[7] Es ist eine alte Ehrenschuld an den verklärten Genius Mendelssohn's und alle seine Verehrer, die mir seit vielen Jahren schwer auf dem Herzen lag und die ich mit dem nachfolgenden Werke einlösen möchte. Als ich im November und December des Jahres 1847, wenige Wochen nach dem Tode des grossen Meisters, das Büchlein »Felix Mendelssohn-Bartholdy, ein Denkmal für seine Freunde« verfasste, welches bereits zu Weihnachten in gediegener Ausstattung auf den Tischen seiner Verehrer lag, so geschah dies aus dem tiefen Bedürfniss eines Herzens, welches seit dem ersten Auftreten des als Mensch wie als Künstler gleich verehrungswürdigen Mannes in Leipzig, dem Hauptschauplatz seines Wirkens, durch vielfache persönliche Berührung mit ihm, durch häufiges Anhören seiner Werke, durch Uebung der Kunst unter seiner Direction, in seiner unmittelbaren Nähe bei allen von ihm aufgeführten Oratorien, mit seiner Person wie mit seinem Wirken innig vertraut war, und nun durch seinen unerwartet frühen Verlust tief schmerzlich verwundet, Heilung in der Darstellung seines Lebensbildes suchte, ähnlich, wie Tasso[7] sagt: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.« Ich, damals selbst noch ein junger Mann, liebte diesen Menschen wie kaum je einen andern mit fast schwärmerischer Innigkeit. Es war das bei mir, wie bei so vielen tausend Anderen, die Macht des Eindrucks nicht blos der Bedeutung seiner Leistungen in der Production eigener und der Reproduction fremder Werke (er war z.B. der grösste Beethovenspieler seiner Zeit, und das Colossalwerk der neunten Symphonie hat zuerst Er zum Verständniss gebracht), sondern ebenso sehr auch seiner unendlich liebenswürdigen, von dem reinsten sittlich-religiösen Geist durchdrungenen Persönlichkeit. Er war nach jeder Seite hin ein ächter Priester seiner Kunst. Das Gedicht, welches ich gleichsam als eine Widmung zu dem Bilde des grossen Meisters dem gegenwärtigen Werke vorangestellt habe und das aus der ersten Blüthezeit meiner persönlichen Bekanntschaft mit ihm stammt, möge als ein schwaches Zeugniss dieses Eindrucks gelten.
Es war natürlich, dass ein Büchlein wie das »Denkmal Felix Mendelssohn-Bartholdy's für seine Freunde«, welches seine freundliche und beifällige Aufnahme wohl nur der Herzenswärme verdankt, mit der es geschrieben wurde, bei seiner raschen Entstehung und Abfassung gar mancherlei Schwächen und Unvollkommenheiten an sich tragen musste. Ursprünglich nur zu einer Art von Essay bestimmt, wuchs es dem Verfasser unter den Händen durch einige höchst schätzbare, schriftliche und mündliche Mittheilungen vertrauter Freunde und Berufsgenossen Mendelssohn's, Ignaz Moscheles, Julius Rietz und Ferdinand David, sämmtlich damals in Leipzig. Ausser diesen aber fehlte es dem Verfasser, mit Ausnahme dessen, was er selbst von 1836–47 mit Mendelssohn durchlebt hatte, an allen und jeden Quellen. Noch nicht ein einziger[8] Brief Mendelssohn's war gedruckt. Ebensowenig natürlich die Erinnerungen Eduard Devrient's und Ferdinand Hiller's. So konnte es nicht fehlen, dass verschiedene kleine biographische Irrthümer mit unterliefen und bedeutende Lücken blieben. Man wusste z.B. von Mendelssohn's Reise in Italien in weiteren Kreisen noch so gut wie nichts, und zwei seiner bedeutendsten Werke, ja das bedeutendste, Elias, und die schöne sogenannte Italienische, die A dur-Symphonie, hatten wir in Leipzig noch gar nicht gehört. Zu meinem grössten Bedauern gingen einige dieser biographischen Irrthümer, z.B. die unrichtige Darstellung der Entstehung des Namens Bartholdy, aus meinem Werkchen auch in die sehr schätzbare englische Uebersetzung des Herrn William Gage, Newyork und Philadelphia 1865, und selbst in die sonst sehr verständnissvolle Biographie M.'s von August Reissmann, Berlin 1867, über, obgleich ich als gewissenhafter Autor einige dieser Irrthümer bereits in 3–4 der gelesensten musikalischen Zeitungen verbessert hatte.
Gegenwärtig aber, wo das reichste Material zu einer umfassenden Biographie Mendelssohn-Bartholdy's vorliegt, vor allem in den zwei gedruckten Bänden herrlicher Briefe M.'s selbst, ferner in dem schönen Buche Hensel's, die Familie Mendelssohn, das nur für das grössere Publicum etwas zu umfangreich und in Folge dessen auch zu theuer ist, in den oben genannten Erinnerungen Eduard Devrient's und Ferdinand Hiller's, in einem prächtigen Büchlein von Karl Mendelssohn, dem Sohne des Verewigten, »Goethe und Mendelssohn«, ferner in einem Essay des berühmten englischen Kunstkritikers Grove, war es sehr leicht, diese Irrthümer zu verbessern und jene Lücken auszufüllen, zumal ich selbst z.B. in der Zeitschrift »Signale für die musikalische Welt« seit dem Tode Mendelssohn's zwei grössere[9] Aufsätze über Elias und Lauda Sion veröffentlicht hatte. Dass diese Verbesserung nicht früher geschah, hatte seinen Grund theils in dem noch nicht vollendeten Absatz der ersten Auflage jenes Büchleins, theils in meinem mich sehr viel beschäftigenden geistlichen Amte, das mir zu derartigen belletristischen Excursen ganz und gar keine Zeit mehr übrig liess. Jetzt aber, wo ich in den Ruhestand eingetreten, Gott Lob körperlich und geistig immer noch einigermaassen frisch war, hatte ich keinen dringenderen Wunsch, als mit Aufwendung aller mir noch zu Gebote stehenden Kraft meine literarische Thätigkeit durch Herausgabe einer vermehrten und verbesserten Auflage jenes Büchleins zu beschliessen. – Eine Hauptschwäche desselben war unter andern, dass es in einer die Leser ermüdenden Continuität ohne Eintheilung in Kapitel oder auch nur Abschnitte fortlief. Mein werther Uebersetzer, Herr William Gage, hatte diesem Mangel als practischer Amerikaner durch eine sehr rationelle Eintheilung in Kapitel mit Inhaltsangabe schon abgeholfen, auch einige sehr schätzbare Excurse hinzugefügt. Ich bin seinem Beispiele gefolgt, indem ich die Geschichte des Lebens und Wirkens wenigstens in einzelne Abschnitte mit Inhaltsangabe getheilt den Lesern vorgelegt habe.
Obgleich nun dem Vernehmen nach mit irgend einem befähigten Autor Unterhandlungen wegen einer wissenschaftlichen Biographie M.'s auf handschriftlicher Grundlage angeknüpft sein sollen, so halte ich doch die Herausgabe dieses meines Buches nicht für überflüssig. Denn bis jetzt wenigstens fehlt es noch immer an einer zusammenhängenden Darstellung des Lebens und Wirkens Mendelssohn's für das grössere Publicum. Das sonst sehr gediegene Buch Reissmann's befasst sich mehr mit der Analyse und Characteristik der einzelnen Werke Mendelssohn's, die[10] vorzugsweise die Musiker von Fach interessiren dürfte, weniger mit den biographischen Einzelheiten. Ein grosses umfangreiches Werk nach Art der Biographieen Bach's, Händel's, Mozart's u.A. möchte aber doch vielleicht für die grosse Menge der Musikfreunde und speciell der Verehrer Mendelssohn's zu zeitraubend und kostspielig werden. Desshalb hoffte der Verfasser dieses Versuchs einer wirklichen Biographie M.'s nicht blos seinem eigenen Herzensbedürfniss, sondern auch dem Wunsche einer grossen Zahl namentlich jüngerer Musikfreunde zu entsprechen, und ihnen als einer der wenigen noch lebenden Zeitgenossen Mendelssohn's, als competenter Ohren- und Augenzeuge einen wesentlichen Dienst zu leisten. Ganz besonders aber hofft er durch das erhebende Beispiel eines als Mensch, Dirigent, Componist und Virtuos gleich ausgezeichneten Künstlers einen wohlthätigen Einfluss auf die studirende musikalische Jugend und hat sich deshalb erlaubt, dieses Buch der Lieblingsschöpfung Mendelssohn's, dem Conservatorium zu Leipzig, dem in seiner gegenwärtigen Blüthe in neuerer und neuester Zeit der Verfasser selbst so viele ausgezeichnete musikalische Genüsse verdankt, zu widmen.
So möge denn das Buch in seiner neuen vermehrten und verbesserten Gestalt hingehen, und wieder ebenso viele warme Freunde und nachsichtige Beurtheiler finden, als in seiner unvollkommenen vor mehr als einem Menschenalter. Allen wahren Jüngern der Kunst seinen wärmsten Gruss
der Verfasser
Dr. W.A. Lampadius.
Leipzig, im Januar 1886.
Ausgewählte Ausgaben von
Felix Mendelssohn-Bartholdy
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