkstümlichen Melodie bekleidete. Der sich gleichsam in den Hüften wiegende, in schmelzenden Terzen auf- und niedergleitende Chor täuscht dem Zuhörer eine in zwei Gruppen geteilte Schaar holder Beterinnen vor, die zur Kapelle ziehen, um dem wundertätigen Muttergottesbilde die ersten duftigen Blüten des Frühlings opfernd darzubringen. Die Musik macht von der nur ihr eigentümlichen Fähigkeit, einen episch verlaufenden Vorgang in ein einziges, die Zeit aufhebendes geschlossenes Bild zu bringen, den glücklichsten Gebrauch. In lebendig bewegtem, von den aufmerksamen Instrumenten anmutig umspielten Wechselgange schreitet der schimmernde Zug vorwärts, stockt bei dem Worte Jesus, als sänne er eine Weile über das unbegreiflich hohe, beseligende Wunder des zur Erlösung der sündigen Menschheit geborenen Jungfrauensohnes nach, und vereinigt sich dann vor dem Bilde der unbefleckten Gottesgebärerin mit dem Ausrufe: »Sancta Maria! Ora pro nobis!« zum vollen Chor. Daß der eher zur Skepsis als zum unbedingten Glauben [337] geneigte Protestant es sich nicht verwehren ließ, der poetischen Anschauung des Katholizismus als Künstler mit der vollen Kraft seines Gemütes zu huldigen, ist nicht nur ein Zeichen seiner oft bewiesenen humanen Toleranz,20 sondern noch mehr ein Beweis für die offene Empfänglichkeit seines allem Schönen warm entgegenschlagenden Künstlerherzens.
Brahms konnte die reine Wirkung seiner Komposition in Detmold erproben, wohin er am letzten September von Hannover abging, um sein Amt am Fürstenhofe wieder anzutreten. – Schon nach der Kenntnis der Partitur hatte Joachim Brahms zugesagt, dessen Klavierkonzert öffentlich aufzuführen, und beim Beginn der neuen Saison setzte er alle Segel bei, um es in seinen Hannöverschen Konzerten herauszubringen. Er bat es sich vom Intendanten Grafen Platen als einen speziellen Lieblingswunsch aus und betonte, daß es eine Ehrensache für das Konzertinstitut wäre, das Konzert zuerst aufzuführen. Der Intendant willigte ein. Nun aber hing es noch vom Könige ab, der gegen Brahms durch dessen ehemalige Kameradschaft mit dem vermeintlichen ungarischen Revolutionär Reményi eingenommen worden war, ob der Wunsch des Freundes sich erfüllen sollte. Auch die Serenade ließ Joachim probeweise spielen und überzeugte sich dabei, daß aus dem Oktett für Soloinstrumente ein Orchesterstück werden müsse. Kurz resolviert ließ sich Brahms ein frisches Buch Notenpapier mit vierundzwanzig Systemen kommen, um das Oktett in eine Symphonie zu verwandeln, da er einsah, daß das Werk »eine Zwittergestalt, also nichts Rechtes« war. Dazu seufzt er: »Ich hatte eine so, schöne große Idee von meiner ersten Symphonie, und nun!« Bargheer überraschte ihn einmal mittags bei der Arbeit. Alles in seinem Zimmer, Flügel, Bett, Tische und Stühle, war mit Partiturbögen [338] bedeckt, die Brahms, der sehr früh aufzustehen pflegte, am Morgen vollgeschrieben hatte. »Ich bin dabei,« sagte er, »die Serenade für Orchester zu setzen, sie wird sich so besser machen.« Als ihm Bargheer darauf erwiderte, dann wäre es ja eine Symphonie, meinte Brahms: »Ach, Gott, wenn man wagt, nach Beethoven noch Symphonien zu schreiben, so müssen sie ganz anders aussehen!«
Über alle diese Dinge wurde fleißig zwischen Detmold und Hannover hin und her korrespondiert. Brahms, der unwilligste und ungeduldigste aller Briefschreiber, ärgerte sich, daß er nicht länger in Göttingen geblieben war. Die Krankheit einer Hofdame verbot das Musizieren. Inzwischen rüstete er sich für den Winter und bereitete für Detmold unerhörte Dinge vor. Zwei Kantaten von Bach (»Christ lag in Todesbanden« und »Ich hatte viel Bekümmernis«) einzustudieren, war ihm ein besonderes Vergnügen. Da es im Schlosse keine Orgel gab, mußte doch instrumentiert werden, und Brahms konnte seine auf Philipp Emanuel Bach gestützten Theorien praktisch verwerten. Er wäre mit der schwierigen, ihm noch immer ungewohnten Arbeit nicht fertig geworden, wenn Joachim ihm nicht geholfen hätte. Ihre Freundschaft und die gemeinschaftliche Begeisterung für die großen Gegenstände ihrer Kunst überwanden siegreich alle Schwierigkeiten. Brahms befolgte die, wie immer, liebevoll in die Sache eingehenden Vorschläge Joachims, und die Aufführung der ersten Kantate21 fiel so über Erwarten gut aus, daß ihm gnädigst erlaubt wurde, eine zweite einstudieren zu »dürfen«. Zuvor aber machte ihm Händels »Messias« zu schaffen. Da er außerdem die Mozartschen Klavierkonzerte, welche er der Prinzessin einübte, selbst dirigierte, so kam sich neben ihm der alte Hofkapellmeister manchmal recht überflüssig vor. Brahms glaubte nicht, wie er Joachim schreibt, es [339] besser zu machen als Kiel, aber es sei doch angenehmer, die Prinzessin mit Lust spielen zu sehen als selbst zu spielen und oben (am Dirigentenpulte) einen zu sehen, der sich ennuyiert. Kiel mußte die Direktion der Klavierkonzerte, ob er sich nun bei ihnen langweilte oder nicht, als einen Eingriff in seine Rechte betrachten, und er erlaubte dem jungen »Streber« nicht, selten gehörte Haydnsche Symphonien mit dem Orchester durchzunehmen, was Brahms so gern getan hätte. Auch war ihm zu Ohren gekommen, daß der »rücksichtslose Mensch« sich oft in sehr abfälliger Weise über die von ihm dirigierten Konzerte äußerte. Brahms versäumte natürlich an keinem Mittwoch das musikalische Theater, und er setzte sich immer auf die Galerie, angeblich, weil er den Klang des Orchesters dort am schönsten fand, tatsächlich, weil er ungeniert sitzen, bequem sehen und so wenig wie möglich gesehen werden wollte. Bei dem »musikalischen« Bierwirt Herrn Niere22 – in Detmold war damals, wie gesagt, alles musikalisch – wurde nach jedem Konzert gesprochene Kritik geübt, die, wenn sie im Blättchen der Residenz erschienen wäre, aller Wahrscheinlichkeit nach, die sofortige Landesverweisung des Kritikers zur Folge gehabt haben würde. Daß Brahms mit der Hofkapelle seine Serenade einstudierte, konnte Kiel, weil das Werk von Oben gewünscht wurde, nicht verhindern. Sie kam also in Detmold, noch vor Hamburg und Leipzig, zur Aufführung, allerdings vor beschränktem Zuhörerkreise.
Nach Leipzig hatte sich Brahms im November gewendet und Ferdinand David geschrieben, daß er gern nach Neujahr sein Klavierkonzert im Gewandhause spielen wolle. Da unterdessen auch von der Hannöverschen Majestät die erbetene Erlaubnis herabgelangt war, so konkurrierten nun Hannover und Leipzig um die Première. Am liebsten wäre Brahms mit Joachim zusammen als Komponist vor das große Publikum getreten. Joachim hatte sein schönes Violinkonzert »In ungarischer Weise« gerade vollendet, und Brahms war begierig es zu hören; wenn es nach seinem Sinn gegangen wäre, so hätten sie ihre beiden Konzerte [340] gleichzeitig vom Stapel gelassen: »Philistergeschwätz und Vergleiche hören wir nicht, denke ich, vor lauter Vergnügen über das eigene und über das des andern!« Mit Klara Schumann, die Anfang Dezember in Detmold konzertierte, über den Sonntag nach Hannover zu kommen, wie Joachim wünschte, getraute er sich nicht. Er fürchtete, da »sie« in Detmold »so kleinlich« wären, sie würden ihm, obwohl er bis Dienstag nichts zu tun hätte, die zwei Tage als Urlaub anrechnen und erwarten, daß er dafür länger nach Neujahr dableibe. Das erwarteten »sie« allerdings, auch ohne den Urlaub. Brahms aber berief sich auf seinen Kontrakt und lehnte die weitere zeitliche Ausdehnung seiner Berufspflichten ab. Ohnehin fühlte er, daß seine Kraft ungebührlich ausgenutzt wurde. Nicht einmal zum Üben seines Klavierkonzerts kam er mehr, und doch sollte er es schon im Januar spielen: »Man gebraucht mich hier etwas sehr, und so bleibt mir wenig Zeit.« Der Boden brannte ihm unter den Füßen, das Feuer auf die Nägel, aber er mußte aushalten, und die Detmolder trösteten das ungeberdige große Kind mit einer Christbescherung. Seine hohe Schülerin schenkte ihm sogar die bis zum Jahre 1857 erschienenen Bände der Bach-Gesellschaft, d.h., sechs Stück, über die Brahms sich so lange freute, bis er dahinter kam, daß sie ein Danaergeschenk bedeuteten. Denn die übrigen Bände der auf Subskription erscheinenden kostspieligen monumentalen Ausgabe mußte er bis zu seinem Tode aus seiner Tasche bezahlen.
[341] 1 »Neues Wiener Tagblatt« vom 3. und 4. April 1902: »Aus Johannes Brahms' Jugendtagen,« von K. v. Meysenbug.
2 Die meisten und wertvollsten Aufschlüsse über »Brahms in Detmold« habe ich schriftlichen Mitteilungen des Herrn Professors Bargheer zu verdanken; sie wurden von den Freiherren Karl und Hermann von Meysenbug auf das beste ergänzt.
3 »Bei einer Opernprobe«, läßt Bargheer den Kapellmeister Kiel erzählen, »hörte ich den Baß, der schon längere Zeit sehr diskret begleitet hatte, plötzlich gar nicht mehr«. Ich schaue mich um und sehe, daß der alte Neumann ruhig bei seinem Kontrabaß steht, während der neben ihm sitzende Schmidt, den Kopf auf die Schnecke seines Violoncells gebeugt, sanft eingeschlafen ist. »Philipp, warum spielst Du nicht?« rufe ich Neumann zu, worauf dieser, auf seinen Kollegen zeigend, mit großer Gemütsruhe antwortet: »Hei möt ümwennen, hei slöpt awer.« (Er soll die Noten umwenden, er schläft aber.) Daher der Spitzname: Schlummer-Schmidt.
4 K. v. Meysenbug a.a.O.
5 »Neues Wiener Tagblatt« vom 9. Mai 1901: »Aus Johannes Brahms' Jugendtagen« von H. v. Meysenbug.
6 op. 43 Nr. 4. Dr. G. Ophüls (»Brahms-Texte«, »Vollständige Sammlung der von Joh. Brahms komponierten und musikalisch bearbeiteten Dichtungen«), bemerkt in einer Note dazu: »In dem betreffenden Liederheft op. 43 stehen unter dem Titel die Worte; ›Aus des Knaben Wunderhorn.‹ Der komponierte Text scheint indessen eine Kombination der verschiedenartigen Fassungen des Gedichtes in der angeführten Sammlung und bei Uhland (p. 294) zu sein; dasselbe findet sich auch bei Kretschmer Bd. I, p. 154, sowie bei Scherer p. 326; nach Mittler (p. 97) soll das Lied auch im Lippeschen und in der Taunusgegend Boden gefaßt haben.« Wahrscheinlich ist also das Lied nach der Version komponiert worden, wie sie Brahms im Fürstentum Lippe gefunden hat, und erinnerte er sich 1868, als er das Lied drucken ließ, nicht mehr seiner Quelle.
7 Zuerst aufgeführt am 9. Febr. 1855 in Hannover; erschienen bei Schreiber in Wien.
8 a.a.O.
9 Die D-dur-Serenade erschien im Dezember 1860 als op. 11 bei Breitkopf und Härtel. Sie ist das erste Brahmssche Orchesterwerk, das in Paris aufgeführt wurde, und erfreute sich dort einer besonders freundlichen Aufnahme. Bis zum Winter 1875 kannte man im Pariser Publikum von Brahms nur die ungarischen Tänze, einige Lieder und drei Kammermusikwerke, die von Lamoureux herausgebracht wurden: dasA-dur-Quartett op. 26, das f-moll-Quintett op. 34 und das Sextett op. 18. Am 10. Januar 1875 führte Pasdeloup in einem Concert populaire vier Sätze aus derD-dur-Serenade auf. Adolphe Jullien schrieb darüber in der »Revue et Gazette musicale do Paris«: la Sérénade en ré majeur, pour être une oeuvre de jeunesse de l'auteur, renferme pourtant des idées élégantes et se fait remarquer »déjà par une instrumentation piquante et une mise en oeuvre délicate.« Sehr verständig bespricht Hugues Imbert in der »Revue Bleue« das Verhältnis, welches zwischen der Serenade und den früheren Werken von Brahms besteht: »On devine qu'après l'apparition des premières compositions, où se décèle son génie, il a voulu se retremper dans l'étude approfondie des grands modèles. Il cherche une forme plus simple, plus classique, une invention plus claire. La révolution qui se fait chez lui à cette époque accuse un tempérament vraiment spécial et dont on trouve peu d'exemples dans le passé.«
10 »Brahms in Hamburg« von Walter Hübbe.
11 Festbericht zur Feier des 25-jährigen Bestandes des »Hamburger Tonkünstlervereins« von 1892.
12 Johannes Brahms im Briefwechsel mit J.O. Grimm, herausgegeben von Richard Barth. XIII.
13 Als mich Brahms im Juli 1883 zur Geburt meines Sohnes beglückwünschte, schrieb er: »Ich hatte vor, Ihnen sonst recht behaglich zu erwidern. Aber lassen wir's bis auf ein wirkliches Plauderstündchen! Dann kann ich Ihnen erzählen, wie auch ich von und für einen Knaben träumte – wie die Natur weiter arbeiten müsse, die Familie ihren Höhepunkt noch erreichen!«
14 A.a.O.
15 Hier mag noch eine verwandte Stelle Platz finden, die in einem 1901 für die Hamburgische Wochenschrift »Der Lotse« von mir verfaßten Aufsatz: »Persönliches über Johannes Brahms« enthalten ist. Nach seinem ungebundenen und, wie mir vorkam, flatterhaften Wesen – den Frauen gegenüber – hielt ich Brahms lange Zeit für einen eingefleischten Junggesellen und glaubte, er sei aus Überzeugung ledig geblieben. Dem war aber nicht so. Zu meiner größten Überraschung sagte er mir eines Tages, daß er sehr gerne geheiratet hätte, auch ein paarmal sogar dicht vor der Verlobung gestanden wäre. Das Schicksal habe ihn aber immer im entscheidenden Augenblicke davor bewahrt, eine Torheit zu begehen. »Wer weiß denn, was er heiratet?« fragte er skeptisch. Als er sich einen Hausstand hätte gründen wollen, habe er die Mittel dazu nicht gehabt, und als er in der Lage gewesen wäre, habe er die Lust verloren. »Nach einem Musikfeste,« so erzählte er mir, »saß ich einmal bei Tische neben einem wundervollen Mädchen, um die ich mich schon all die Zeit über niedlich gemacht hatte. Na, sie war wirklich reizend, riesig musikalisch, und ich war ganz Feuer und Flamme. Sie können sich denken: die gute Musik, die netten Leute, der seine Tisch, der Wein und das prachtvolle Frauenzimmer. Jetzt, überlegte ich mir, ist die Gelegenheit da. Ich trinke also mein Glas aus, rücke an die Nachbarin 'ran und will eben loslegen mit der schönsten Erklärung – da fragt sie mich nach N., einem affektierten Kerl, den ich nicht ausstehen konnte, ob ich ihn kenne, was ich von ihm halte u.s.w., und fängt gleich an zu schwärmen, daß ich nur sagte: ›Jawoll, ein rührender Knabe,‹ sonst aber das Maul hielt. Sie hat übrigens dann einen andern genommen, denn ihrem Zieraffen war sie nicht reich genug.« – Ein andermal interessierte er sich für eine ebenfalls sehr musikalische und sehr hübsche junge Dame, der er öfters am Rhein begegnete. Auch da wäre es beinahe zur Verlobung gekommen. Diesmal aber verdarb den Handel die Gesellschaft, die sich allzu lebhaft für die Partie engagierte. Mit seiner Angebeteten zu einem Gartenfest eingeladen, das nach dem Sinne des Veranstalters mit der Verlobungsfeier hätte gekrönt werden sollen, wurde Brahms mit der ihm Zugedachten geflissentlich allein gelassen. Während die Liebenden in den verschlungenen Wegen des Gartens auf- und abwandelten, bereitete der Hausherr den Toast auf das Brautpaar vor. Es verging aber eine halbe Stunde nach der andern, und sie kamen nicht wieder. Endlich wurde der Garten durchsucht. Da fand man die Dame allein in Tränen aufgelöst in einer Laube sitzen. Brahms hatte den Braten gerochen und war ohne Abschied auf- und davongegangen. – Während der Achtzigerjahre scherzte Brahms öfters über sein glückliches Pech oder wohlgefügtes Unglück, und er machte von dem Daniel Spitzerschen Bonmot: »Ich war leider nie verheiratet und bin es Gott sei Dank noch immer nicht,« ausgiebigen Gebrauch. Sobald im Munde der Leute wieder eine neue Kombination entstand, die ihn mit irgend einer schönen Sängerin verkuppeln wollte, pflegte er zu sagen: »Ich nehme mich jetzt doppelt in acht; denn jetzt komme ich in das Alter, wo man leicht einen dummen Streich macht.«
16 Hübbe a.a.O.
17 Ophüls a.a.O.
18 Frau Bertha Faber in Wien besitzt einige dieser Lieder in Originalmanuskripten: »Ständchen« op. 14 Nr. 7 ist überschrieben: »Volkslied (Zuccalmaglio)« datiert: »September 58«; »Scheiden und Meiden« und »An die Ferne« (statt »In der Ferne«), op. 19 Nr. 2 und 3, datiert: »Oktober 58«: »Trennung« und »Sehnsucht« op. 14 Nr. 5 und 8: Volkslied »(Zuccalmaglio)«, datiert: »November 58«.
19 R. Hohenemser, der eine verdienstliche Abhandlung »Brahms und die Volksmusik« geschrieben hat, (»Die Musik« II Heft 18) stellt, im Gegensatz zu dem Obigen, die Kinderlieder in eine Reihe mit Taubert und Schumann (Album f. d. Jugend). Mir scheinen weder die Lieder noch die Klavierstücke so schlicht wie diese Volkslieder; eher könnten Karl Reineckes vielgesungene »Kinderlieder« zur Vergleichung herangezogen werden.
20 »Wenn er in Italien einen Dom betrat, in dem sich Beter befanden, die nach dem Eintretenden sich umsahen, so verfehlte er niemals, seine Finger scheinbar ins Weihwasserbecken zu tauchen und das Zeichen des Kreuzes leicht anzudeuten, damit die Gläubigen nicht durch die Erscheinung eines um ihre religiösen Gebräuche sich nicht kümmernden Ketzers skandalisiert würden; so groß war die Herzenshöflichkeit dieses von oberflächlichen Beurteilern oft für rauh, hart und unverbindlich gehaltenen Mannes.« (J.V. Widmann a.a.O.)
21 Als Grädener dieselbe Kantate in Hamburg aufführen wollte, wandte er sich der Bearbeitung wegen (im Oktober 18559) an Brahms, der ihm antwortete; »Ich habe die Partitur nicht hier, kann nur nach dem Gedächtnis berichten, daß ich die Posaunen nicht gebrauchte, nur eine Baßposaune zum letzten Choral; sonst Klarinetten, Fagotte, ich glaube Oboen und für den ›wunderlichen Krieg‹ ein E-Horn (singt da nicht der Alt den Cantus firmus?) Ich hatte dem Klavieristen eine Stimme aufgeschrieben, hauptsächlich zum Beispiel zum 2. Vers (Duett zwischen Sopran und Alt). Schließlich habe ich alles vom Chor singen lassen.«
22 Von Herrn Niere erzählt Bargheer, er habe ihn einmal, nachdem Brahms das Beethovensche Es-dur-Konzert gespielt hatte, gefragt: »Was meinen Sie wohl? Solchen vortrefflichen Klavierspieler gibt es gewiß nicht mehr auf dreißig Meilen in der Runde?«
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