|
Schon 1883, als Brahms, entgegen seiner einst so bestimmt ausgesprochenen Willensmeinung,1 Österreich im Sommer verließ und nach Wiesbaden ging, hatte er daran gedacht, wieder einmal einen längeren Aufenthalt in der Schweiz zu nehmen. Was ihn damals an den Mittelrhein zog, haben wir im vorigen Bande erörtert.2
Jetzt lockte es ihn um so mächtiger in das Land, mit dem ihn so viele herzliche Sympathien von Jugend auf verbanden, als er einen Ersatz auch für Italien brauchte, dessen Frühling ihm 1886 abermals entgangen war. Von den Naturschönheiten und dem Klima des Berner Oberlandes hoffte er am ersten entschädigt zu werden. Auch gefiel er sich, angesichts der ihm widerwärtigen öffentlichen Zustände in Österreich, in der Liebhaberrolle des »politischen Flüchtlings«, d.h. eines in seinen Gefühlen gedrückten liberalen deutschen Mannes, der dem Ministerium Taaffe und seiner tschechisch-polnisch-klerikalen Majorität zeitweilig den Rücken drehte, um sich mit gleichgesinnten Stammesgenossen gehörig auszuschimpfen. Wenn er schon im Winter nicht von Wien fort wollte und konnte, es wäre denn der notwendigen Konzertreisen wegen gewesen, so gewährte ihm doch jetzt der Entschluß, den Sommer über nicht in Österreich zu bleiben, eine Art von stiller Genugtuung und innerer Befriedigung. Zum Glück gingen seine Kunst und deren Ansprüche, ohne daß er sich darüber völlig klar wurde, allem andern vor – ohne physische Behaglichkeit gab es für ihn keine Produktion mehr – und die Politik kam erst in zweiter Linie, obwohl er Gewissens- und Gesinnungsfragen gern zur Hauptsache gemacht hätte.
Charakteristisch für ihn ist die Antwort, mit der er am 22. Mai 1886 eine Einladung Georg Henschels, nach London zu [1] kommen, ablehnte, wo Hans Richter am 10. Mai die e-moll-Symphonie aufführte; sie spricht noch deutlicher als die von 1878 für seine Sinnesart.3 Es ärgere ihn, schreibt er, auch von Henschel das gewöhnliche Gerede von seiner Abneigung gegen die Engländer usw. zu hören. Henschel müsse denn doch notwendig wissen und genug von ihm gehört haben, daß einzig seine Bequemlichkeit und seine sehr geringe Lust an Konzerten ihn abhalte, nach England, wie nach Petersburg oder Paris zu gehen. – »Ich habe gerade genug an den nur zu reichlichen Konzerten in Deutschland4 – aber nun wäre es auch wohl nötig, Ihnen zu erklären, weshalb ich denn diese und überhaupt Konzerte mitmache!? Daß mein Ausbleiben von Engländern mißdeutet werden kann, begreife ich; es ist aber trostlos, wenn ich Sie darüber aufklären soll und Ihnen sage, daß es mit dem Musikmachen nichts zu tun hat, wenn wir hier ein böhmisches Ministerium haben oder Sie drüben einen glanz vollen Opium-Krieg.«
Es ist also nur ein wortwörtlicher, kein folgerichtiger Widerspruch, wenn acht Tage später Brahms dem Verfasser seine neue Adresse per Postkarte mitteilt, mit den Worten: »Von ›Hofstetten bei Thun‹ kommen hier die schönsten Grüße, und ich nehme nur deshalb keinen Briefbogen, um nicht gar zu arg zu loben. Aber ich freue mich meines Entschlusses, es ist ganz herrlich hier. Nur so nebenbei sage ich, daß es auch eine Menge [2] Viergärten gibt – darin kommen Engländer nicht fort! Für meine Behaglichkeit ist das nichts Kleines...« Er meinte den englischen Reisepöbel, der ihm ebenso widerwärtig war wie der Berliner. Die Karte ist drei Tage nach seiner Ankunft in Thun abgefertigt. Seine Freude hielt an; am 22. Juli schreibt er an Billroth: »Nun laß mich Dir aber auch sagen, daß ich ganz glücklich bin, hierher gegangen zu sein. Mir wurde der Entschluß schwer, aber ich wollte einmal wieder in die Schweiz. Wie schön und wie behaglich in jeder Beziehung es hier ist, davon hast Du keinen Begriff. Du magst Dir selbst ausmalen, was dazu gehört: reizende Wohnung, schöne Spaziergänge und Fahrten, gute Wirtshäuser, angenehme Menschen, die dann, namentlich von Bern, für vortreffliche Lektüre sorgen usw.«
Auch die Seinigen in Hamburg-Pinneberg mußten an seiner Freude teilnehmen. An Frau Karoline Brahms schreibt er: »Liebe Mutter, ich denke genug an Euch, es ist unrecht, daß ich's nicht auch einmal gesagt habe! Ich hoffe, Fritz, der Lange, ist seit dem 1. bei Euch und bleibt recht, recht lange dort. Die bessere Luft dort müßte doch Sommer und Winter heilsam und angenehm für ihn sein. Grüße ihn herzlich von mir, und ich wünschte, es möge ihm recht behaglich bei Euch sein. All die guten Nachrichten von der Familie Schnack zu hören, ist mir eine große Freude. Es ist da wohl nichts zu wünschen – sonst bitte ich Dich, Dich nicht zu genieren, im Verhältnis zu Deiner Familie, und immer daran zu denken, daß ich mehr Geld habe, als ich gebrauche, und daß ich die größte Freude habe, wenn Du davon gebrauchst für Dich oder die Deinen! Nächstens werde ich Dir jedenfalls tausend Mark zugehen lassen – aber Du hast ja auch viel für Fritz ausgelegt! – Hier ist es denn ganz herrlich schön, und ich bin ganz glücklich, daß ich hergegangen bin; auch meine Wohnung, unmittelbar am Wasser, ist höchst behaglich. Nun laß mich auch hören, daß es Euch, den Rosen und Allen sehr gut geht, daß Ihr sehr vergnügt seid und hübsch den Sommer genießt. Mit herzlichen Grüßen Dein Joh.«
Welche reinste Menschenliebe spricht aus diesen Zeilen! Ihr Stil ist auf die einfache Frau eingerichtet, die er seiner werktätigen Liebe versichert. Was die Stiefmutter mit ihrem Sohn [3] in ihrem Pinneberger Landhäuschen Gutes genießt, verdankt sie seiner Fürsorge, die sich nun auch auf ihre ganze Familie erstreckt. Was sie an »Fritz, dem Langen« tut – so nennt Brahms seinen leiblichen Bruder im Unterschied zu Fritz, dem Kleinen, seinem Stiefbruder – fällt selbstverständlich ihm zur Last und bedarf eines besonderen Kontos. Die früheren Mißhelligkeiten zwischen den Brüdern sind vergessen, seitdem Fritz Friedrich, der »falsche Brahms«, kränkelt und der Pflege bedarf. Allen soll es gut gehen, auch den von Frau Karoline gepflanzten Rosen im Vorgarten, die ihr Stolz sind, so gut wie ihm in dem reizenden Thun am Ufer der Aare!
Der südliche Charakter der Landschaft, die Üppigkeit ihrer Vegetation und die strahlende Heiterkeit ihrer durchsichtigen, milden Luft trugen nicht wenig zum Wohlbefinden des Sommergastes bei. Brahms liebte die Wärme. In Thun hatte er ein zweites, gesteigertes Pörtschach gefunden, und seine lebhafte Produktionslust vergewisserte ihn, daß er in dem seither verflossenen Jahrzehnt nicht gealtert hatte. So erwuchs denn dem Triennium vom Wörthersee in den drei Thuner Sommern ein Seitenstück, das sich, merkwürdig genug, sogar in Einzelheiten mit jenem berührte, als wäre es nach seinem vorbildlichen Plane durchlebt worden. Den in Pörtschach komponierten Werken von op. 73–79 stehen die in Thun geschaffenen oder zum Druck beförderten von op. 99–109 gegenüber: dem Violinkonzert das Doppelkonzert für Violine und Violoncell, der Violinsonate in G die beiden Violinsonaten in A und d, den Motetten op. 74 die Chorgesänge op. 104 und die »Deutschen Fest-und Gedenksprüche« op. 109, den »Balladen und Romanzen« op. 75 die Liederhefte von op. 105–107, der zweiten Serie »Ungarische Tänze« die »Zigeunerlieder« op. 103. Eine neue Symphonie gibt es freilich nicht, auch keine Klavierstücke und Rhapsodien, dafür aber eine zweite Violoncellsonate und ein viertes Klaviertrio.
»Nun aber hat sich hier am See entschwungen
Ein Saitenton, wie wir ihn nie gehört«,
singt Joseph Viktor Widmann in seinem auf dieA-dur-Violinsonate (op. 100) verfaßten Gedicht. Zwei andere beziehungsvolle Verszeilen desselben anmutigen Poems prangen seit dem Jahre 1899 auf einer [4] von dem Einwohnerverein Thuns dem Andenken des Meisters gestifteten Marmortafel, und diese ist in die Straßenfront eines zwischen Stadt und See unter halb des Jakobshübeli gelegenen fünffenstrigen, kleinen Hauses eingefügt.5 Es erhebt sich dicht am Ufer der in krausen Stromschnellen vorüberschießenden blaugrünen Aare, die ein wenig weiter oben das blanke Becken des Thuner Sees verläßt, um »das Inseli« und die Thuner Stadtinsel liebend zu umfassen. Das saubere Häuschen gehörte 1886 dem Tischlermeister und Greisler Johann Spring, der Laden und Werkstatt darin hatte, und wendet der Fahrstraße nur eine mit einem Holzschuppenpanzer bekleidete Etage zu. Im Flusse aber spiegeln sich über dem Tiefparterre die zweimal fünf Fenster zweier Stockwerke, deren oberes am Südostende in eine halb offene Glasveranda ausläuft. Unter dem, nach Art der Häuser im Kanton Bern, weit vorspringenden Dache wohnte Brahms, und im lustigen Glasanbau war sein Lieblingsplatz, wo er am frühen Tage den selbstgebrauten Kaffee trank. Frau Spring mußte ihm, was er zum Frühstück brauchte, immer schon am Abend vorher auf den Tisch in die Veranda stellen, da er von seinem Morgenspaziergange manchmal heimkehrte, bevor noch Vater Spring den Laden aufgemacht hatte. Bei schlechtem Wetter speiste Brahms zu Hause und nahm mit der einfachen Kost der Wirtsleute vorlieb.
Eine riesige Wellingtonia, die zur Linken in doppelter Höhe des Hauses die Spitze ihrer grünen Pyramide zum blauen Himmel emporstreckt, wehrte die zudringlichen Strahlen der Sonne ab. Gegen die Neugierde Vorübergehender schützte sich Brahms dadurch, daß er nur die nach der Aare zu gelegenen Zimmer seiner geräumigen Wohnung benutzte. Von dort hatte er überallhin die [5] entzückendste Aussicht: Unter den Fenstern läuft der schmale, jenseits der Dampferhaltestelle damals noch nicht begangene Kai hin; Segelboote und Dampfschiffe fahren an ihm vorüber. Von Norden her grüßt die hochgebaute altertümliche Stadt mit ihrem von zierlichen Ecktürmen flankierten Schlosse. Am andern Ufer führt unter schattigen Bäumen der schöne Promenadenweg nach dem uralten Scherzligen, mitten im Flusse davor schwimmt das buschige »Inseli«, aus dessen Grün die Deloseaschen Häuser hervorlugen, das Stromparadies des Dichters Heinrich von Kleist, der dort 1802 poetischen Plänen nachhing und sein Leben selbst zur Poesie gestalten wollte (»Ein Kind, ein schön Gedicht und eine große Tat!«). Theophil Zolling schildert den Thuner See und seine Umgebung mit den anschaulichen Worten: »Im Vordergrund ein Kranz von Villen und Dörfern, sanft geschwungenen Rebenhügeln und waldigen Höhen, und über dieser Idylle die Tragödie der Alpenwelt: die kühnen Linien und kräftigen Farben der Felsschroffen, Schneefelder und Gletscher. Ein majestätisches Bild entrollt sich von der Pyramide des Niesen bis zu den Firnen der großartigen Blümlisalp, des spitzen Stockhorns und der schimmernden Jungfrau, deren Eispanzer im Morgenstrahle die Leuchte der noch schlafbefangenen Täler und Hügel bildet!«6 Kein Wunder, daß Brahms in einem Brief an Simrock, der sich mit Familie in dem vierthalb Wegstunden von Thun entfernten Gurnigelbad niederließ, sein Quartier kurzweg die schönste Wohnung nennt, die er noch gehabt habe.
Wie er sagte, brauchte er nur ein paar Schritte vom Hause wegzugehen, um die Gebirgskolosse der Berner Alpen über den See in die Wolken steigen zu sehen. Seine Spazierwege führten ihn in der Nähe durch die Bächimatt, über Jakobshübli zur Kohlerenschlucht oder dehnten sich am jenseitigen Ufer weiter aus. Seltener benutzte er die Thunerseebahn oder die Dampfschiffe, obwohl sie ihn binnen wenigen Minuten zu den reizendsten Ausflugsorten brachten. Das von ihm bevorzugte Restaurationslokal, wo er die Mittag- und Abendmahlzeiten einzunehmen pflegte, war der kühle, an die Aare stoßende Wirtsgarten des »Freienhofes«, eines gut bürgerlichen [6] Gasthauses, in welchem anspruchslose Gäste logierten. Wenn er die Woche über fleißig spazierengegangen war, d.h. komponiert hatte, so machte er sich ein Sonntagsvergnügen und fuhr am Samstag abends nach Bern zu seinem lieben Widmann, wohl wissend, daß er damit dem Freunde und dessen Familie ebenfalls einen Festtag bereitete. In den »Erinnerungen« gedenkt Widmann wehmütig-heiter seines Sonntagsgastes, dem es so gut bei ihm gefiel, daß er manchmal bis Dienstag oder Mittwoch blieb. Das ganze Gepäck des nach der Hauptstadt des Kantons Reisenden bestand in einer ledernen Umhängetasche, die meistens Bücher enthielt. Widmanns Bücherschatz war Brahms' Leihbibliothek, und die Tasche wurde daher niemals leer.7 »Bei schlechtem Wetter hing ihm ein alter braungrauer Plaid, der auf der Brust von einer ungeheueren Nadel zusammengehalten wurde, um die Schultern und vervollständigte die seltsam unmodische Erscheinung, der alle Leute erstaunt nachblickten, und die mich manchmal an eine gewisse Illustration in einer älteren Ausgabe von Chamissos, Peter Schlemihl' erinnerte.« Ruhetage, meint der Schreiber jener »Erinnerungen« seien jene hohen Fest- und Freudentage freilich nicht gewesen. Der stets rege Geist des Gastes habe gleiche Aufgewecktheit von allen verlangt, die ihn umgaben, und man habe sich gehörig zusammennehmen müssen, um mit ausdauernder Frische auf der Höhe seiner Unermüdlichkeit zu bleiben. »Ich habe nie jemand gesehen, der den Erscheinungen des Lebens, mochten sie nun Gegenstände der Natur, der Kunst oder auch nur der Gewerbetechnik sein, so frische, echte und andauernde [7] Teilnahme geschenkt hätte, wie Brahms. Jede kleinste Erfindung, jede Verbesserung irgendeiner Gerätschaft im häuslichen Gebrauch, kurz, jede Spur menschlichen Nachsinnens, wenn sie von praktischem Erfolge begleitet war, freute ihn herzlich.«8
Nach dem Vater meldet sich die Tochter zum Worte, die an Professor Ferdinand Vetter verheiratete Stieftochter Widmanns. Sie hat über den Thuner Aufenthalt von Brahms im Jahre 1886 allerlei Denkwürdiges aufgeschrieben, auch die hübsche Anekdote, daß Brahms einer Dame, die ihn fragte, ob er immer lange nachdenke, bevor er komponiere, mit der Gegenfrage antwortete: »Denken Sie immer lange nach, bevor Sie sprechen?« Brahms setzte sich dadurch bei der Frau Professorin in den irrigen Verdacht der Misogynie. Obgleich das nicht angenehm sei, so stehe er ihnen, meint Frau Ellen Vetter-Brodbeck, ihr und ihrem Gatten, die ihn als den Urheber der Musik lieben, die sie am meisten bewegte und ergreife, doch gerade darum wieder höher, weil ihm das ekelhafte Bewundern und Anbeten der Damen gegen den Strich gehe.
»Er hat«, fährt Frau Vetter fort, »eine riesig kräftige, gesunde Natur, verläßt gewöhnlich um 4 oder 5 Uhr das Bett, bewegt sich mit Vorliebe im Freien, ißt und trinkt viel, hat Freude daran und geht gern und schnell. Erstaunlich ist sein ausgebreitetes Wissen, seine Belesenheit, sein Gedächtnis und sein Verständnis für jede Art von Kunst.
Wir waren zweimal mit ihm im Sommertheater auf dem Schänzli, wo er höchst vergnügt zuhörte; während der ›Fledermaus‹ sagte er öfters zu mir: ›Das sollten Sie in Wien hören!‹ Als wir hie und da bei den lustigen Walzern die Füße nicht still halten konnten, sagte er: ›Wartet nur, ich will euch einmal Walzer spielen!‹ Und acht Tage nachher, am Sonntag abend, als wir alle bei meinen Eltern mit Hegar von Zürich und Munzinger9 zusammen waren, da faßte ich mir ein Herz und erinnerte ihn an sein Versprechen. Lächelnd sagte er: ›Zuerst wollen wir mal was Ernsthaftes spielen für die Musikdirektoren, [8] nachher müssen die 'naus, dann spiel' ich euch Tänze.‹ Und er fing an und spielte ganz gewaltig, aus dem Kopfe natürlich, und, wie immer, dazu summend und brummend, so daß der Flügel und das Zimmer und das Haus dröhnte: die Paganini-Variationen und ein Schubertsches Streichquartett, dann eine prachtvolle Tokkata und Fuge von Bach, – man glaubte die Orgel brausen zu hören. Zuletzt fragte er: ›Wollen Sie noch einen kleinen Bach?‹ und als Hegar rief: ›Lieber einen großen!‹, ließ er noch eine Bachsche Fuge folgen.10 Nachher versuchte er die Musikdirektoren hinauszubugsieren. Sie ließen sich aber nicht wegbringen und waren geradeso entzückt wie wir von den herrlichen Straußschen Walzern.
Am Dienstag (29. Juni) fand nun endlich unser oft verschobenes Gartenfest statt, zu dem er schon lange zugesagt hatte. Leider konnte man eines Gewitters wegen wieder nicht draußen essen, und Brahms mußte bei uns mit 24 Personen im kleinen Zimmer speisen. Er fügte sich aber ins Unvermeidliche mit so liebenswürdiger Manier, daß ihm alle Herzen zuflogen. Papa wurde von ihm beständig, Theologe' angeredet, wie er ihn früher immer ›junger Mann‹ genannt hatte. Noch war der Regen nicht vorbei, so rannte er schon hinaus, fand alles ›allerliebst‹ und besonders die bunten Papierlaternen ›wundernett‹. Weniger schien es ihm zu behagen, als kurz darauf die Liedertafel mit Fackeln aufzog und auf der Hügelterrasse hinter unserm Häuschen Posto faßte, um zu singen. Ich sagte, das sei ein ihm zu Ehren dargebrachtes Ständchen. ›Ach was‹, fuhr er ärgerlich auf, ›das ist doch für die Hausfrau!‹ Mit vieler Mühe überredete ich ihn, zu den Herren hinaufzugehen. Er ließ mich nicht entschlüpfen, sondern schleppte mich mit und brummte, als ein Lied zu Ende war: ›War ja recht schön!‹ Eine große Stille trat ein, [9] und die Sänger freuten sich schon auf ein paar Dankesworte. Aber er sagte laut zu mir: ›Na, das war doch für Sie, Geburtstagskind. Jetzt halten Sie den Herren eine schöne Rede!‹ Ich wußte nichts Besseres, als die Sänger zum Bier einzuladen, und sie kamen auch. Brahms aber hatte mich nur darum in Verlegenheit gebracht, weil er glaubte, ich hätte das Ständchen bestellt gehabt.
Er war dann am Mittwoch zum Nachmittagskaffee und zum Abendessen bei uns und redete, so viel und so mancherlei. Das altdeutsche Minnelied in seinerC-dur-Sonate ist aus der Sammlung von Nicolai,11 das prächtige Chorlied ›In stiller Nacht‹ war ursprünglich ein schwülstiges, pietistisches, 30 Strophen langes Lied, worin sich alles auf Jesus bezieht.12 Überhaupt ändere er oft die Texte nach seinem Gutdünken, auch ein Lied von Brentano habe er ganz geändert.13
Ich schickte Brahms eine scherzhafte Todesanzeige von unserem Haustier Reinecke, dem kleinen Fuchs, der sich mit seinen Geschwistern in der Gefangenschaft durch Naschen eine Krankheit zugezogen hatte. Darin hieß es u.a.: ›Er starb im schönsten Jünglingsalter, wird aber ausgestopft.‹ Umgehend erhielt ich folgenden liebenswürdigen Brief:
›– Er wird aber ausgestopft!‹ – Ach, vielleicht sagt eine zärtliche Freundin, wenn ich einst dahin, auch: ›– Er wird eingebunden!‹ Und dann fängt für meine Noten die Unsterblichkeit an, wie jetzt für sein Fell und dauert – solange eben der Einband, das Material hält! Jetzt aber hüten Sie das kleine Geschwister vor dem längst verrufenen ›Schlecken‹!
In allergebührendster Teilnahme Ihr ergebenster J. Br.«
[10] »Neulich sprachen wir von der sogenannten Programmmusik, die Papa scharf geißelte. Brahms verurteilte sie nicht unbedingt. Er sagte, in manchen Menschen stiegen eben immer Bilder auf beim Anhören von Musik, auch bei ihm sei dies, wenngleich seltener, der Fall. Joachim habe ihm geschrieben, beim Anhören des letzten Satzes seiner dritten Symphonie habe er das Bild von Hero und Leander nicht weggebracht, und es lasse sich ja hören.
Letzten Freitag kam er ganz unerwartet um 11 Uhr Vormittags mit Herrn Dr. Wendt aus Karlsruhe zu uns, als der Garten voller Wäsche hing. ›Beflaggen Sie für uns?‹ fragte er belustigt ...
Am vergangenen Dienstag brachte er dann den letzten Abend hier zu, um am Mittwoch über Zürich nach Wien zu reisen. Er hatte geschrieben, falls Professor Vetters nichts anderes vorhätten für den Abend, könnte noch ein kleines Klavierkonzert stattfinden. Natürlich stellten wir uns ein. Er spielte zuerst die g-moll-Phantasie von Beethoven, dann die Schumannsche wundervoll. Ich hatte seine Sonaten mitgebracht, aber er war nicht zu bewegen, sie anzusehen. Da er so oft unter Künstlern Eitelkeit und Selbstanbetung vorfindet, mag er nun ins andere Extrem verfallen. Von einem bekannten Komponisten erzählte er, wie er nach der Aufführung einer seiner Symphonien mit Brahms und andern im Hotel zu Nacht gegessen und sich beim Gespräch über diese Symphonie in eine solche Begeisterung hineingeredet habe, daß er vom Tisch aufgesprungen sei und nicht eher ruhte, als bis er ihnen auf dem Wirtshauspianino die ganze Symphonie nochmals durchgespielt hatte.«
Der oft und eben erst von Frau Ellen Vetter wiedergenannte Schuldirektor Geheimrat Dr. Gustav Wendt aus Karlsruhe gehörte im Sommer 1886 zu den Logiergästen des »Freienhofes«. Brahms kannte ihn schon zu Levis Zeiten näher. Seit der Widmung seiner Sophoklesübersetzung und dem großen Dienst, den Wendt mit der rechtzeitigen Sendung des Buches dem Meister der e-moll-Symphonie unwissentlich geleistet hatte, war Brahms dem freisinnigen, kunstbegeisterten Manne von universeller Bildung noch herzlicher zugetan als zuvor. Er gab es ihm, nach seiner [11] Art, durch eine Menge von kleinen Aufmerksamkeiten zu erkennen, noch mehr aber dadurch, daß er ihn seines täglichen Umganges und seines vollen Vertrauens würdigte, zuletzt ausdrücklich durch den Brief, den er ihm am Morgen des 4. Oktober, dem Tage seiner Abreise, schrieb:
»Sehr geehrter und lieber Freund,
Ich fahre den Mittag von hier nach Wien ab, und der letzte Gruß soll Ihnen gelten.
Ungemein viel habe ich Ihrer gedacht: jeden Abend, wenn ich statt Ihres Gesichts und Gesprächs mich der Zeitung freuen sollte, und jeden Tag, wenn der Spaziergang gar zu wonnig wurde.
Daß es bis heute immer schöner hier wurde, Ihnen darf ich das sagen, denn schließlich, Sie haben Ihre Zeit genossen vollauf. Aber all die schönen Touren machten Sie zu einer Zeit, da ich doch vorsichtig nach Schatten spähte! Wie oft wünschte ich Sie später daher, als nichts den Genuß störte, und man sich nicht sättigen konnte im Anschauen der Herrlichkeit. Nebenbei gesagt, bin ich noch auf Mürren und dem Niesen gewesen.14
Ich denke im nächsten Jahre wieder hierher zu gehen. Statt viel zu erklären und zu entschuldigen, sage ich nur: falls auch Sie hierher kämen, habe ich die feste Absicht, Ihnen so viel Klavier zu spielen, als Sie wollen und ich kann!
Nun aber seien Sie herzlich gegrüßt und hoffentlich auf Wiedersehen den Winter.
Ihr sehr und herzlich ergebener J. Brahms.«
[12] Der vorletzte Absatz des (Entschuldigungs-)Briefes bezieht sich auf ein Versprechen von Brahms, und er wiederholte es bei seiner Abreise, um sich der Gegenwart des Freundes für das nächste Jahr zu versichern. Wendt notierte in seinem Diarium: »Gespielt hat er während dieser vierzehn Tage keinen Ton, den ich gehört habe. ›Bei geschlossenem Fenster kann ich nicht atmen, und bei offenem spiele ich nicht, weil sich gleich draußen Zuhörer versammeln würden.‹ Das Versprechen, er wolle einen ganzen Abend musizieren, wenn schlecht Wetter würde (›denn eigentlich müßte ich Ihnen doch was vorspielen!‹) ließ sich nicht einlösen. Was er jetzt alles in der Schweiz komponiert hat, erfuhr ich nur durch einen Brief von Billroth, den ich zum Lesen erhielt; dieser spricht seine lebhafte Freude über zwei neue Violinsonaten, etliche Lieder, auch vierstimmige, und ein Trio aus, das Brahms nach Wien gesandt hat, um sie von Kupfer abschreiben zu lassen.«
Des Weiteren berichtet Wendt: »In Thun ist Brahms allbekannt.15 Am Tage seiner Ankunft brachte ihm die Stadtmusik [13] ein Ständchen. – Eine durchziehende Zigeunerkapelle, die im Garten des ›Freienhofes‹ Konzert gab, spielte, da der Dirigent von seiner Anwesenheit hörte, einige seiner Ungarischen Tänze. Er saß unter den Zuhörern und applaudierte lebhaft mit.16 Alle Welt kennt ihn, wenn er, im Wollhemd, leichten Rock und Beinkleid, aber ohne Weste und Halstuch, oft auch ohne Kragen, den Hut in der Hand, stundenlange Wege in der Umgegend macht. Einige Engländer haben ihn schriftlich gebeten, einmal in Oberhofen zu essen. Das paßt ihm aber schlecht; er hat auf den Brief gar nicht geantwortet.«
Wendt begann im Juli 1886 ein Thuner Tagebuch, brach es bald wieder ab, setzte es aber 1887 in freierer Form fort. Da er einsah, daß Brahms schließlich das interessanteste Objekt der Betrachtung in Thun war, so beschäftigte er sich fortan schriftlich allein mit ihm und fixierte, unabhängig von Tag und Stunde, was er gesprächsweise von ihm erfuhr. Wieviel wir seinen Aufzeichnungen verdanken, wissen die Leser dieser Biographie. Daß wir es vorziehen, die uns von Wendt überlieferten Aussprüche des Meisters, zusammenhangslos, wie sie sind, am passenden Ort und geeigneter Stelle einzuschalten, braucht kaum begründet zu werden.
Im ersten Jahre seines Thuner Aufenthalts rührte sich Brahms, kleinere Ausflüge abgerechnet, nicht von der Stelle und lehnte alle Einladungen ab, die ihn aus seiner idyllischen Zurückgezogenheit in das Gewühl der Welt hinauslocken wollten. Weder [14] Wüllner, der ihn im Juni zum Musikfest nach Köln, noch sein Mannheimer Gastfreund Dr. Felix Hecht, der im August bei der Jubiläumsfeier der Universität Heidelberg dort mit ihm zusammentreffen wollte, hatte Glück.17 Den ersten beschwichtigte er mit dem Versprechen, er werde in Gedanken zuhören, und legte ihm nahe, in seiner Rhöndorfer Sommerfrische an die schönen Jugendtage zurückzudenken, wenn in Honnef die Nachtigallen schlügen, sich aber jetzt der »schöneren Gegenwart« zu freuen; dem zweiten sagte er, sein »Nein« würde kaum zu hören sein, so ungern und so zaghaft käme es heraus. Aber er würde sich an der Beschreibung in der »Illustrierten Zeitung« genügen lassen, wie es ihn andrerseits vollkommen befriedigte, daß ihm Wüllner schrieb, wie unendliche Freude er, das ganze Orchester, die Musiker und das Publikum an seiner e-moll-Symphonie (der Hauptzierde des Festprogramms) gehabt hätten. Sie sei wundervoll gespielt worden und habe mit dem Musikfestorchester ganz herrlich geklungen.
Übrigens empfing Brahms im September selbst Besuch und zwar heimlich erhofften und erwarteten. Hermine Spies, die, wie Brahms wußte, im Sommer die Südschweiz und das Berner Oberland bereisen wollte, kam endlich und ließ durch einen Boten fragen, ob Freunde aus Wiesbaden im Vorbeigehn Guten Tag sagen dürften? »Und gleich hinterdrein erschienen Herminens lachende Augen in der Tür. Ein Spätsommertag war's. Die Nachmittagssonne stand vor ihrem Untergange und strahlte golden über die Wasser und durch die geöffneten Fenster zu uns herein. Die Blumengehänge, die über die Ufer des Sees herabfielen, wurden zu neuen glutvollen Farben erweckt und sandten ihren Duft herüber. Hermine sang dazu. Zwei neue, noch ungedruckte Lieder lagen auf dem Notenpult des Flügels, ›Immer leiser wird mein Schlummer‹ und ›Wie Melodien zieht es‹. Brahms begleitete. – – ›Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn, wie Frühlingsblumen blüht es und schwebt wie Duft dahin –‹. Abends stand der Vollmond über dem See. Ein bewimpeltes, mit bunten Lichtern geziertes Schiff, mit fröhlicher Tanzmusik zog [15] an uns vorüber, als wir uns von Brahms verabschiedeten, um in unsern Gasthof einzukehren.« ...
So schreibt Minna Spies in ihrem Gedenkbuche. Und so oder ähnlich mag es wohl auch Brahms geträumt haben, als er »in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin« die Violinsonate in A-dur komponierte, ein Seitenstück zu der F.A.E.-Sonate von 1853. Ihre Melodien zogen die Besungene herbei: »Komm bald!«, »Wie Melodien zieht es« und andere, die niemals zu Worte kamen.
Nach acht Tagen, bei ihrer Rückkehr vom Genfer See, sprachen die Schwestern noch einmal vor, und Brahms hatte sie veranlaßt, bei Widmanns einzubrechen, um den Freunden unter seiner Mitwirkung »eine scharfe Liederfolter zu versetzen«. Am 23. September meldete er den Besuch brieflich an, mit dem Vorschlage, Professor Vetters und Professor Stern18 »zur Halbierung des Schmerzes« dazu einzuladen, und der Drohung, am Mittwoch nachmittag »mit Spießen und Stangen zu kommen«. Ein unvergeßlicher Tag wurde erlebt: »Die herrlichsten Lieder wetteiferten miteinander, dazwischen spielt Brahms in seiner unvergleichlichen Weise Bach.«
Mit den drei neuen Sonaten und dem Trio war Brahms zuerst in Thun spazieren gegangen. Er scheint bald an dem einen, bald an dem andern Werke gearbeitet zu haben, denn am 8. August schickte er Billroth »ein paar erste Kapitel«, die er, »so zu seiner Aufmunterung ins Reine schrieb«, und das waren die ersten Sätze der genannten Kammermusikstücke. Zehn Tage später kommen den Sonatensätzen einige Lieder nachgeflogen: »Ich genierte mich neulich, ein Lied von Groth beizulegen, das mit der A-dur-Sonate zusammenhängt. Da ich es nun doch sende, so drängt sich ein anderes von Groth dazu – und da noch eins von einem alten Kollegen von Dir!«19 Den Zusammenhang der [16] Sonate mit dem dritten, bereits erschienenen Grothschen Liede (»Komm bald«, op. 97 Nr. 5) herauszufinden, überließ er Billroth, und gerade hier liegen die thematischen Beziehungen nicht so offen zutage. Billroth erwähnt nichts davon, weiß auch kaum, wo anfangen und wo aufhören, wenn er etwas »über die Schönheit der verschiedenen Edelweiß-Blumen« sagen soll, die Brahms »von den Felsen des Thunersees gepflückt« habe. »War ich«, antwortet er, »in einsamer, etwas weicher Stimmung besonders empfänglich, oder fließt wirklich ein besonders kräftiger Strom aus Deinen neuen Schöpfungen, ich weiß es nicht.«
Nirgend tritt der organische, triebkräftige Einfluß, den die Lyrik auf die Kammermusik bei Brahms ausübte, so nachweisbar deutlich hervor wie hier. Was wir schon bei den drei Klaviersonaten am Beginn seiner Laufbahn bemerkt haben,20 wiederholte sich immer wieder. Das damals und später nur indirekt Angedeutete wird nun offen eingestanden. Brahms hat den Zusammenhang von Poesie und Musik in seinen »absolut-musikalischen« Werken niemals in Abrede gestellt, sich gelegentlich selbst einen Poeten genannt21, und dabei die Gattungen seiner Tonpoesie genau unterschieden. Im allgemeinen repräsentierte ihm die Symphonie die dramatische, die Kammermusik die epische, das Lied die lyrische Form. Selbstverständlich schlösse eine solche Ansicht keineswegs aus, daß die nicht fest abzugrenzenden Gebiete, wie auch bei der Poesie, ineinander überfließen, und zwar hier noch viel leichter und bequemer als dort, weil die Musik die freiere Kunst ist. Das Lied aber, als deren Wurzel, liegt allen ihren Schöpfungen zugrunde, und was sich zu weit von diesem gemeinsamen Ursprung entfernt, verliert sich im Unverständlichen; es ist auch hier dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Den Nachweis zu führen, daß die A-dur-Sonate eine echte Liedersonate ist, fällt nach dem Vorausgeschickten nicht schwer. Es hat wohlmeinende Leute gegeben, die es Brahms verdachten, daß er ein von Wagner selbst bereits so stark in Anspruch genommenes Thema wie das Preislied Walthers aus den »Meistersingern« zum Angelpunkt eines eigenen Werkes machen konnte, [17] und übelmeinende redeten geringschätzig von Anempfindung und Plagiat. Wir stellen die beiden Anfangstakte der »Seligen Morgentraum-Deutweise« und der Sonate – denn nur um sieben Melodienoten handelt es sich – einander gegenüber:
Rhythmus und Intervalle stimmen ja so ziemlich überein, aber doch nur im ersten Takte; im zweiten ist es die bewegte Figur, dort eine Triole, hier gewöhnliche Achtel, was die Reminiszenz veranlaßt. Die abwärtsgehende Quart mit aufwärtssteigender Sekund ist gewiß nichts Ungewöhnliches, sondern findet sich bei verschiedenen Komponisten, vor und nach Wagner. Als besonders frappierendes Beispiel zitieren wir die im Allegro des Beethovenschen »Geister«-Trios (op. 70 Nr. 1) erscheinende Violinfigur:
Das Durchführungsmotiv wurde von Beethoven aus der Violoncellmelodie:
[18] mit welcher das Hauptthema des Satzes beantwortet wird, entwickelt. Bei Brahms kann das ganze Thema der Sonate für eine Phantasieableitung von seinem Liede »Komm bald!« (»Warum denn warten«):
angesehen werden.
Ein sehnsüchtiges Echo, mit dem die Violine dreimal – nach jeder viertaktigen Periode – ein- und wieder absetzt, ehe sie das Thema übernimmt, deutet gleichsam an, daß das Klavier der Geige erst Zutritt gewährt, nachdem es die von gleichem Verlangen erfüllte Partnerin zur Mitwisserin des Geheimnisses gemacht hat. Den ganzen Satz über verharrt das Saiteninstrument in seiner dienenden Stellung, und erst im Andante spielt die Vertraute eine selbständige, hervorragende Rolle; im Finale gelangt sie sogar zur Herrschaft, aber nur insoweit, als sie sich mit dem Klavier darein teilt. Man könnte auch an zwei Rivalen denken, die, um die Gunst einer Schönen buhlend, in zarten Aufmerksamkeiten einander überbieten, etwa an Dichter und Musiker. Sie wandelten zuerst getrennte Wege, bis sie sich im Liede zur Huldigung für die Königin ihres Herzens vereinigten: Klaus Groth und Johannes Brahms im Minnedienst bei Hermine Spies. Der Text des Gesangsthemas erinnert an die Beziehungen der Schwesterkünste und ihrer Vertreter; sie erkennen, daß einer auf den andern angewiesen ist, und daß sie hier gemeinsam operieren müssen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen. Groth berührt in dem zum Gegenstand des Liedes erhobenen Werdeprozeß des Dichtens die schwache Seite der lyrischen Poesie. Im Reime, dem melodischen Element des Verses, sagt er, ruht vielleicht der verborgene Duft, der das im Wort erblaßte Gefühl wieder färbt und die, wie ein Hauch entschwundene Stimmung zurückruft, und dieser Duft lockt [19] den Musiker herbei, der das Werk erst vollendet. Kennte man das Lied nicht, man würde schwerlich hinter dem E-dur-Seitensatze:
hinter dem Gesangsthema ein Thema des Gesanges:
vermuten, so instrumentalmäßig schwingt sich die liebliche Melodie empor. Der ganze Satz, ja die ganze Sonate ist Gesang geworden wie das Allegro der zweiten Symphonie; ein Melodienstrom durchwogt ihn, der, gleich der Aare, blühende Inseln umarmt. Wie verliebt muß der Komponist in sein Allegro gewesen sein, daß er es selbst amabile nannte, und wieviel muß ihm an der möglichst insinuanten Versinnlichung seiner Gefühle gelegen haben, daß er eine solche Menge von dynamischen Zeichen aufwendete, bald teneramente, bald molto dolce, baldespressivo vorschrieb! »Dolce sempre« sollte über dem Ganzen stehen.
Nach den vorbereitenden Empfangsfeierlichkeiten des Allegros die antizipierte Gegenwart der ihren Liedern nachgehenden Erkorenen im Andante. Die ruhige Bewegung der von der Violine intoniertenF-dur-Melodie, welche von dem vollgriffigen, in akkordischen Wohlklängen schwelgenden Klavier nachgeahmt wird, atmet süße Empfindung, heiteren Frieden und seliges Genügen. Wie nur die Musik es kann, verschmilzt sie abermals Objekt und Subjekt; das Bild wird von den Empfindungen des Beschauers umrahmt, den der in ihm ausgeprägte Gegensatz von Sentiment und neckischer Laune anzieht. Ein Vivace in d-moll unterbricht zweimal den getragenen Teil; Adagio und Scherzo lösen einander im Wechsel ab, in der Art des Mittelsatzes vom Quintett op. 88. Anfangs wollte es, wie Heinrich v. Herzogenberg schreibt, ihm nicht behagen, »daß dieses lieblicheF-dur-Gesicht [20] schon einen Bräutigam mitbrachte, einen munter-traurigen Norweger«, eben jenes eingekapselte Moll-Scherzo, das im Charakter, auch in der Farbe an Partien der ersten Griegschen Violinsonateop. 8, noch lebhafter aber an das Andante der zweiten op. 13, erinnert:
– zufällige Anklänge, die auf das Wiesbadener Sonatenspiel mit Beckerath zurückdeuten. Im letzten Satz hätte, wie derselbe freundliche Tadler gesteht, er sich gern ein zweites Thema gefallen lassen. Das Finale tut nämlich so, als besäße es nur eins: die ungemein ausdrucksvolle, für die tiefste Chorde der Violine berechnete Kantilene von zwölf Alla breve-Takten, auf welche der Satz, wie im Rondo, immer wieder zurückkommt. Dazwischen aber steckt ein halbes Dutzend anderer Themen die Köpfe hervor, werdende oder vergehende Lieder, die sich in ihrem damaligen problematischen Zustande nicht getrauen, auf die Szene zu kommen. Als körperlose, geflügelte Putten mögen sie dazu beitragen, die Glorie des zuletzt gen Himmel fahrenden Gesanges zu erhöhen. Wie durch einen Türspalt dürfen wir in die geistige Werkstätte des Tondichters blicken; aus dem wogenden Chaos seiner Gedanken treten jene schnell wieder zerrinnenden Gebilde hervor, die nur die Hand des Meisters gestalten und festhalten kann. Erinnerungen der Vergangenheit und Ahnungen der Zukunft durchkreuzen sich. »Ich war an manch vergessenem Grab gewesen«, – klingt es aus dem dreizehnten Takte hervor, Geisterhände erheben sich und weisen auf das Adagio des Klavierquartetts op. 26 und auf das Allegro des f-moll-Quintetts hin (S. 21 Takt 5ff. und S. 24 Takt 1ff.), Schumanns Gesicht taucht einen Augenblick auf (ebend. Takt 5), und die Illustration zu dem Liede »Wenn mein Herz beginnt zu klingen« (op. 106 Nr. 4) möchte gleich darauf (Takt 7) den Tönen die Schwingen lösen: »Bleiche Wonnen, unvergessen und die Schatten von Zypressen –« alles, was dem Tondichter durch den Sinn geht, fliegt der majestätisch lieblichen Melodie zu:
[21] die mit siegesfreudigem Jubel in jauchzenden Doppelgriffen der Geige abschließt.
Räumlich um acht Opuszahlen von derA-dur-Sonate geschieden, steht die dritte und letzte, dem wiederversöhnten Hans v. Bülow zugeeignete22 Violinsonate ihrer heiteren Nachbarin zeitlich und leiblich so nahe, daß sie für deren ernste Zwillingsschwester gelten kann. Möglicherweise hielt die kunstreichere Arbeit den Meister länger auf. Als hätte er gleich den Freund im Sinne gehabt, dem er sie widmen wollte, stattete er die Klavierpartie reicher aus und mutete ihr Schwierigkeiten zu, die, wie die Sextengänge in der Koda des Allegros und die Oktavenläufe im Presto des Schlußsatzes, den Virtuosen herausfordern. Auch in ihrer äußeren Gestalt ist died-moll-Sonate freigebiger bedacht; denn sie besteht aus vier Sätzen. Zwischen Adagio und Finale wird ein höchst delikates Intermezzo (fis-moll, 2/4-Takt) geschoben, das Scherzo-Stelle vertritt. Wäre es nicht so originell ausgeführt, daß es schon dadurch für seine Selbständigkeit spricht, so hätte es sich, nach der von Brahms beliebten Weise, noch enger mit dem Adagio verbinden, in ihm aufgehen können, während es jetzt als dessen Gegensatz abgesondert von ihm dasteht. Mit bewunderndem Staunen gewahrt man, wie Brahms aus dem unscheinbaren Pendelmotive
ein Musikstück von beinahe zweihundert Takten entwickelt, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. Das um die Hälfte kürzere Adagio verfügt nur über Eine Kantilene; aber sie reicht, ihren Moll-Abgesang eingeschlossen, über vierundzwanzig Takte und gehört zu [22] den schönsten, die Brahms gesungen hat. Eine geborene Geigenmelodie, wie das Finalthema derA-dur-Sonate, ertönt auch sie zuerst auf der G-Saite, wird von einem Kontrapunkt des Klaviers begleitet, der dann als Zwischenspiel benutzt wird, und kehrt noch einmal variiert und gesteigert in der höheren Oktave zurück, um dann sanft und feierlich zu verhallen. Geheimnisvolle Fäden spinnen von dem Adagio zu dem Liede »Klage« (op. 105 Nr. 3) hinüber.
Der erneuerten Beschäftigung mit Schumann, dessen Werke er sukzessive, wie sie in der kritischen Gesamtausgabe bei Breitkopf & Härtel erschienen, wieder vornahm, verdankt Brahms manche Anregung: Das Presto agitato des Finales, wenn nicht der inhaltreichste, so doch der am meisten durchgearbeitete Satz, mahnt daran, ohne die Autorschaft seines Komponisten auch nur in einem Takte zu verleugnen. Ein grandioses, wetterleuchtendes, von Stürmen der Leidenschaft durchwühltes Nachtstück, verbindet es den Ernst deutscher Romantik mit der sinnlichen Glut italienischer Ausgelassenheit. Eine zigeunernde Tarantelle liegt dem Satze zugrunde, der das zweite, gemessene Thema, sobald sie zum Vorschein kommt, vergebens Einhalt gebietet. Über seinen Kopf weg stürmen die rollenden Triolen weiter und heben zuletzt den gebieterischen Hauptgedanken (passionato) auf den Schild:
[23] Ohne Zweifel ist das Finale der Gipfel des Werkes, und doch bedenkt man sich, ob man nicht dem ersten Allegro den Vorzug geben solle. Was die gedrungene Knappheit seiner Form angeht, die das gemeinsame erste Erkennungs- und Meisterzeichen der ganzen Thuner Gruppe bildet, so darf das Allegro geradezu für ein Unikum gelten. Beide Themen zeigen eine außerordentliche nervöse Reizbarkeit, gleich dem Manne, dem das Werk dediziert ist; das schnell wechselnde Mienenspiel ihrer interessanten Physiognomie setzt die Muskeln in zuckende Bewegung:
Wie die Haupt- und Seitensätze auseinander hervorgegangen sind (I a begegnet uns unter den Masken auf der »Promenade« des Schumannschen »Karneval« in einem andern Domino!), so rücken sie auch dicht hintereinander auf und werden dann, durch den in der Klavierbegleitung von I liegenden Kontrapunkt verbunden, über einem sechsundvierzig Takte währenden Orgelpunkte der Dominant durchgeführt. Der Übergang zur Repetition vollzieht sich ganz unvermerkt, weil das Klavier die schaukelnde Violinfigur beibehält, während das Saiteninstrument mit dem Hauptthema wieder beginnt. Ein zweiter, kürzerer Orgelpunkt der [24] Tonika stellt sich vor der Koda ein, mit welcher das Motiv I a in doppeltem Echo verhallt. Den Durchführungsteil auf einem ruhenden Basse aufzubauen und dabei die kühnsten Modulationen zu gebrauchen, konnte nur einem Brahms einfallen. Alle, die die Sonate zu sehen und zu hören bekamen, ehe sie 1889 von Simrock herausgegeben wurde, stimmten in ihrem Lob überein. Klara Schumann stellt sie der ersten an die Seite – »die zweite ist ja auch schön ... aber ich ziehe diese dritte doch der zweiten vor ...«, schreibt sie in ihrem Tagebuche und fügt hinzu: »Wie dankbar war ich für dieses Labsal in meinem vielen Kummer.«24 Ihr kranker Arm erlaubte ihr zuerst nicht, das Werk selbst zu versuchen, und sie mußte es sich vorspielen lassen; dann aber rang sie es ihrem leidenden Zustande ab. Am 2. Dezember 1888 merkt sie an: »Ich studiere mit Begeisterung Brahms' d-moll-Sonate, darf aber immer nur eine Viertelstunde hintereinander üben.« Wie rührend und wie schön, die nahezu siebzigjährige Greisin von den Flammen des Kunstwerkes angeglüht zu sehen!
Ein Jahr vorher hatte Frau Schumann das neue Trio (op. 101) probiert, »das wunderbar ergreifende c-moll-Trio«. »Welch ein Werk ist das! genial durch und durch in der Leidenschaft, der Kraft der Gedanken, der Anmut, der Poesie! Noch kein Werk von Johannes hat mich so ganz und gar hingerissen, so sanft auch bewegt der zweite Satz, der ganz wunderbar poetisch ist«, ruft die Künstlerin aus .... Das ist viel gesagt, in einem Atem, zuviel und doch nicht genug. Um die Übertreibung auf das rechte Maß zurückzuführen, so nehmen wir Frau Schumann gegen ihr eigenes Geschmacksurteil in Schutz. Sie vergaß, daß von den hundert Werken, die dem c-moll-Trio vorangingen, nicht wenige sie schon»ganz und gar« hingerissen hatten. Frauen ist es erlaubt, aus Liebe ungerecht zu sein. Brahms hatte darunter zu leiden, und diese Ungerechtigkeit, die sich nicht bloß auf die Unter-oder Überschätzung seiner Werke, sondern auch auf die Beurteilung anmutiger, von dem Jugendfreunde ausgezeichneter Frauen und Mädchen erstreckte, war die sich immer wieder erneuernde Ursache von Verstimmungen und Zerwürfnissen. Die [25] liebe Frau vergaß, daß ihr Johannes, den sie gern überallhin mit Augen mütterlicher Zärtlichkeit und Sorge verfolgt hätte, kein erziehungsbedürftiger Juvenil mehr war, und es wurde ihm peinlich, Vorwürfe anhören zu müssen, wo er zum mindesten auf schonendes Verständnis gehofft hatte.25
Von den Brahmsschen Klaviertrios (um das Vergleichsobjekt auf die engere Gattung einzuschränken) ist das c-moll-Trio gewiß das mächtigste und großartigste, dasjenige, von dem sich behaupten läßt, es zeige den Meister wohl auf der freiesten Höhe seiner Kunst wie im Vollbesitze seiner Phantasie und von den verschiedensten Seiten seines Temperaments. Aber deshalb möchten wir keines der andern Trios missen, noch eines von ihnen im Tausche gegen op. 101 darangeben. Frau v. Herzogenberg traf, wie gewöhnlich, das Richtige, als sie an Brahms schrieb, das Trio sei besser als alle Photographien und so das eigentliche Bild des Meisters.26
Die vier Sätze des Werkes gleichen einer Gruppe von Bäumen, die eine im Erdreich verborgene gemeinsame Wurzel haben. Man könnte auch an die Metamorphose der Pflanzen denken und das Keimblatt suchen, aus dem das auseinanderstrebende Ganze entstand. Aber die »sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze« (Goethe) ist nicht zu entdecken und läßt sich nicht konstruieren. Auch die Stufen der Entwickelung liegen mehr in der Empfindung, als daß sie in Beispielen nachzuweisen wären. Doch prägt sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit dem Leser der [26] Partitur tief genug ein, um ihm die Überzeugung zu verschaffen, keiner der vier Sätze könnte wo anders stehen als an der ihm eingeräumten Stelle. Die beiden Außensätze, ein zu Gefühlsexplosionen geneigtes Allegro energico im Dreivierteltakte mit zwei Themengruppen, die sich scharf kontrastierend von einander abheben, und ein wuchtiges, leidenschaftlich bewegtes Finale, das mit der Riesenlast seiner Thematik ohne Anstrengung spielt, umschließen ein paar der feinsten und zartesten lyrischen Stücke. Wenn die Wucht seiner Themen wirken soll, muß das Allegro beim Vortrage dem Moderato genähert werden. Seine drei wie Keulenschläge niederfallenden Anfangsakkorde und die sie verbindenden Triolen:
mit denen Violine und Violoncell auf einem Orgelpunkt zur Dur-Dominant fortstürmen, der gehämmerte Rückgang zum Thema, ja selbst die begleitenden Doppelgriffe und Pizzikati der Streicher verlangen Größe und Energie des Ausdrucks. Der in Es wie auf ausgebreiteten Adlerflügeln heranschwebende Gesang:
verbietet die Beschleunigung des Zeitmaßes von selbst. Er gehört zu jenen erhabenen Melodien, die Brahms aus Italien mitgebracht zu haben scheint, und kann sich mit der Violoncellkantilene im Andante dere-moll-Symphonie, einer entfernten Verwandten, messen. Die durch eckige Klammern (1 und 2) angedeuteten Beziehungen des Seitensatzes zum Hauptthema werden erst ersichtlich in der kleinen cis-moll-Episode der Durchführung mit der klagenden Bitte der Violine:
[27] (Vgl. 1, 2 und 3a) und von 3b wieder läßt sich das Thema des zweiten Satzes ableiten:
Wunderbar wie das ganze, in Scherzo-Form gekleidete Presto non assai, ist die Einführung seines leise flehenden traurigen Gesanges (4). Er hat wie ein Lied seine eigene Introduktion, die auch als Ritornell zwischen den strophisch geteilten Perioden verwendet wird:
5. Viol. u. Vlc. con sordini
Das eigentliche Thema (4) setzt erst in der zweiten Hälfte des vierten Taktes ein. Die sordinierten Streichinstrumente und die leise über die Saiten huschenden leeren Oktaven bringen einen phantastischen, fast spukhaften Eindruck hervor, der Gesang aber klingt wie die Stimme eines in der Tiefe gefesselten, nach Befreiung schmachtenden armen Nixchens. Auch das humoristische Trio (f-moll) mit seinen kleinen Stakkato-Arpeggien – eine heikle Aufgabe für die Streicher! – und seinem mit Pausen versetzten Dialog, der das Thema (4) zerpflückt, kann einen gespenstischen Zug nicht verleugnen. Manchmal ist es, als sähen wir im dunkeln Wasser hell aufblitzende Fische einander jagen, die beim Aufstoßen an die Oberfläche Menschengesichter zeigen. Derartige eigentümliche Stimmungsbilder, in denen Brahms vor allen andern Musikern [28] exzelliert, sind so wenig nachzuahmen wie eine Böcklinsche Naturphantasie. Nicht jedermann zugänglich, erfordern sie auch von geübten und erfahrenen Interpreten ihr besonderes Studium.27
[29] Ein Satz wie das von Heiterkeit des Geistes und Anmut der Seele leuchtende Andante grazioso inC-dur ist kaum mißzuverstehen. Die Musen Mozarts und Brahms' sind einander begegnet, freuen sich ihrer Schwesterähnlichkeit und feiern das Fest dieser rencontre imprévue mit Gesang und Tanz. Es ist ein süßes, zärtliches Fragen und Antworten, ein lächelndes Grüßen und Neigen herüber und hinüber; Menuett und Minnelied verschlingen die Hände zum schwebenden Reigen, ohne sich vom Rhythmus des Siebenvierteltaktes beirren zu lassen. Einem Dreivierteltakte folgen immer zwei Zweivierteltakte; nur die sechstaktige Periode des Abgesanges reiht viermal zwei an zweimal drei Viertel. In der Mitte des durchwegs dialogisch (zweichörig) geführten Satzes, der den beiden Streichern das Klavier in regelmäßigem Wechsel gegenüberstellt, gibt es ein kleines »Quasi animato« ina-moll. Triolen beschleunigen gleichsam den Gang der Melodie; die Perioden sind zwar um se einen Takt verkürzt, ihre Notenwerte aber durch Punktierung der Viertel vergrößert.
Im Hauptsatz lautet es:
Im Mittelsatz:
Wir sehen, daß die zweite Melodie nur eine rhythmische und harmonische Variante der ersten ist. Durch Kontraktion wird Viertaktigkeit erreicht, das engere Zusammenrücken der Perioden [30] erlaubt einen schnelleren Wechsel der Chöre, und die gesteigerte Lebendigkeit erhält von den Exklamationen der Violine:
ihre persönliche Färbung. Ein Hauch der Leidenschaft hat den reinen Spiegel der Harmonie getrübt, das heitere Bild ist entschwunden, und wenn es in der modifizierten Repetition noch einmal wiederkommt, ist es nur, um, von der an den Mittelsatz anknüpfenden Koda betrauert, für immer Abschied zu nehmen.
Von der dunkeln Unruhe, in die das Gemüt durch die Erlebnisse der vorigen Sätze verstrickt wurde, singt das Finale; aber der Komponist arbeitet sich in ihm zum lichten Frieden der Selbstbefreiung empor. Tief unter dem breiten Plateau des erklommenen hohen Berggipfels gleichen sich Täler und Höhen zum ebenen Landschaftsbilde aus und der Blick des Mit-Erhobenen geht heiter und gelassen darüber hinweg.
In jedem Betracht gilt uns das c-moll-Trio für ein Meisterstück zyklischer Form. Kraft und Süßigkeit der Jugend haben dem köstlichen Werke den Gehalt, Weisheit und Strenge des Alters die gedrungene Form gegeben.
Das vierte der im ersten Thuner Sommer komponierten Kammermusikstücke, die Violoncellsonate (F-dur op. 99) nimmt insofern eine Ausnahmestellung ein, als sie zu den Werken gehört, die ihr Entstehen einer persönlichen Anregung von außen verdanken. Seit 1879 war der ausgezeichnete Violoncellist Robert Hausmann, der Schüler Theodor Müllers und Piattis, Mitglied des Joachimschen Quartetts, und Brahms kannte ihn schon längere Zeit. Am 7. März 1885 aber führte er sich als Solospieler in Wien ein, und zwar in einer von der Pianistin Marie Baumayer28 mit Marie Soldat veranstalteten musikalischen Soiree. In diesem [31] Brahms-Milieu brachte er die Brahmssche Violoncellsonate op. 38 recht eigentlich erst zu den verdienten Ehren, die ihr alle früher in Wien konzertierenden Virtuosen schuldig blieben, wenn sie sich überhaupt mit dem als undankbar verschrienen tiefgründigen Jugendwerke des Meisters befaßten. Sie hatten entweder den großen Ton nicht, oder es fehlte ihnen an intensiver, eindringender musikalischer Empfindung, ohne welche die Sonate, besonders in ihren Außensätzen, nicht bestehen kann.29 Sie schien auf keinen andern als auf Robert Hausmann gewartet zu haben. Auch in seinem reckenhaften Äußern verriet der Künstler die Nordlandsnatur des kampfbereiten Germanen, und wenn er für seine geharnischte Überzeugung nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Fiedelbogen in der Faust eintrat, so hätte er, ein zweiter Volker, doch beide miteinander vertauschen können. Auch den Bogen führte er lieber als Angriffs- denn als Verteidigungswaffe. In den blauen Augen des geigenden Helden spiegelte sich die Tiefe seines, der zartesten Gefühle fähigen, musikfrommen Gemütes wieder. Wer ihn sah, mußte ihm unbedingt vertrauen, und wer ihn hörte, war vollends für ihn eingenommen. Da Hausmann überdies ein gründlich gebildeter, firmer Musiker war, der die klassische Kammermusikliteratur vollkommen beherrschte, so bedurfte es keiner zeremoniellen Einführung bei Brahms; er empfing den jungen stattlichen Mann, der ihn 1884 in Mürzzuschlag besuchte, mit großer Herzlichkeit und zeichnete ihn auch später bei jeder Gelegenheit aus. Schon damals meldete er ihn bei Hanslick an, mit den Zeilen: »Wenn dich dieser Tage Herr Robert Hausmann aus Berlin besucht, so sieh ihn doch. Du wirst dich in jeder Beziehung des jungen Mannes erfreuen, auch ohne sein vortreffliches Violoncell. Hausmann wohnt mit seiner Mutter bei Fellingers. Du kennst die Leute, soviel ich weiß, nicht. Ich glaube aber, Du bist neuen Bekanntschaften gegenüber so wenig mobil wie ich. Sonst wäre es hübsch, wenn Du [32] bei der Gelegenheit die Bekanntschaft der sehr netten Leute machtest. Frau Fellinger ist eine Tochter von Josephine Lang-Köstlin und eine gar reizende und talentvolle Frau ...«
Bei seinem Besuche hatte Hausmann den Meister gebeten, er möge doch sein von den Komponisten im allgemeinen so wenig beachtetes Instrument mit einer Gabe bedenken und, wenn kein Konzert, so doch wenigstens ein Seitenstück zu der herrlichen e-moll-Sonate schaffen. Brahms aber hatte es ihm halb und halb versprochen.30 Der hinreißende Vortrag der ersten Violoncellsonate, mit dem, wie oben erwähnt, Hausmann 1885 in Wien debütierte, mahnte den Meister an sein gegebenes Wort, und als ihm auf seinen Thuner Spaziergängen von allen Seiten die schönsten Melodien zuflogen, erfüllte er sein Versprechen und schrieb die F-dur-Sonate.
Keineswegs undenkbar ist, daß jenes von Klara Schumann und Joseph Gänsbacher schmerzlich vermißte Adagio der ersten Violoncellsonate, das Brahms beiseite legte, weil er das Werk nicht zu stark belasten wollte,31 in der zweiten wieder auferstand. Seine Tonart (Fis-dur) verträgt sich mit e-moll mindestens ebenso gut wie mit F-dur, wo es, in enharmonischer Verwechselung (Ges-dur) als alterierte zweite Stufe von f-moll gelten kann. Der dritte Satz geht dann ja tatsächlich in f-moll. Auch erweckt das himmlische Adagio das Gefühl, daß es die Seele des Werkes sei, die sich ihren Körper erst bilden mußte. »Wie mächtig komprimiert ist dieses Stück«, schreibt Elisabet v. Herzogenberg von dem ersten Satz, »und wie flutet es dahin, wie aufregend ist die knappe Durchführung, wie überraschend die vergrößerte Wiederkehr des ersten Themas!« Es wirft seinen unruhigen Schatten voraus und kämpft mit dem Motiv:
[33] gegen die feindlichen Stöße des Geschickes an, die kurzen raschen Atemzüge der von Pausen unterbrochenen Melodie kennzeichnen die Anstrengung des Streiters. Aber der Kampf ist das Element seines Lebens; der unbeirrt vorwärts Schreitende weiß, daß er durchdringen wird, es macht ihm Freude, dem Gegner die Stirn zu bieten, und er nimmt jauchzend seinen Sieg voraus, der ihm in dem triumphierenden Seitensatze mit vollen Kränzen winkt:
Die Durchführung erneuert zuerst den Kampf mit gesteigerter Energie, geht dann aber mittels einer in breiten Akkorden ausladenden Vergrößerung des Hauptthemas zur Reprise über:
mit einem zarten Gruß an den Schlußgesang des Allegrettos in der zweiten Symphonie. Im Zweivierteltakte des Adagio affetuoso – ein Lieblingssatz Max Klingers, dem er eines seiner stimmungsvollsten Blätter gewidmet hat – wogt ein Meer von Wohllaut. Sinneberückende Liebesklänge, die das Klavier zum Orchester erheben möchten, wechseln mit Tönen dunkler Klage ab, der Tenorbariton des Violoncells singt von den erschütternden Erlebnissen einer Mannesseele, die zu stolz ist, um einer ihrer unwürdigen Leidenschaft nachzugeben. Im f-moll des Mittelsatzes vervielfachen sich die Stimmen durch Imitation und erreichen ein schmerzliches Pathos, das in Des-dur verblutet. Dann tauchen wieder beide Instrumente in den lockenden Abgrund süßer Klänge unter, aus welchem es mit schimmernden Nixenarmen heraufwinkt. Man kann hier nicht mehr von einer Melodie sprechen, alles ist Melodie geworden, auch die Mittelstimmen und der Baß, und sie durchdringen [34] sich in wehseligem Ineinanderfluten. Ein wildes Allegro passionato folgt in f-moll, als wäre es aus dem Mittelsatze des Adagios hervorgebrochen. Sein im Sechsachteltakt mezza voce dahinrollender Gesang variiert das Finalthema der F-dur-Symphonie in neuer effektvoller Weise; das Trio enthält eine langatmige zarte Kantilene für das Violoncell. Dieses Scherzo, das den Zuhörer förmlich niederwirft mit seiner impulsiven Kraft, kann von dem Finale nicht mehr überboten werden. Der quasi-lyrische Hauptgedanke:
bestimmte seinen vorwiegend melodischen Charakter. »Wir hatten gebauet« klingt ziemlich deutlich heraus. Das Thema bildet mit seiner kurzen Durchführung und Repetition ein Sätzchen im Satze. Ein zweites Thema in b-moll schließt sich an:
es scheint aus dem ersten hervorgegangen und wird nicht weiter verwendet. Mit einer abermaligen Durchführung schließt das Finale ab, das an glühendem Leben und gesunder Kraft hinter den andern Sätzen nicht zurückbleibt.
Hausmann, der, um abermals mit Marie Baumayer eine musikalische Soiree einzuleiten, im Oktober 1886 in Wien war, kam, laut eines von Herzogenberg an Brahms gerichteten Schreibens, in einer Stimmung »wie nach der Konfirmation« zu den Berliner Freunden zurück. »Sie müssen ihm schöne Dinge vorgesetzt haben! Am meisten schwärmt er von der ganzen Cello-Sonate.« Er konnte seiner Schwärmerei am 14. November freien Lauf lassen. Brahms spielte das neue Werk, das erst im nächsten Jahre gedruckt er schien, [35] im kleinen Musikvereinssaale mit ihm aus dem Manuskript, und man merkte ihm an, daß er mit Liebe bei der Sache war. »Wir wissen gar nicht, wie gut wir es haben«, berichtete ich damals in der »Presse«, »ein solches Meisterwerk, noch ehe die übrige musikalische Welt sich daran erfreuen darf, direkt von berufenster Seite zu empfangen. Am Manuskript hängt noch der Hauch des schöpferischen Geistes, und die Persönlichkeit des Komponisten tritt uns von Angesicht zu Angesicht entgegen. Kein Fremder drängt sich zwischen das Werk und seinen Zuhörer, und ein bis in die kleinsten Züge hinein getreues Bild des Gegebenen trägt davon, wer es unbefangen in sich aufnimmt.«
Daß nicht unter allen Umständen und immer der Komponist, und wäre er auch ein so hervorragender reproduzierender Künstler wie Johannes Brahms, der berufenste Interpret seiner Werke ist, sollte zehn Tage vorher der junge Eugen d'Albert dem Publikum der »Philharmonischen Konzerte« mit dem wahrhaft grandiosen Vortrage des Brahmsschen B-dur-Konzerts dartun. Zweimal hatten die Wiener das Konzert von Brahms selbst gehört; aber erst jetzt beim dritten Male empfingen sie es, mit vollem Verständnis und zu ihrem höchsten Entzücken, aus den Händen des genialen Pianisten. Reiner und bestimmter als zuvor zeichneten sich die kühn entworfenen Linien dieses monumentalen Prachtbaus in das geistige Auge des Zuhörers ein, freier und leichter entwickelten sich seine harmonischen Verhältnisse, beredter, eindringlicher und klarer sprach es mit wundervollen Stimmen zu Herzen. Brahms war nicht der letzte, der mit großer Befriedigung von dieser Tatsache Kenntnis nahm. Auch ihm hatte sich d'Albert ins Herz gespielt, und er rühmte ihn als den berufenen Nachfolger großer Pianisten, zu denen er sich selbst rechnen durfte.32
Es war hohe Zeit, daß sich Brahms bei den verwöhnten und launischen Wienern wieder einmal nachdrücklich in Erinnerung brachte, und es schadete seinem Ansehen nicht, daß er sich den doch so umgänglichen Leuten dabei von seiner liebenswürdigsten Seite zeigte. Seine Novitäten führten ihn mitten ins Publikum. Für die A-dur-Sonate, die Hanslick »ein fast ununterbrochenes Singen der Violine« [36] nennt,33 war Joseph Hellmesberger der rechte Mann. Der gesangreiche Ton seiner Geige verlor mit zunehmendem Alter des Meisters nichts von seiner Süßigkeit, ja, eine gewisse seraphische Verklärung hob den Gesang der Saiten zu noch höheren Sphären empor. Er spielte die Sonate mit Brahms an seinem ersten Quartettabend (2. Dezember 1886) aus dem Manuskript und trug nicht wenig zu der Beliebtheit bei, deren sich das Werk gerade in Wien bis auf den heutigen Tag erfreut.
Zwischen den Sonatenabenden lagen die Liedervorträge von Hermine Spies. Ihre Konzerte – denn es wurden gleich zwei in Aussicht genommen – waren von vornherein materiell und moralisch gesichert, obwohl die Sängerin in Wien zum erstenmal auftrat. Sie konnte sich eines Impresarios rühmen, wie ihn noch keine ihrer Schwestern in Apoll gehabt hatte. Brahms sorgte dafür, daß sie schon auf dem Bahnhofe von einigen Ehepaaren seiner Freundschaft mit Herzlichkeit empfangen wurde, und als sie die Türen ihres behaglich erwärmten Salons im Hotel öffnete, fand sie außer dem Bösendorfer-Klavier duftige Fliedersträuße vor. Der geheime Veranstalter dieser Herrlichkeiten ließ nicht auf sich warten. Mit den Fäusten, wie in seinen jungen Jahren, trommelte er an die Tür und fragte, auf die Blumen deutend: »Sie haben wohl schon gesungen?« Brahms erinnerte die Schwestern an eine ihnen schon früher zugegangene Einladung zu Billroth, bei welchem Hermine die Notabilitäten der Wiener Kunstwelt, namentlich aber den tonangebenden gefürchteten Kritiker der »Neuen freien Presse« finden und bezaubern sollte. Wie fürsorglich lange der Freund ihrem Erscheinen vorgearbeitet und die Wege geebnet hatte, beweist die umgehende Antwort auf mehrere, ihre Wiener Liederabende betreffende Anfragen der Sängerin. Am 4. November schreibt Brahms an Hermine Spies: »... Es wäre hübsch, wenn Sie nicht gerade am Konzerttage ankämen. Ihr Konzert ist am 26., am 24. hat Robert Hausmann ein Konzert, in dem ich eine neue Sonate mit ihm spiele. Wäre es Ihnen nun recht und angenehm, wenn wir, am 23. etwa, bei Hofrat Billroth einen Abend veranstalteten, wo Sie unsere ersten Künstler und Kritiker (Hanslick [37] inbegriffen) kennen lernen könnten und ihnen etwas vorsingen möchten? ...« Und Billroth benachrichtigt den Freund am 10. November, das ganze Haus Alserstraße 20 freue sich bereits auf den 23. d.M. »Ich will mich bemühen, aus meiner Bekanntschaft ein möglichst empfängliches Publikum zusammenzustellen. An Hanslick schreibe ich sofort, um mich seiner zu versichern. Es wäre prächtig, wenn Du auch Hausmann für den Abend gewinnen möchtest; ich bitte, ihn und Frl. Spies nebst Begleiterin in meinem und meiner Frau Namen freundlichst zum 23. abends 8 Uhr einzuladen. Ich bitte Dich auch, das Programm für den Abend zu machen. Es stehen zwei Flügel zur Disposition; vielleicht spielst Du etwas mit Ignaz (Brüll), etwa die Haydn-Variationen, oder was Ihr sonst mögt, jedenfalls die Cellosonate mit Hausmann. – Ich hoffe, es wird wieder einmal ein Abend wie in guten früheren Zeiten. Ich fühle mich frisch und genußfähig, wie lange nicht, und finde zuweilen noch ganz unberührte Punkte in meinem Gehirn, die mir als Quellen neuer Kraft vorkommen. Vielleicht eine Täuschung, doch muß man ja froh sein, wenn man noch Illusionen hat, um sich zu nähren und gelegentlich etwas zu berauschen ...«
Die Hoffnungen, die der im Glauben an die Widerstandskraft seiner heroischen Natur bereits bedenklich erschütterte Gelehrte und Kunstenthusiast in jenen Abend setzte, gingen glänzend in Erfüllung. Wer so glücklich war, dieses hohe Fest des Lebens mitzufeiern, trug eine goldene Spur davon im Gedächtnis fort. Billroth und Brahms verjüngten sich zusehends bei den Freuden des mit künstlerischen Genüssen gewürzten Liebesmahles. Der von jugendlicher Heiterkeit strahlende Meister tat alles, was man von ihm verlangte, und erwies sich beinahe noch unermüdlicher als die Verehrer seiner Kunst, denen er mit vollen Händen von ihren Gaben ausstreute. An der gedrängten, mit Blumen geschmückten Tafel saßen Komponist und Sängerin nebeneinander, wie ein glückliches Paar, dem jovialen Hausherrn gegenüber, der sich nun durch den Augenschein von dem grünenden »Johannestriebe« des Freundes überzeugen konnte. Hermine Spies machte kein Hehl daraus, daß sie ihren Tischnachbar vergötterte, und auch er gab seine Zuneigung in unzweideutiger Weise zu erkennen. Aber die Sonne seiner Liebe hatte den Zenith bald überschritten, und sie [38] verblendete ihn weder über die Künstlerin noch über die Aussichtslosigkeit seines Verhältnisses zu ihr: Der Eingang des oben zitierten Briefes vom 4. November lautet: »Also drittens: wenn ich mich Ihnen als Klavierspieler anbieten könnte, hätte ich es ja zunächst für Wien bereits getan! Aber ich habe längst die Hoffnung und die Versuche aufgegeben, ein beliebter Virtuose zu werden. Nach Pest möchte ich gern mit, als angemessener Teil eines hoffentlich riesigen Publikums. Wer aber spielt und begleitet in Wien? ...« Die unausgesprochene negative Antwort auf diese Frage ist: »Ich nicht.« Weiter schreibt er ebendort doppelsinnig: »Ein dunkler Schatten ist sehr wirkungsvoll bisweilen, und so mag auch eins der neuen Lieder geeignet sein, ein folgendes schönes Schubertsches zu beleuchten; es wird sich solchen Dienstes freuen. (Daß Sie Ungedrucktes nicht aus der Hand geben, brauche ich nicht zu bitten?) – Mir träumte neulich, Sie hätten einen halben Takt Pause überschlagen und 'ne Viertel- statt 'ner Achtelnote gesungen – unglaubliche Phantasie!..«
»Eins der neuen Lieder«, das ein folgendes schönes Schubertsches erst ins rechte Licht setzen könnte, war das schon oben erwähnte »Immer leiser wird mein Schlummer«. Warum hat die Künstlerin das Programm ihres ersten Wiener Konzerts nicht mit ihm und den andern beiden Manuskript-Liedern geziert, die sie von Brahms besaß? Weil sie, nicht mit Unrecht, ein gegen ihre musikalischen Fähigkeiten gerichtetes Mißtrauen in der Art finden mochte, wie der Komponist ihren Anfragen auswich, und weil sie diesem Mißtrauen nicht Vorschub leisten wollte mit Vorträgen von Liedern, in die sie noch zu wenig eingedrungen war, um sie dem Meister vor dem Publikum zu Danke singen zu können. Sie ließ ihren zwei Liederabenden, an denen Eduard Schütt ihr temperamentvoller Begleiter war, einen dritten, vierten und fünften folgen, und Brahms fing an, die vielbemerkte und besprochene Förderung, die er seiner Sängerin hatte angedeihen lassen, zu bereuen. Er empfand sein Vorgehen wie einen Verrat an der älteren Freundin und Meisterin Amalie Joachim, die in Wien weniger glücklich gewesen war Sein Liebesbarometer zeigte schnell auf »Veränderlich«, sobald der kühle Kopf bei ihm die Herrschaft über das heiße Herz wieder gewonnen, und es gewährte ihm eine [39] Art von grimmiger Genugtuung, Fehler bei der Angebeteten herauszufinden und zu vergrößern, die er zuvor übersehen hatte, weil sie entweder überhaupt nicht oder doch nur in geringen Spuren vorhanden waren.
Im Dezember sang Hermine Spies die Manuskriptlieder bei Herzogenbergs in Berlin, und Frau Elisabet kritisierte Lieder und Sängerin in einem an Brahms gerichteten Briefe mit etwas pikierter Animosität.34
Er hatte die Freunde noch immer nicht in ihrem neuen Aufenthaltsort besucht, wo sie mit Philipp Spitta und dessen Familie in guter Nachbarschaft zusammenhielten und in Hochschulkreisen, vor allem mit Joachim und Hausmann, verkehrten. Da Brahms einer Begegnung mit Joachim auswich und auch sonst keine dringende Veranlassung für ihn vorlag, nach Berlin zu kommen,35 so trat allmählich eine Lockerung in seinen persönlichen Beziehungen zu der genialen Frau ein. Infolge ihres Herzleidens hatte sie viel von ihrem bestrickenden Liebreiz verloren, den die empfängliche Natur des Künstlers so gern auf sich wirken ließ, und sie fühlte, daß sie der Rivalität einer jungen Herzenskönigin nicht gewachsen war. Die Tage, die ihr den Leipziger Gast alljährlich ins Haus brachten, sollten nicht wiederkehren. Schon bei ihrem letzten Zusammentreffen, als Herzogenbergs im Februar 1886 zur e-moll-Symphonie nach Leipzig hinübergereist waren, wollte es Frau Elisabet nicht wie sonst gelingen, mit ihrer Begeisterung dem Helden des Tages beizukommen, und sie hätte ihm doch so sterbensgern für sein Werk, dessen Studium sie so viele Mühe gekostet hatte, mit Wort und Händedruck gedankt. Eine lügenhafte Klatscherei vergrößerte noch die Entfremdung. Brahms sollte in Berlin gewesen sein, ohne sich bei den Freunden sehen zu lassen! Das war unverzeihlich. Ebenso schmerzlich aber empfand es Frau Elisabet, daß er drei [40] Vierteljahre hingehen ließ, ohne nach dem Grunde zu fragen, weshalb sie ihm nicht mehr schrieb. Er vermißte ihre Briefe nicht oder stellte sich doch so, als ob er sie nicht vermißte! Sie mußte sich darein schicken, und tat es mit Würde. Zum Glück waren die idealen Interessen, die sie und ihren Gatten mit dem Meister verbanden, stark genug, um ihre Freundschaft unversehrt aus allen Anfechtungen hervorgehen zu lassen. Als Brahms im Januar 1887 den preußischen, von Friedrich dem Großen gestifteten Orden pour le mérite erhielt, fragte Frau v. Herzogenberg: »Eigentlich hätte ich Ihnen wohl gratulieren sollen, nicht wahr? Aber ich kann mir nicht helfen, bei solcher Gelegenheit hab' ich immer das Gefühl, als wenn man eher dem Orden gratulieren sollte, daß er mal an den Rechten kommt und sich seiner Mission freuen kann .... Seien Sie gut und freundlich und denken Sie manchmal an Ihre Ihnen so sehr ergebenen Herzogenbergs.« Auch diese hohe Auszeichnung, für welche immer vom Gesamtsenat der königlichen Akademie der Künste in Berlin dem Kaiser drei Kandidaten zur Wahl vorgeschlagen werden, war für Brahms kein Grund zu einer Reise, obwohl er die hohe Bedeutung gerade dieser seltenen Auszeichnung zu würdigen wußte. Wüllner, der ihm erst am 2. Februar gratulierte, nachdem er am 1. in Gürzenich eine großartige Aufführung der c-moll-Symphonie gehabt hatte, zu der Beckerath, v.d. Leyen, Barth und Schwormstädt mit Frauen von Krefeld nach Köln ge kommen waren, entschuldigt die Verzögerung mit den Worten: »Ich weiß, daß Du im ganzen auf diese Dinge nicht viel gibst. Aber das ist doch ein Orden, der Dich freuen muß. Und alle Deine Freunde haben sich außerordentlich darüber gefreut.«
Außer zu einem Ausflug nach Budapest, wo er am 20. Dezember in der Quartettgesellschaft Hubay-Popper mit beiden Künstlern das c-moll-Trio (überhaupt zum erstenmal öffentlich!), mit Hubay die neue Violin- und mit Popper die neue Violoncellsonate spielte, war Brahms im Winter 1886/87 nicht aus Wien herausgekommen.36 Im Herbst noch dachte [41] er an eine Konzertreise in Deutschland; aber angenehmere Pflichten hielten ihn in Wien zurück, und er rät Simrock, den Druck der Kammermusikwerke ja nicht zu übereilen, weil er es »nicht hübsch« fände, »wenn die Quartettvereine die Sachen diesen Winter noch rasch als Novitäten brächten. Viel besser, wenn sie nächsten Winter etwas bekannt geworden und in aller Ruhe gebracht werden.« Die Erfahrungen mit den Künstlern und dem Publikum hatten ihn gewitzigt, und was ihn sonst verhinderte, seinen Erfolgen nachzugehen, würde uns, wenn wir es nicht schon wüßten, die Tatsache lehren, daß er seine italienische Frühjahrsreise aufschob, weil er im April noch einmal nach Wien zurück müsse, wie er Ende März an Simrock schreibt. Ursprünglich wollte er mit Hanslick und Billroth nach Venedig und Mailand – auf nicht mehr als zehn bis vierzehn Tage. Dann wäre er nach dem zweiten Konzert seiner Freundin Hermine, die am 14. März abermals in Wien eintraf und (auf Brahms' Veranlassung) mit ihrer Schwester bei Frau Anna Franz logierte, d.h. am 23. März, abgereist. Hermine gab am 29. März noch einen dritten Liederabend, und da sie von Hans Richter für die Matthäus-Passion engagiert worden war, die am 5. April in einem außerordentlichen Gesellschaftskonzert aufgeführt wurde, so kam es Brahms sehr gelegen, als Simrock ihm am 28. März, dem für die verschobene Abreise festgesetzten Tage, eröffnete, er wolle Ende April mit Theodor Kirchner, den er auf seine Kosten mitnehme, nach Italien. Die Koffer wurden wieder ausgepackt und die für Brahms in jeder Hinsicht bequemere Reise in Angriff genommen.
Dem Neuling Simrock gegenüber fühlte sich Brahms als gewiegter Italienkenner und -reisender, und es flogen mehr Briefe zwischen Berlin und Wien hin und her, die von praktischen Vorschlägen und Bedenken handeln, als Brahms bei wichtigeren Anlässen zu wechseln pflegte. Mit Venedig, meinte er, müsse durchaus der Anfang gemacht werden. »Es ist die schönste, fabelhafteste Ouvertüre, und Sie sehen die nächste Stadt gleich mit ganz anderen Augen. Also, auch wenn Sie in Mailand oder Verona ankommen – gleich durch und nach Venedig! Dort träfe ich Sie, wenn nicht früher. In Venedig bleiben wir etwa [42] drei Tage. In Vicenza, Verona (Mantua), Bologna je einen reichlichen Tag, in Florenz möglichst acht Tage. Zum Finale einen Tag in Pisa, und dann Genua, Mailand überschlagen und mit mir durch den Gotthard nach Hause. Das ist alles nur, daß Sie an dem Bonbon lecken dürfen, von Schmecken, Lutschen oder Essen keine Rede.« Brahms hätte gern noch ein paar andere Freunde dazu gehabt und suchte Faber und v.d. Leyen zum Mitkommen zu bewegen. Am meisten freute ihn der generöse Zug seines Verlegers, der dem armen Kirchner auf dessen alte Tage die Erholungsreise verschaffte. Der Jugendfreund war ohne Verschulden in mißliche Verhältnisse geraten, und Brahms tat alles mögliche, um ihn wieder auf einen grünen Zweig zu bringen. Bei einer privaten Sammlung für Kirchner, die im Oktober 1884 von ihm und Herzogenbergs eingeleitet wurde, hatte sich Brahms mit tausend Mark an die Spitze der Spender gestellt und auch in Wien, wo Kirchners Kompositionen wenig bekannt waren, einen ansehnlichen Beitrag aufgebracht. Im November desselben Jahres bildete sich dann ein an die Öffentlichkeit appellierendes Komitee, dem, außer Brahms, Bülow, Gade, Joachim, Reinecke, Wüllner u.a. angehörten, das Kirchner am 10. Dezember zu seinem sechzigsten Geburtstag eine beträchtliche »Ehrengabe« übermittelte. Auch ferner unterstützte Brahms den halb Erblindeten und verschaffte ihm lohnende Aufträge von Simrock.
Kurz vor der italienischen Reise streute er sein Geld mit vollen Händen aus. Jeder zweite Brief enthält einen Zahlungsauftrag von tausend oder zweitausend Mark. Er hatte von seinem am 5. November 1886 zu Hamburg gestorbenen Bruder Fritz, den er immer unterstützen mußte, zu seiner großen Überraschung zehntausend Mark geerbt, die er gleich an Simrock schickte, um sie so schnell wie möglich wieder los zu werden. Aber von einem Bekannten, der ihn um eine größere Summe anging, ließ er sich in kein noch so lukratives Geschäft verwickeln, obwohl er ihm verpflichtet war. »Sie haben einen dreiundzwanzig Seiten langen Brief von G. bekommen«, schreibt er an Simrock, »schicken Sie ihn mir nicht und geben sich nicht zuviel Mühe, mir darüber zu referieren – Sie müßten denn anderer Ansicht sein als ich und mir zureden wollen! Sie halten mich vielleicht für sehr teilnahmslos [43] oder schmutzig? Aber ich kenne G. lange und habe seine merkwürdigen Wandlungen und Abenteuer mit erlebt. Geld gebe ich genug und lustig genug aus; schon in diesem, noch so jungen Jahr habe ich – wieviel verschenkt, außer den beiliegenden 10000 Mk., die ich von meinem Bruder erbte.37 Ich führe nicht Buch, aber beiläufig merken Sie es ja auch – für mich brauche ich nichts. Kurz, ins tiefe Wasser werfe ich mein Geld nicht gern. Sehen Sie aber klar und freundlicher in der Sache als ich, so reden Sie nur! Ich verstehe den ganzen Schwindel gar nicht.« ...
Die Reise – Brahms' fünfte italienische – ging am 25. April über Innsbruck, wo das Rendezvous mit Simrock und Kirchner stattfand, nach Verona, von da über Vicenza nach Venedig und nahm dann den von Brahms vorgezeichneten Verlauf. Zwar schwärmte Brahms Klara Schumann vor, daß er nicht einen Tag erlebt hätte, der nicht vom Schönsten erfüllt gewesen wäre, und rühmt »das herrlichste, sanfteste Frühlingswetter«. Aber da er der Freundin, an die er so viel und mit so viel Sehnsucht habe denken müssen, Lust machen wollte, das göttliche Land auch endlich zu genießen, nahm er die Feder ein wenig voll. Auch kann er nicht umhin, zu gestehen, Gefährten seien ihm in Italien »angenehm und fast nötig – wenn sie auch nicht immer gerade den Genuß erhöhen oder nur ungestört lassen.«38 Die Reise scheint in der Idee noch schöner gewesen zu sein als in der Ausführung. Umsonst hatte er sich auf das »offene Maul« gefreut, das jene angesichts der Wunder machen würden, die sie in den italienischen Städten erwarteten. Kirchner tat schon aus Opposition blasiert und half Simrock, die gehobene Stimmung durch Kalauer verderben, in denen er Meister war. Bei dem naßkalten Wetter aber, das sie auf der Rückreise verfolgte, halfen weder die wärmste Begeisterung noch die trockensten Witze etwas, und der arme Simrock kam krank nach Hause. »Ich hatte«, schreibt Brahms an Bülow, »mich sehr über Simrocks freundliche Idee gefreut, Kirchner noch in das herrliche Land blicken zu lassen. Ich [44] fürchte nur, die Idee kam jedenfalls zwanzig Jahre zu spät. Wenigstens wollte mir scheinen, als ob ihm immer erst wohl würde, wenn er beim Mittag- oder Abendessen wieder glücklich vom Gewandhaus und anderen Herrlichkeiten plaudern konnte.«
Hanslick und Billroth, die sich in Italien ohne Brahms behelfen mußten, hatten ihn noch in Wien getroffen. Beim Abschied überkam Billroth, wie er am 12. Juni nach Thun schreibt, die Empfindung, daß er Brahms nicht wiedersehen würde, im Vorgefühl der schweren Krankheit, die ihn bald darauf befiel und an den Rand des Grabes brachte. In dem gefährlichen Frühjahr zog er sich eine Lungenentzündung zu, von der er nicht mehr völlig gesunden sollte, wenn auch sein in Mitleidenschaft gezogenes Herz noch sieben Jahre aushielt. Brahms, der am 15. Mai in Thun anlangte, hatte keine Ahnung von der Gefahr, in der sein Freund schwebte, und erfuhr erst durch Widmann, als dieser einige Tage nach ihm in Bern eintraf – sie hatten sich in Bologna verfehlt – von dem ganz Wien in Atem haltenden drohenden Verlust. Er wandte sich gleich an die rechte Quelle, um Gewisses zu erkundigen, an Frau Nelly Chrobak, seine Jugendfreundin, geb. Lumpe, die an den berühmten Gynäkologen und engeren Kollegen Billroths, Professor Rudolf Chrobak, verheiratet war. »Liebe und sehr geehrte Frau Doktor«, schreibt er, »mir genügt nicht, was ich hier über Billroth höre. Wer aber von meinen Wiener Freunden könnte mir bessere und sicherere Nachricht geben als Sie? Haben Sie also doch die Güte und Liebe, mir einiges von dem mitzuteilen, was Ihr Mann berichtet. Ich bin nicht grade ängstlicher Natur, aber bei Billroth besorgter als gewöhnlich. Haben Sie Gelegenheit, unserem vortrefflichen Freund oder den Seinigen das Herzlichste von mir zu sagen, so bitte ich es ja zu tun. Eine vorläufige Nachricht aber lassen Sie doch recht umgehend zukommen Ihrem herzlich ergebenen Joh. Brahms.« Der eiligen schleuderigen Schrift des Briefes meint man die Aufregung anzusehn, in der der Schreiber sich befand. Bei dem Worte »umgehend« zitterte ihm die Hand. Statt der genauen Adresse steht nur »Thun in der Schweiz« unterstrichen links neben dem Namen. Erst am 14. Juni wurde er seine Sorge los. An diesem Tage erhielt er den herrlichen, [45] »Wien, 12. Juni« datierten Brief Billroths, in welchem der Freund ihm von seiner Genesung benachrichtigt.39
Unter den während seiner Abwesenheit bei Herrn Spring für seinen Sommergast eingelaufenen Postsachen befand sich auch ein schwarzgerändertes Blatt, das ihm von Seite der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien den am 28. April erfolgten Tod ihres Archivars C.F. Pohl meldete, dazu noch das Schreiben eines mit dem Verstorbenen näher verbunden gewesenen Freundes. Wüßten wir nicht, wie innig Brahms dem Haydn-Biographen zugetan war,40 mit welcher Sorge er die Entwickelung seiner letzten, langwierigen Krankheit verfolgte und durch Billroth beobachten ließ, wir erführen es durch den Brief, mit dem er den Herzenserguß jenes Freundes beantwortete:
»Lieber und sehr geehrter Herr«, schreibt er im Juli, »nehmen Sie, ich bitte, auch heute noch meinen Dank und Gruß freundlich auf. In unserem Fall bedeutet ja die kurze verflossene Zeit nicht viel. Wir betrauern heute noch gleich herzlich unsern Freund, und daß es Sie drängte, mir Ihre Empfindungen darüber auszusprechen, empfinde ich heute so dankbar wie damals.
Im Laufe des Winters habe ich den kranken Freund oft gesehen, wohl niemals, ohne daß er nicht auch Ihrer in Liebe gedachte. An Teilnahme und liebevollster Pflege hat es ihm nicht gefehlt, die vortrefflichen Leute aber, bei denen er wohnte, waren geradezu verehrungswürdig.
Wenige Tage vor seinem Tode fuhr ich nach Italien und fand Ihren Brief vor, als ich seinerzeit hierher nach Thun kam. Es war mir eine ungemein angenehme Empfindung, Ihre Worte zu lesen und an mich gerichtet zu wissen. Wollen Sie meinen Dank dafür auch heute noch gelten lassen. Er kommt von Herzen, wie das ja beim Andenken an unseren Freund, dem gütigsten und liebevollsten Menschen auf der Welt, nicht anders sein kann.
Mit herzlichem Gruß Ihr sehr ergebener J. Brahms.«
Die bald nach der Ankunft in Thun wieder aufgenommenen oder neu begonnenen Kompositionsarbeiten – das Doppelkonzert [46] war schon in Italien ausgetragen worden – erlitten eine unliebsame Störung durch das Tonkünstlerfest des »Allgemeinen deutschen Musikvereins«, das ein Jahr nach dem am 31. Juli 1886 erfolgten Ableben Liszts, vom 26.–29. Juni in Köln gefeiert wurde. Wie Brahms über den von Liszt protegierten Verein der »Neudeutschen« dachte, wissen wir von früher her. Trotzdem hatte er sich zum Ausschußmitgliede pressen lassen, weil er nicht für den Unversöhnlichen, nicht für den verbissenen Reaktionär gehalten werden wollte, der er tatsächlich niemals war. Wüllner führte das »Triumphlied« und das Violinkonzert (mit Brodsky) im Programm. Ihm lag viel daran, daß der Meister in Person erschien; denn auf sein Betreiben war die Versammlung von Leipzig nach Köln transferiert worden, und er wünschte sie so glänzend wie möglich abzuhalten. Galt es doch, eine glatte Scheidung von den Extremen, die sich als »Lisztverein« abgezweigt hatten, zu bewerkstelligen, während der alte Stamm fortan die konservativere Richtung repräsentieren sollte. Gerade den Ultra-Heißspornen gegenüber würde, wie Wüllner versicherte, die Anwesenheit Brahms' von größter Wichtigkeit sein. Brahms willigte endlich ein, nachdem Wüllner ihm seine Hauptbedenken ausgeredet hatte. Er fürchtete die üble Nachrede, daß er, um ein Fest des von Liszt ins Leben gerufenen Vereins zu besuchen, nur auf dessen Tod gewartet habe, und es widerstrebte ihm, an den eigentlichen, sehr gemischten Festkonzerten mit seiner Person hervorzutreten. Sie einigten sich auf ein Kompromiß. Wüllner sollte die beiden großen Werke von Brahms dirigieren, und Brahms erbot sich, an einem von Wüllner eingeschobenen Chorabende, der nicht als Vereinsangelegenheit zu betrachten war, sein c-moll-Trio zu spielen. Im stillen hoffte er, davon noch dispensiert zu werden; aber Wüllner ließ nicht locker. Am 20. Juni bereitete Brahms Herrn und Frau v. Beckerath, die ebenfalls in Italien gewesen waren, auf seine Ankunft mit folgenden Zeilen vor: »Liebe Freunde, ich reife nächstens sehr ungern zum Kölner Fest und freue mich nur (wenn sie mir vergönnt sind) auf Dinge wie Ihren Keller und Ihre Geige, das Einschenken der Frau und das Einstimmen des Mannes. Aber Sie sind natürlich, wie gewöhnlich, mit der Grammatik in Italien und wissen gar nichts und wollen auch gar nichts [47] hören von unserer neuesten Musikgeschichte. Für den für mich günstigen Fall sage ich aber immerhin, daß ich am Donnerstag oder Freitag in Frankfurt, Myliusstraße 32, zu sein, von Sonntag ab in Köln den Kelch des Leidens zu trinken gedenke! Dieser wird im Gürzenich serviert, bessern kriege ich Bahnhofstraße 4 bei R. Schnitzler. Sagen Sie mir doch nach einer der beiden Adressen, wo in Italien Sie sind, und ob der Kellerschlüssel mitgenommen ist? Es ist bittre Not, die mich treibt, denn ich müßte sonst in schönen Städten wie Mannheim, Krefeld oder Utrecht ausrasten!«
Und zu Bülow klagte er um dieselbe Zeit: »Ja, verehrter Freund, mit einigem Seufzen schreibe ich es hin, ich muß wohl Wüllner Wort halten und nach Köln gehen. Beim eigentlichen Feste bin ich nicht beteiligt, sondern spiele nur am Vorabend (Choraufführung der Schule) mein Trio. Auf die Musikwirtschaft freue ich mich nicht, aber auf die Rheinreise und die vielen schönen und lieben Stationen sollte und möchte ich mich freuen – wenn's nicht gar so viele wären – und die Keller gar so kühl und schön!
Aus Köln kommt übrigens gerade die empörendste Novität, die es geben kann: der Zöllnersche ›Faust‹. Ich habe gar keine Worte dafür, aber ich werde keine schlimmeren mehr gebrauchen gegen Gounod und Boito. Ein Knabe legt sich wohl Tragödien von Sophokles und Shakespeare aufs Klavierpult und paukt und heult seinen Enthusiasmus in die Höhe. Aber wie ein Verbrechen, wie eine Sünde habe ich es behandelt, als mir einmal ein blutjunger Mensch die Kerkerszene, in Partitur gesetzt, brachte; es wollte mir ein Zeugnis scheinen gegen den ganzen Menschen und Künstler. Wenn das nun ein Mann von der Unbildung und Verrücktheit Bruckners verübt hätte! Aber nein, ein ganz ordentlicher, gebildeter Mann denkt und arbeitet durch Jahre darüber, setzt sich jeden Tag mit dem bloßen A... auf ein Heiligtum und besch– bearbeitet es. Lächerlich ist es nicht, empörend, ganz unverzeihlich ...«41
[48] Am 22. Juni fuhr Brahms von Thun ab, speiste bei Widmann zu Mittag und erschien am 24. in Frankfurt bei Klara Schumann. Er hatte seinen Besuch angesagt, um ihr und »einigen Musikern« seine neuen Kammermusikwerke vorzuspielen. Klara schreibt in ihrem von Litzmann reproduzierten Tagebuche: »es war mir ein Zeichen, daß er fühlte, er habe etwas bei mir gut zu machen« (!?) ... »Er machte uns aber viel Ungelegenheiten, weil er erst keine Damen haben wollte, da wurden denn alle Damen ausgeladen, dann auf Frau Kwasts (geb. Hiller) ernste Anfrage, erlaubte er sie wieder, und nun wurden die Damen alle wieder eingeladen (die Frauen der Künstler), es blieben aber doch einige begreiflicherweise fort.« ... »Es war aber dann doch der 25. ein animierter Nachmittag. Brahms spielte die A-dur-Sonate mit Heermann schön, die Cellosonate weniger (mit Hugo Becker) ... und das Trio zum Schluß war entsetzlich. Ich saß dabei, mir tat aber das Herz weh. Wie ist es nur möglich, daß ein Komponist sein eigenes Werk so malträtiert!... Johannes blieb noch bis Sonntag nachmittag, reiste dann nach Köln ab. Er bat mich auch um seine Briefe, ich versprach sie ihm, wenn ich sie erst noch einmal durchgelesen – ich konnte mich nicht entschließen, sie ohne dies zurückzugeben. Traurige Empfindungen, wie immer, wenn er geht ...«42
Wäre Frau Schumann auf Brahms' Vorschlag, so einfach und so freundlich, ohne Hintergedanken eingegangen, wie er gemeint war, so hätte sie nichts zu klagen gehabt. Anstatt die Mitspieler Heermann, Becker und noch ein paar nähere Kollegen unter der Hand zu sich zu bitten, veranstaltete sie einen musikalischen [49] Tee mit Damen. Wußte sie nicht von früher her, wie verhaßt dergleichen ihrem Johannes war? Als dann, wohl oder übel, »auf Frau Kwasts ernste (!) Anfrage«, die Frauen der Künstler von Brahms zugelassen wurden, hatte er die Lust an der Sache längst verloren. Und was sollte Brahms von ihrem Verhalten in der leidigen, von ihr heraufbeschworenen Briefaffäre denken? Da zuerst sie ihm das Ansinnen stellte, er möge ihr ihre Briefe zurückgeben, so mußte er unter den obwaltenden Umständen glauben, daß die Freundin ihn für unwürdig ansah, gewisse vertraute Dokumente ihrer Hand zu besitzen. In ihrem, vor der Herausgabe dreimal gesiebten und sorgfältig redigierten Tagebuch, steht unter dem Datum März–April 1887: »Brahms schickte mir nach Übereinkunft einen Teil meiner Briefe zurück, was mich tief erregte.« Im Mai schrieb er ihr dann, und zwar in demselben Brief, in welchem er von Italien schwärmt: »Es ist viel richtiger, daß meine Briefe zurückgehen, als die Deinen! Diese kannst Du immer haben – und auch Deine Kinder – an welchen Fall ich nicht glaube! Meine Briefe aber haben keine Rückadresse, wenn ich davongehe! Deshalb bitte ich also herzlich, sende sie mir, und wenn ich bitte, sende sie bald, so ist das nicht, weil ich Eile habe, sie zum Buchbinder zu bringen!« Ohne Umschreibung heißt das: ich möchte nicht, daß meine Briefe nach meinem Tode in fremde Hände kämen, auch nicht in die Deiner Kinder. Ich will sie vernichten. – Mitte August, also nach einem Vierteljahr vergeblichen Wartens, kommt er wieder auf dieselbe Angelegenheit zurück: »Mit unsern Briefen machen wir es merkwürdig! Ich dachte immer leise eines Austausches, hätte aber das Wort nicht herausgebracht.« Zarter kann man wohl an das von Klara selbst bestätigte Übereinkommen nicht erinnern. Er hat ihr die verlangten Briefe geschickt, sie aber kann sich nicht entschließen, ihn zum Entgelt eine ähnliche Auswahl der seinigen zurückzustellen. Warum? Das Tagebuch versucht, wieder zwei Monate später, eine plausible Antwort zu geben. »Am 16. Oktober«, heißt es dort, »kam Brahms hier durch – nachmittags ging er nach Köln zur ersten Aufführung seines Duos mit Joachim und Hausmann. Ich hatte ein Gespräch mit ihm über die Rückgabe seiner Briefe, die mir sehr schwer wurde und einige Bedenken auch bei mir erregte. Wenn er stürbe, [50] kämen sie doch gleich in unrechte Hände, während bei uns doch meine Kinder das gewissenhaft tun würden, was ich oder er wünscht. Er hat mir meine Briefe nun alle zurückgebracht, und ich muß ihm die seinigen von Rechts wegen auch zurückgeben. Ein anderes war es aber noch, was ich ihm vorstellte. Ich wollte aus den Briefen für ihn alles, sein Leben als Künstler wie als Mensch betreffende ausziehen, denn sie geben ein Lebensbild von ihm und seinem Schaffen, wie ein Biograph es sich nicht umfassender wünschen könnte. Ich wollte alles zusammenstellen, dann erst ihm die Briefe zur Vernichtung übergeben, er wollte es aber nicht, und so überließ ich sie ihm unter wehmütigen Tränen heute« ...43
Am 26. Juni abends traf Brahms in Köln ein. Richard Pohl, der offizielle Referent des Kölner Festes, früher von Brendels, jetzt von Fritzschs Gnaden, widmete dem denkwürdigen Ereignis im »Musikalischen Wochenblatt« eine Reihe von Artikeln, die nach seiner gewohnten Manier Kraut und Rüben durcheinanderwerfen und an Unverfrorenheit alles überbieten, was dieser im Wechsel idealistischer Grundansichten so geübte Journalist geleistet hat. Da er sich als kritischer Impresario der Kurverwaltung von Baden-Baden mit Brahms schon anno 1870 auf guten Fuß gestellt [51] hatte,44 so war es ihm jetzt erst recht ein Leichtes, die von Wüllner angebahnte und eingeleitete Fusion der besseren Elemente der Zukunfts-, Gegenwarts- und Vergangenheitsmusik feierlich zu segnen, und er tat dies mit der Kalchasmiene des Offenbachschen Oberpriesters. Während er sich vor seiner nunmehr zur Vierzahl erweiterten alten göttlichen Dreieinigkeit Wagner-Liszt-Berlioz niederwirft, versetzt er einem hinter ihm stehenden Andersgläubigen einen Fußtritt.
Den Weihrauch bekam Brahms, den Tritt zur großen Genugtuung aller Dreieinigkeitsanbeter – Eduard Hanslick. Der von dem berühmten Kritiker sympathisch begrüßte und eifrig geförderte Anton Dvořák findet als »slavischer Ausläufer der Brahms-Bewe gung« keine Gnade vor den Augen des Wagner-Apostels. Das gehörte im Kreise der Teutomanen, in den sich unter Pohls Agide von jeher viele höchst verdächtige Arier eindrängten, zum guten Ton. »Hanslick«, schreibt er, »fühlt von Zeit zu Zeit das Bedürfnis, jemanden zu, erfinden', da er sich mit Wagner und Liszt zu stark – kompromittert hat, und aus der Sackgasse, in die er sich da verrannt hat, nicht mehr heraus kann. Diese Hanslickschen Erfindungen haben nun zumeist das Eigentümliche, daß sie auf die Dauer nicht Stich halten. Brahms bildet natürlich eine Ausnahme.« Hier macht Hoplit einen Gedankenstrich, wirst sich in die Brust und schlägt an den hohlen Panzer: »– aber den hat der pfiffige Wiener Professor der Ästhetik auch nicht entdeckt, sondern wir, in der, Neuen Zeitschrift für Musik', und zwar vor länger als dreißig Jahren. Daß die Brahms-Frage für uns nicht so wichtig war wie die Wagner, Frage, während das bei Herrn Hanslick umgekehrt war, bildete den Wendepunkt. Jeder erwählte sich seinen Heiligen und wurde nach seiner Fasson selig.«
Trotz der von Brahms sorgfältig beobachteten Zurückhaltung wurde seine Beteiligung an dem Tonkünstlerfest von Vielen als eine Art Sühnopfer angesehen, das er den Manen Liszts und Wagners darbrachte, und als eine reuige Revokation des Protestes, den er 1860 mit Joachim, Grimm und Scholz gegen die »Neudeutschen« und die Weimarer Schule erlassen hatte. Sein [52] Erscheinen machte, wie Pohl weiter berichtet, Sensation, und die Wirkung steigerte sich, als er sein Trio mit Gustav Holländer (Geige) und Louis Hegyesi spielte. Pohl meint, das c-moll-Trio gehöre wohl nicht zu den hervorragendsten Kammermusikwerken von Brahms, es zeige ein gewisses Streben nach leichter Verständlichkeit, nach Popularität, und sei schon beim ersten Hören zu verstehen.45
Bülow, der, wie er seiner Frau beichtet, die Schwäche hatte, seiner Tochter Daniela zu Liebe, Liszts »Heilige Elisabeth« mit erleben (erleiden) zu wollen, hielt nur eine Stunde aus. Es wurde ihm so unerhört schlecht zu Mute, daß er beim ersten groben Fortissimo aus dem Saale schlich. »O Maria!« ruft er aus, »es war furchtbar, als meine Ohren den Abgrund meiner Vergangenheit durchmaßen – die scheußlich hohle, gleißnerische Nichtigkeit in ihrer Ganzheit gewahr wurden!«46 Beim Kaisermarsch von Wagner konnte er seiner Begleiterin »wiederum den Kummer nicht ersparen, hinauszulaufen«. Über dieses Lärmstück sprach Brahms entschuldigend zu Wendt, die Idee, gewissermaßen den Festzug nachzuahmen, ihn dumpf von der Ferne näher kommen, dann die Zurufe des Volkes immer mächtiger anschwellen zu lassen usw. sei freilich eine Verirrung, aber doch die Verirrung eines großen Künstlers. Bei derselben Gelegenheit sagte er, Sachen wie Walkürenritt und Feuerzauber bewiesen eine ganz gewaltige Kraft.
Nach dem glücklich überstandenen Feste vergönnte sich Brahms eine längere Erholungspause bei Beckeraths in Rüdesheim, die ihn mit der Anwesenheit der heimlich durch Eilbotenbrief bestellten Schwestern Spies überraschten. »Der Garten stand in herrlicher Blüte«, schreibt Hermine, »der Gärtner brachte frisch betaute Rosenaufsätze, um die Abendtafel zu schmücken. Die Nachtigallen schlugen frisch drauf los, als seien sie zum Empfang extra auf die Erde gesetzt. – Wir warfen noch einen letzten Blick über die so geordneten Empfangsfeierlichkeiten und erwarteten dann die Heimkehrenden hinter einer Zypressenlaube, am Eingang des [53] Gartens. Und als sie endlich den Kiesweg betraten, stürzten wir aus unserm grünen Versteck hervor. Und dann begannen in diesem Paradiesgärtlein ein paar köstliche Tage des musikalischen Einvernehmens. Die neuen und alten Lieder, die jetzt erklangen, bespannten die Seele mit neu klingenden Saiten.«
Schöner hätte eine Verlobungsfeier nicht inszeniert werden können. Der so verführerisch Bewillkommnete genoß den Duft der Rosen und den Gesang der Vögel, nebst anderen Annehmlichkeiten des Rüdesheimer Paradiesgärtleins, nur auf den Apfel vom Baume der Erkenntnis wollte er nicht mehr anbeißen: er hatte das Eden seiner Träume längst verscherzt. Unverrichteter Sache fuhr er in die Schweiz zurück. Seine Wiener Hausdame, Frl. Ludovika Vogl, war inzwischen gestorben, und ihr Tod stürzte ihn in arge Verlegenheit. Eine neue Wohnung suchen, eigenes Mobiliar anschaffen, nach fünfzehn in der Karlsgasse friedlich verlebten Jahren aus den ihm lieb gewordenen Räumen ausziehen ins Ungewisse, zu fremden Menschen, die seine Eigenheiten nicht kannten – der bloße Gedanke daran genügte, ihm die Laune zu verderben. Ein anderer hätte vielleicht den traurigen Zwischenfall für einen Schicksalswink angesehen und sich kurz resolviert, eine junge Herrin in die dritte Etage der Nummer 4 heimzuführen. Aber wenn Brahms nicht schon entschlossen gewesen wäre, auf das Glück einer Heirat zu verzichten, so würde ihn der drohende Wechsel seiner äußeren Verhältnisse erst recht in seiner Abneigung bestärkt haben. Unter allen Möglichkeiten, die sich seine geschäftige Phantasie ausmalte, mußte ihn eine solche Umwälzung seiner Lebensführung abschrecken, und zwar desto mehr, je weiter er sich in die Einzelheiten der ihn bedrohenden Lage verlor. Mit ohnmächtigem Ingrimme dachte er an die Unersetzlichkeit der eingeschrumpften, vergilbten alten Jungfer, die mit ihren erloschenen Augen so fürsorglich zum Rechten sah, unhörbar kam und ging – wie ein lebendiges Gespenst, und eben darum der anspruchsloseste, zuverlässigste aller Hausgeister war. Seine schlecht möblierte Junggesellenwohnung war ihm in ihrem verwahrlosten Zustande lieber als die Prunkzimmer eines Palastes, und er hätte sie ebenso ungern mit einer Beletage der Ringstraße vertauscht wie die alte Ludovika mit einer jungen »Hermione ohne O«. Die Unruhe [54] seines von so vielen theoretischen Erwägungen und praktischen Bedenken aufgerührten Gemütes wuchs mit der Zahl der Bewerberinnen, die sich für den leer gewordenen Posten bei ihm meldeten. Unvorsichtigerweise hatte Brahms den Wiener Freunden seine Not geklagt, und deren Bemühungen hatten ein förmliches Wettrennen von Repräsentationsdamen und Wirtschafterinnen, geschiedenen Frauen, Witwen und Jungfrauen zur Folge gehabt, denen nur durch die Flucht zu entrinnen war. Aber auch in Thun ließen ihn die Sorgen nicht los, seine Quälgeister bestiegen mit ihm den Dampfer, der ihn nach Interlaken und Merligen führte. Mit Faber korrespondiert er einer Frau Schwärtlein wegen. Er habe sich zwar anderweit eingelassen, das habe sich aber zerschlagen, und daher komme er wieder auf die Witwe zurück. Die Wohnung kenne sie und wisse, daß sie das größte Zimmer mit Vorzimmer und Küche unentgeltlich bekomme, dazu so gut wie allen Boden- und Kellerraum. Als Gegenleistung verlange er nur, daß sie für die nötige Bedienung sorge und ihm die unentbehrlichsten Möbelstücke leihe. Von diesen brauche er sehr wenig, da ihm welche zur Verfügung ständen, wenn er sie haben wollte, vor allem ein gutes Bett, ja keine Garnitur! Sie solle sich der Möbel wegen in keine Unkosten stürzen, aber auch keine so schlechten mitbringen, wie er bis jetzt hatte. Unter Bedienung verstehe er nur die tägliche, gewöhnliche; besonderes Reinmachen, Wäsche usw. zahle er gern extra, und lasse sich überhaupt nicht lumpen. Sechs Tage später, am 17. Juni, hat er sich auf eine andere »bessere« Witwe besonnen, die ihm Door einmal vorschlug, und Anfang Juli ist von einer dritten »in der Paniglgasse« die Rede, die Faber zu einer »näheren Verbindung« mit ihm für geeignet hielt. Zu Wendt aber spricht er von einer deutschen, damals im Orient lebenden unverheirateten Dame, die sich bei ihm auf einen von ihr verfaßten Roman – »Schleier der Maja« – berufen habe. »Sie scheint sich sehr merkwürdige Vorstellungen von dem zu machen, was ich brauche. Meine Bedürfnisse gehen über Bettmachen und Kleiderreinigen nicht weit hinaus.« Frau Fellinger, der er bekennen mußte, daß er noch zwei heimliche Witwen, und daß er die ganze Angelegenheit so liederlich wie das Komponieren behandelt habe, obwohl es doch hier auf [55] Wichtigeres ankäme,47 sorgte unterdessen mit Frau Professor Oser in Wien für das Nächste. Ihr verdankte er auch die Bekanntschaft mit Frau Celestine Truxa. Die gebildete, feinfühlige und kluge Dame war die berufene und auserwählte Nachfolgerin des Fräulein Vogl. Ihres Ernährers, des in der Schweiz verunglückten PublizistenDr. Robert Truxa, beraubt, stand sie mit ihren beiden kleinen Söhnen allein in der Welt da und empfahl sich bei einer persönlichen Vorstellung dem Meister als die von ihm gesuchte Persönlichkeit.48
Einige Eigenheiten, die für Brahms im Verkehr mit seinen Hausleuten charakteristisch sind, mögen nach Mitteilungen der Frau Truxa, hier ihre Stelle finden. Zu Anfang ihres Zusammenlebens unterzog er das Wirken seiner Haus- und Wirtschaftsgeister einer geheimen Kontrolle, warf Zigarrenstummel und Zündhölzchen ins Zimmer und unter die Möbel, um zu sehen, ob auch gehörig aufgeräumt würde, und ließ, um die Ehrlichkeit der Bedienerin zu erproben, Geld auf dem Fußboden liegen. Er hatte eine Menge von Champagner-, Rheinwein- und Likörflaschen im Keller, die ihm zum Geschenk gemacht wurden, und führte genaues Verzeichnis über seinen Vorrat, der nur für besondere Gelegenheiten und Gäste da war. Einige Male kam es vor, daß Flaschen fehlten, die er zu haben wünschte, und diese Wahrnehmung verstimmte ihn tief, ohne daß er davon gesprochen hätte. Später kam es heraus, daß die Hausmeisterin, der er sich in Ermangelung einer geeigneten Mitbewohnerin schon hatte anvertrauen wollen, die Diebin war. Als sie starb, fand sich ein großes Bund mit Dietrichen und Nachschlüsseln bei ihr vor, dazu eine Menge gestohlenen Gutes, das sie den Mietsparteien entwendet hatte. Darüber wurde Brahms sehr vergnügt und machte dem Dienstmädchen ein ansehnliches Geldgeschenk, indem er das Unrecht stillschweigend ausgleichen wollte, das er der von ihm Verdächtigten in Gedanken zugefügt hatte.
[56] Wenn an seiner Toilette etwas nicht in Ordnung war, ein Band oder ein Knopf fehlte, legte er den betreffenden Gegenstand obenauf in seiner Schublade und ließ sie ausgezogen offen stehen. Frau Truxa besserte dann den Schaden aus, ohne ein Wort zu sagen; auch er erwähnte die Angelegenheit mit keinem Worte. Da er auf seine Garderobe nur insofern achtete, als er sie nach seiner Bequemlichkeit verfertigt wünschte, kam es vor, daß er in abgetragenen Kleidern ausging, die bei der seinen Welt Anstoß erregten.49 Etwas Neues anzuschaffen, konnte er sich schwer entschließen, und Frau Truxa mußte ihm zureden, oder sie bestellte, wenn dies nichts fruchtete, auf eigene Faust den Schneider. Als sie einmal heimlich einen seiner alten Röcke wenden ließ, den sie dann für neu in den Schrank hing, betrachtete er das Werk des Meister Zwirn wie ein Wunder und wollte nicht glauben, daß es sein alter Rock war. Der Schneider hatte seine liebe Not mit ihm, da er selten zum Maßnehmen wie zum Anprobieren zu bewegen war. Deshalb saß ihm auch selten ein Kleidungsstück gut. Am meisten machten die Beinkleider zu schaffen, die er immer so weit hinaufschnallte, daß sie bei den Knöcheln nicht zureichten. Es half nichts, daß der Schneider beauftragt wurde, sie länger und länger zu machen. Brahms zog den Leib bis unter die Achseln in die Höhe und schnitt die Hosen endlich unten mit der Papierscheere ab.
Er verließ damals regelmäßig um 6 Uhr früh das Bett und trank den ganzen Morgen über von seinem Kaffee, den er sich auf der Maschine selbst bereitete, während er am Stehpult um Bibliothekzimmer) Noten schrieb. So hielt er es in der Stadt. (Auf dem Lande stand er, wie schon an anderen Stellen bemerkt wurde, noch zeitiger auf und ging gleich nach dem Frühstück stundenlang spazieren.) Denn er komponierte, seltene Ausnahmen abgerechnet, niemals im Zimmer oder gar am Klavier, sondern regelmäßig im Gehen. Das Fixieren seiner Kompositionen [57] geschah erst, wenn er sie vollständig im Kopfe fertig hatte. Was er geschaffen, stand ihm so klar vor Augen und haftete so treu in seinem Gedächtnis, daß er es jederzeit ohne Besinnen niederschreiben konnte, gleichgültig, ob es ein einfaches Lied oder eine komplizierte Orchesterpartitur war.50
Von allen wichtigeren Briefen, oft aber auch von bloßen Karten und Billets setzte er Konzepte auf, die er, nach vollendeter Reinschrift, in den Ofen oder in die Tasche steckte. Er tat dies, wie er sagte, der Zeit-, Papier- und Geldersparnis wegen, weil es ihm öfters begegnete, daß er einen fertigen Brief, in welchem ihm irgendein Ausdruck nicht gefiel, beiseite legen und von vorn beginnen mußte. Diese für notwendig erkannte Umständlichkeit trug dazu bei, ihm das Korrespondieren zu verleiden. Häufig ereignete es sich auch, daß ihn ein in großer Eile oder in gereizter Stimmung abgefaßter Brief hinterher reute. Dann schickte er gleich einen zweiten nach, der das vom ersten angerichtete Unheil wieder gutmachen sollte. In seiner Korrespondenz kommen viele solcher Doppelbriefe vor, die sogar manchmal von einem und demselben Tage datiert sind.51
Sich mündlich für etwas bedanken zu müssen, war ihm peinlich. Ebensowenig liebte er es, wenn Umstände mit ihm gemacht wurden. Anfangs wartete Frau Truxa mit ihrem Mädchen unten im Hausflur auf ihn, sobald er von Reisen heimkehrte, [58] um ihn zu begrüßen. Er empfand dies als übel angebrachte Aufmerksamkeit und ging an seiner Hausfrau vorbei, ohne sie eines Grußes zu würdigen. Gleich darauf aber klopfte er bei ihr an und erkundigte sich nach ihrem und ihrer Kinder Befinden, ohne den Vorfall mit einem Worte zu berühren. Als Frau Truxa zu ihrem tötlich erkrankten Vater reisen und ihre beiden kleinen Söhne der Obhut des Dienstmädchens übergeben mußte, verbat sich Brahms, daß das Mädchen, wie gewöhnlich, die Zimmer aufräumte, mit dem Bedeuten, sie dürfe die Kinder keinen Augenblick allein lassen. Er kümmerte sich auch selbst um die Kleinen, sah nach, wie es ihnen erging, hielt darauf, daß sie ihre Mahlzeiten rechtzeitig einnahmen, daß sie ordentlich zu Bette gebracht wurden usw. Zu Weihnachten beschenkte er sie mit Bilderbüchern, die er aus Widmanns Redaktionseinlauf bezog, und wohnte der Bescherung regelmäßig bei.
Sein wiedergewonnenes Junggesellenheim, in dem er sich bald wohler als je vorher fühlen sollte, wurde zur Schutz- und Trutzfeste und widerstand siegreich allen Stürmen von außen. Der unterirdische Gang aber, der ins Innere seiner Burg zum Herzen führte, wurde schärfer denn je bewacht.
2 III 379.
3 S. 76.
4 Das Jahr 1885 hatte für Brahms mit Konzerten aufgehört, das Jahr 1886 mit Konzerten begonnen. Am 7. Januar sang Frau Joachim die Bratschenlieder als Novität bei Hellmesberger in Wien, am 21. spielte Brahms ebendort mit dem Primarius seine Violinsonate op. 78. Im Februar konzertierte er in Berlin, Köln, Mannheim und Leipzig (er dirigierte zum ersten Male im neuen, 1884 eröffneten Gewandhause »in Anwesenheit ihrer königlichen Majestäten« diee-moll-Symphonie und sein von Adolf Brodsky gespieltes Violinkonzert; Herzogenbergs waren von ihrem neuen Wohnort Berlin herübergekommen, um zuzuhören), im März in Frankfurt, Dresden und Breslau – hier gab es der übel vorbereiteten Symphonie wegen zwischen Bruch und Brahms einen erregten Meinungsaustausch, der zur Folge hatte, daß Brahms nicht wieder in Breslau vorsprach – im April in Meiningen, Hamburg und Hannover. In Meiningen wurde der Geburtstag des Herzogs mit einer Wiederholung der Symphonie und der Haydn-Variationen gefeiert.
5 Die Inschrift der Gedenktafel lautet wörtlich:
»In diesem Hause lebte der Meister deutscher Tonkunst
Johannes Brahms
in den Sommermonaten der Jahre 1886–1888 und schuf hier mehrere seiner schönsten Werke.
›Du hast das Land, sangfroh in alter Zeit,
Mit Deinem Lied zu neuem Ruhm geweiht.‹
Seinem Andenken der Einwohnerverein Thun 1899.«
6 Theophil Zolling: »Heinrich v. Kleist in der Schweiz«.
7 Bibliophile durfte nicht sein, wer Brahms Bücher lieh. Zwar war er auch hier von musterhafter Ordnungsliebe, insofern er über jedes Blatt, das er verlieh, Protokoll führte, und in jedes Buch, das er entlieh, den Namen des rechtmäßigen Eigentümers einschrieb. Aber er hatte die üble Gewohnheit, während des Lesens alle Knötchen und Körnchen des Papieres mit dem Nagel wegzukratzen und Stellen, die ihm bemerkenswert erschienen, dick anzustreichen oder mit einem NB. (notabene) am Rande zu versehen. Da ich infolgedessen, durch Schaden klug geworden, mit den kostbaren Originalausgaben meiner Büchersammlung unter allerlei Vorwänden zurückhielt, räsonierte er immer über die vielen unnützen Bücher, die ich hätte, während mir gerade die wichtigsten fehlten. Ein durchlöcherter Lichtenberg in neun und ein verschwärzter Klinger in vier Bänden sind Zeugen seines kratzlustigen Leseeifers.
8 a.a.O. S. 56ff.
9 Karl M., Direktor der Berner Musikschule.
10 Bach zu spielen, war Brahms unermüdlich. Als ich einmal in der Karlsgasse bei ihm eintreten wollte, begann er mit dem Präludium der großen Orgelfuge ina-moll. Ich blieb hinter der Glastür stehen und ließ mir keinen Ton entgehen. Nach dem Schluß rief er mich hinein, sagte, da ich ihm dankte: »Nun wollen wir das Stück aber erst einmal ordentlich spielen«, begann das Riesenwerk von neuem und übertraf sich selbst, ohne eine Spur von Ermattung zu zeigen.
11 Ein Irrtum. Andere der von Brahms bearbeiteten »Volkslieder« sind Nicolais »kleynem seynem Almanach« entlehnt, dagegen »Verstohlen geht der Mond auf« den von Zuccamaglio herausgegebenen »Deutschen Volksliedern«. Die Melodie ist Zutat des Herausgebers selbst.
12 Aus Friedrich v. Spees »Trutz Nachtigall«, vgl. I 389f.
13 Ist nur cum grano salis zu verstehen. Brahms verfuhr im allgemeinen sehr pietätvoll mit seinen Dichtern. Das in der Komposition um zwei Strophen verkürzte Brentanosche Lied ist »O kühler Wald« (op. 72 Nr. 3). Die von Brahms gestrichenen Strophen erwiesen sich als schädliche Auswüchse; von ihnen befreit, gewann das Lied an Körper und Seele.
14 Die Kletterpartie auf den 2366 m hohen Riesen scheint Brahms in einer Baumeister-Solneß-Stimmung unternommen zu haben. Seine Korpulenz hätte ihm ein solches Abenteuer verbieten müssen. Wie Klaus Groth in seinen »Erinnerungen« mitteilt, war ein Landesgerichtsrat Thomsen aus Altona der mittelbare Verführer gewesen. Sie kutschierten abends bis an den Fuß des Berges, übernachteten dort im Hotel und begannen den Anstieg am frühesten Tage. Brahms ermüdete schnell und wollte schon umkehren, als ihm die aufgehende Sonne neue Lust machte. Bald aber schalt er wieder auf den Unsinn dieses problematischen Klettervergnügens, auf den steinigen Weg, auf den unschuldigen Begleiter, er habe gewiß den Weg verfehlt, sie kämen ja gar nicht hinaus. Der Landesgerichtsrat, der ein geübter Hochtourist war, ersann allerlei Vorwände, um Brahms zum Ausruhen zu zwingen. Nach sechs Stunden kam endlich das Einkehrhaus auf dem Plateau in Sicht. Brahms fand so großes Wohlgefallen an dem großartigen Rundgemälde und war so selig, den anstrengenden Teil der Partie hinter sich zu haben, daß er oben übernachten wollte. Sein Begleiter redete es ihm aus, und der schweißtreibende Abstieg wurde nach dem Nachmittagskaffee angetreten. »Der arme Dicke«, schrieb Thomsen seinem Freunde Groth, »hatte längst nichts Trockenes mehr, um den Schweiß vom Gesicht abzuwischen. Er fuhr sich nur immer einmal mit seinem Regenschirm über die Backen und trampelte wieder los. Er schalt nicht mehr, aber ich sah ihn fast in Verzweiflung, und um ihn durch Gedanken, die ich über den Weg, der mir nun auch unbeschreiblich lang vorkam, in ihm weckte, die Zeit zu kürzen, äußerte ich mehrmals, ich hätte mich wohl versehen, wir hätten uns wohl verirrt. Aber dann widersprach er eifrig und wischte und rutschte weiter. Und dabei brummte er eine fürchterlich triviale Operettenmelodie, über die er gescholten, als ich sie ihm im Fremdenbuch gezeigt hatte, in einem fort vor sich hin ... Als wir dann im vorausbestellten Wägelchen, mit Tüchern und Decken wohl umhüllt, im schönen Abendwetter rasch unserem Ziele, Thun, zufuhren, sprach der gute Brahms mit Freuden von den überwundenen Strapazen wie von einer Siegestour.«
15 »und allbeliebt« – hätte Wendt noch hinzusetzen können. Sein Hausherr konnte, wenn er auf seinen Mieter zu sprechen kam, nicht genug dessen Leutseligkeit, Zartgefühl, rücksichtsvolles Benehmen und anspruchslose Bescheidenheit rühmen. Dem Verfasser zeigte Herr Spring bei seinem Besuch im Jahre 1904 ein außerordentlich höfliches, von Brahms an ihn gerichtetes Schreiben, in welchem Brahms um »die Erlaubnis bittet«, ihm »einige Mühe verursachen zu dürfen« mit Effekten und Briefen, die für ihn in seiner Abwesenheit eintreffen würden, und seine Freude ausspricht, »Sie und die Ihrigen und das schöne Thun wiederzusehen«. Der Tischler war auch ein »Meister«, und Brahms behandelte ihn als seinesgleichen. Frau Estelle Weiser, die Herrn Spring ebenfalls ausfragte, berichtet: »Wenn Brahms den Schlüssel hängen ließ und sich beim Abendtrunke verspätete oder tagsüber in seine Wohnung wollte, vermied er es, an dem immer geschlossenen Haupttor, das direkt zu ihm führte, anzuläuten, um niemand von den Hausleuten zu bemühen, sondern schob sich lieber durch den nach Käse, Seife und ähnlichen Dingen riechenden Laden.«
16 Ähnliches erlebte ich 1877 und später einige Male in Wien, wenn mich Brahms zur »Csarda« im Prater mitnahm.
17 Vgl. Leopold Schmidt: »Johannes Brahms im Briefwechsel mit Hermann Levi, Friedrich Gernsheim, sowie den Familien Hecht und Fellinger«. Briefwechsel VII S. 222.
18 Alfred Stern, Geschichtsprofessor in Bern, seit 1888 am Polytechnikum in Zürich.
19 Die Lieder waren: »Wie Melodien zieht es«, op. 105 Nr. 1 und »Immer leiser wird mein Schlummer«,op. 105 Nr. 2. Hermann Lingg, der Dichter seines Textes, war pensionierter bayrischer Militärarzt, daher Billroths »Kollege«.
20 Vgl. I 212ff.
21 II 333.
22 Bülow nannte die ihm erwiesene Auszeichnung eine »Standeserhöhung«.
23 Vgl. dazu:
– aus dem d-moll-Vivace im Andante der Sonate op. 100 – eine überraschende Analogie!
24 a.a.O. III S. 512.
25 Mehr als einmal sprach sich Brahms darüber im heftigsten Unmut aus, und es war nicht weniger rührend, von dem schnell wieder Besänftigten zu hören, wie er trotz alledem den weiblichen Abgott seiner Jugend in hohen Ehren hielt, gegen sich selbst entschuldigte und verteidigte.
26 Ihr Urteil war übrigens hier die epigrammatisch zugespitzte Variante einer Äußerung Ernst von Wildenbruchs (vgl. Briefwechsel II 144) und erinnert daran, daß Brahms den Dichter 1886 bei Widmann in Bern persönlich kennen lernte. Widmann berichtet von gegenseitigen herzlichen Sympathien der beiden, und wie schnell sie sich miteinander verständigten. Wildenbruchs naturwüchsige Frische, kraftvolle Persönlichkeit, pietätvolle Verehrung großer Dichter und politische Anschauungen sagten Brahms vollkommen zu. »Es war ein wirkliches Vergnügen«, schreibt Widmann, »zu sehen, wie ihre Seelen, gleich Flammen, ineinander loderten«. (a.a.O.)
27 Noch heute erinnere ich mich mit Schrecken an eine erste Probe des c-moll-Trios, die im Februar 1887 in meiner Wohnung stattfand. Brahms hatte das Robert Heckmannsche Streichquartett aus Köln schon im November 1884 in Wien unterstützt; er wirkte in dem Eröffnungskonzert mit und spielte die Klavierpartie seines c-moll-Quartetts. Exaktheit des Vortrages, Freiheit der Auffassung und Feuer der Empfindung rechtfertigten das ungewöhnliche Protektorat. Das Kölner Quartett gefiel den Wiener Musikfreunden so sehr, daß es seinen drei Abenden noch einen vierten folgen lassen konnte. Im März des nächsten Jahres wiederholte sich derselbe Vorgang. Als Brahms von Thun das c-moll-Trio mitbrachte, hielt er das Werk eigens zurück, um es mit Heckmann und dessen Violoncellisten Bellmann am 26. Februar (im ersten der beiden Kammermusikkonzerte, die das Quartett 1887 in Wien veranstaltete) vor das Publikum zu bringen. Da er möglichst ungeniert probieren wollte, bat er mich, dies bei mir tun zu dürfen. Die Probe war auf 11 Uhr angesetzt, und die Herren sollten dann bei uns speisen. Obwohl Geiger und Violoncellist ihre Stimmen vorher durchgesehen hatten, wurden sie doch von Brahms und der genialen Ungebundenheit seines Spieles so außer Fassung gebracht, daß sie ihm nur mühsam nachkamen und kaum selbständig hervortraten. Das Werk blieb ihnen fremd, und sie begriffen es um so weniger, als Brahms nicht die geringste Rücksicht auf sie nahm. Er schien die Bekanntschaft mit der Novität vorauszusetzen und ärgerte sich, daß die überraschten und verblüfften Mitspieler fast völlig versagten. Nach dem ersten Satze beging Heckmann die Unvorsichtigkeit, zu fragen, ob der Meister zufrieden sei oder es anders wünsche. Er erwiderte höhnend in gereiztem Tone: »Ja, sehr!« und fing sofort den nächsten Satz an. Im f-moll-Teile stolperten Violine und Violoncell, die den Einsatz verpaßten, übereinander, und die bewußten Pizzikati mißglückten bei dem rasenden Tempo, das Brahms genommen hatte, jedesmal. Seine Ungeduld steigerte sich immer mehr, und man sah ihm an, wie es in ihm kochte. Nach dem letzten Akkord sprang er auf, schleuderte dem Konzertmeister ein paar heftige Worte zu: »So kommt man nicht zur Probe!«, war durch nichts zum Dableiben zu bewegen, sagte meiner Frau und mir Adieu, würdigte seine niedergedonnerten Mitspieler keines Blickes mehr und stürmte fort. Heckmann brach in Tränen aus, und ich hatte Mühe, ihn zu beruhigen. Die Proben wurden dann in einem Lehrzimmer des Konservatoriums und bei Bösendorfer fortgesetzt, nachdem Heckmann einen Buß-und Bittgang in die Karlsgasse getan hatte, und da ich ihnen weiterhin assistieren durfte, so war mir um die Aufführung nicht bange, die dann auch dem Komponisten und seinen Mitspielern einen großen Erfolg eintrug.
28 Marie Baumayer, die gediegene Wiener Pianistin, bei der durchdringendes Kunstgefühl und hoch entwickeltes freies Ausdrucksvermögen einander die Wage halten, stand bei Brahms besonders gut angeschrieben. Sie war die erste, die es wagen durfte, dasB-dur-Konzert öffentlich zu spielen, ohne befürchten zu müssen, daß, wie bei einer minder glücklichen Rivalin, der gereizte Meister sich dafür mit dem zweideutigen Kompliment bedankte, er werde nun ein drittes, noch schwereres Klavierkonzert komponieren müssen, das von keinem Frauenzimmer gespielt werden könnte.
29 Im Quartett Hellmesberger wurde die e-moll-Sonate erst 1878, zwölf Jahre nach ihrem Erscheinen, von Reinhold Hummer und Anton Door gespielt.
30 Darauf bezieht sich das von Frau v. Herzogenberg in ihrem Briefe vom 4. Dezember 1884 erwähnte Gerücht, daß Brahms ein Cellokonzert schreibe. (Briefwechsel II S. 43.)
31 Vgl. II S. 188.
32 Vgl. I 90.
33 »Musikalisches und Persönliches« S. 150.
34 Briefwechsel II 132ff.
35 Ein von Frau Joachim im April veranstalteter Brahms-Abend – für Berlin der erste seiner Art – an welchem unter Mitwirkung des Leipziger Trios Willy Rehberg (Klavier), Henri Petri (Violine) und Alwin Schröder die A-dur-Sonate op. 100 und das c-moll-Trio op. 101 zur Aufführung gelangten, hätte ihn unter anderen Umständen vielleicht gelockt.
36 An Simrock schickte Brahms aus Wien am 1. Januar 1887 einen kritischen Ausweis mit den Worten: »Ich finde nur die eine Pester Zeitung, die ich beilege; sie schreiben aber alle dasselbe: die Sonaten sind nicht der Mühe wert, aber das Trio!«
37 Die Summe ging in die Hände der Frau Karoline Brahms, »als kleines Zeichen der Dankbarkeit« gegen die Stiefmutter, über.
38 a.a.O. III 489.
39 Georg Fischer: »Briefe von Theodor Billroth«, 2. Aufl. S. 392.
40 III. Bd. S. 179ff. – An Pohls Stelle im Archiv rückte bekanntlich Mandyzcewski.
41 Heinrich Zöllner, der damalige Dirigent des Kölner Männergesangvereins, hatte Goethes »Faust« zum Text für ein Musikdrama benutzt, daß er 1887 in München herausgab. Gounods »Margarete« und Boitos »Mefistofele« waren Brahms, schon der Verballhornung Goethes wegen, sehr unsympathisch, ebenso später Massenets »Werther«. Als er in der Generalprobe zum »Werther« neben dem Maler Hans Schließmann saß, sagte er zu seinem Nachbar bei einer besonders sentimentalen Stelle: »Zuckerbäckermusik!«. Mit dem Knaben, der sich am Klavier über Sophokles und Shakespeare hermacht, zielt er auf sich selbst. Wenn man vierzehn Jahre alt sei, meinte er, dürfe man so etwas allenfalls tun.
42 Einer Randbemerkung Litzmanns zufolge soll Klara bei dieser Gelegenheit sich die Erlaubnis erbeten haben, »ihr besonders liebe Briefe zu behalten«, und Brahms soll darein gewilligt haben. Das Tagebuch schweigt über diese eigentümliche Klausel, deren Annahme Frau Schumann gewiß vollkommen zufrieden gestellt hätte. »Besonders liebe Briefe« sind ein so dehnbarer Begriff, daß die ganze Korrespondenz darunter verstanden sein könnte.
43 Brahms schreibt oben an Klara Schumann: »Mit unsern Briefen machen wir es merkwürdig«. Dies sollte ein mahnender Vorwurf für die Freundin sein, die, trotz ihres Übereinkommens, ein halbes Jahr lang zögerte, den von seiner Seite erfüllten Vertrag auch ihrerseits zu vollziehen. Was hätte er aber zu der merkwürdigsten aller Merkwürdigkeiten gesagt, die sich einige Jahre nach seinem Tode ereignete? Seine Briefe, die ihm Klara »unter wehmütigen Tränen« am 16. Oktober 1887 »überließ«, sind plötzlich wieder da, obwohl er sie, nach dem Kölner Musikfest, zu dem er damals von Frankfurt abreiste, in ein Bündel geschnürt und mit Steinen beschwert, eigenhändig in den Rhein geworfen haben will. So sagte er mir 1887 und bekräftigte es später, in einem analogen Fall, nach dem Tode seiner Schwester, noch einmal zu Herrn und Frau von Miller (1893). »Aus Briefen von Brahms an Klara« ist eine stehende, häufig wiederkehrende Rubrik in Litzmanns Biographie. Die Exzerpte beginnen mit 1854 und enden mit 1896, so daß die Absicht Klaras, welche Brahms vereitelt zu haben glaubte, hinterdrein doch durchgesetzt wurde: neben der aus ihren Tagebüchern geschöpften Biographie Klara Schumanns erscheint, gleichsam im Doppelmedaillon, das Lebensbild ihres Freundes.
44 Vgl. I 207f. und II 400f.
45 »Musikalisches Wochenblatt« XVIII S. 365 und vorher von S. 340 an.
46 Hans von Bülow, Briefe und Schriften VII S. 112 und 114.
47 Briefwechsel VII S. 256.
48 Wie sie sich bei ihm einführte und wie es bei ihrem Engagement zuging, erzählt Florence May im zweiten Bande ihres »Life of Johannes Brahms« ausführlich, S. 226f.
49 Bei meinem ersten Wiener Aufenthalt im Jahre 1877 war ich eines Frühjahrsanzuges wegen in Verlegenheit. Brahms gab mir die Adresse seines Schneiders, mit der Empfehlung, er arbeite auch für Nottebohm. Der Musikgelehrte trug altväterische, langschößige Tuchröcke von dunkelgrüner oder grauer Farbe und war auch sonst in seinem Äußern das Muster solider Geschmacklosigkeit.
50 Als ich ihm 1885 die Partitur seiner e-moll-Symphonie zurückbrachte, die er mir auf einige Tage geliehen hatte, wartete er schon ungeduldig darauf, band das kostbare Manuskript, von dem keine Abschrift vorhanden war, nach seiner Gewohnheit mit einem Spagatfaden zusammen, um es offen unter Kreuzband als »Geschäftspapiere« an Joachim weiter zu befördern. Entsetzt darüber bat ich ihn, die Sendung wenigstens zu rekommandieren. Da erwiderte er: »Ach was, solches Zeug geht nicht verloren!« »Wenn aber ausnahmsweise einmal doch?« »So würde ich die Partitur eben noch einmal schreiben. Übrigens will ich brav sein und meine Sachen künftig rekommandieren.« Die Expedition eines Pakets mit vorschriftmäßiger Verschnürung, Siegelung, Begleitadressen und Zolldeklarationen bedeutete für ihn geradezu eine Katastrophe. C.F. Pohl und dessen Nachfolger Mandyczewski nahmen ihm dergleichen in liebenswürdiger Weise gern ab. Doch wollte er die Freunde nur in Ausnahmefällen behelligen.
51 Vgl. III S. 169 f. Beilage und Anm.
Buchempfehlung
Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro