[Biographie]

Groß, gewaltig, voll eherner Kraft, ragt aus dem achtzehnten Jahrhundert, das uns die höchste Blüte der Tonkunst gebar, die Gestalt Johann Sebastian Bach's hervor. Wie eine Wundererscheinung staunen wir ihn, den Begründer und Vater der deutschen Tonkunst, wie ihn Marx genannt, den größten Harmoniker und Contrapunktisten, Orgelspieler und Kirchencomponisten, den die Welt je gesehen, noch heute an. Die schlichten Gebilde des Volksgeistes: Volkslied und Choral dienen ihm zum Fundament seiner Riesenbauten, und was er singt und mit souveräner Meisterschaft gestaltet, legt er am Altar des Höchsten nieder. Ihm erklingen seine Preis-, seine Dank-und Bittgesänge, wie die Menschheit keine erhabeneren kennt. Seine Weise ist ernst, oft hart und herbe; sie weiß nichts von schmeichelndem Klangreiz und sinnlichem Zauber – wol aber von ethischer, sittigender Kraft. Gefühlsüberschwang, Empfindsamkeit sind ihr fern; sie ist eine durchaus gesunde Kost, wie das tägliche Brod, dessen wir nie überdrüssig werden. Sie ist, wie die alten Griechen es forderten, ein bildender Factor an der Erziehung des inwendigen Menschen. Diese Musik buhlt nicht um die Gunst der Menge. Was wäre die auch dem Genius gewesen, der[59] einsam droben stand auf höchsten Höhen seiner Kunst, von Keinem übertroffen, von Vielen bewundert, aber von Wenigen verstanden! Der Welt und ihrem Treiben abgewandt, nur ab und zu mit ihr vorübergehend in Berührung gebracht, ganz nur nach Innen gekehrt, schuf er voll Naivetät und Tiefsinns, voll Einfalt und Gelehrsamkeit nur sich selbst zur Genüge, was der Geist ihm eingab, unbekümmert darum, ob man draußen seiner achtete, oder ob die Schätze seines unvergleichlichen Wissens und Könnens, von denen Jahrhunderte noch zu zehren vermochten, verborgen und vergraben blieben. Ihm war es genug, wenn sie die Gemeinde, für die er sie schrieb, erbauten und erhoben; nach dem lauten Ruhm der Mit- und Nachwelt fragte der stolze Meister nicht, der seine höchste Ehre darin erblickte, Höchstes zu leisten und seine Kunst in den Dienst des Herrn zu stellen.

In dieser seiner tiefen Innerlichkeit, seiner allem äußeren Glanz abholden Wesenheit hat man ihn als den musikalischen Vertreter des Lutherthums, des Protestantismus bezeichnet; während man wiederum seine Tonschöpfungen in ihrem kühnen, himmelanstrebenden Bau, ihrer reichen, vielverschnörkelten Ornamentik den aus gleicher Gottbegeisterung erwachsenen gothischen Dombauten verglich. Wie unsere Zeit diese letzteren zu erhalten und vor zeitlichem Verfall zu schützen strebt, wie sie selbst unvollendet Gebliebenes zu ergänzen und zu herrlicher Vollendung zu bringen sich müht, so hat sie sich's auch vorzugsweise zur Aufgabe gestellt, die Thaten Bach's wieder lebendig werden zu lassen für das Genießen der Gegenwart. Was lange in Schlummers Banden lag, wird nun auferweckt und feiert eine glorreiche Auferstehung, nicht nur zur Erbauung einer kleinen Kunstgemeinde, sondern zum Frommen und Segen der Kunst selber, die sich verjüngt, wenn sie sich mit Ewigem berührt.[60]

Einem alten Musikergeschlecht, das seit hundert Jahren schon die Städte Thüringens mit Organisten und Cantoren, Hof- und Stadtmusicis versorgte und von Generation zu Generation Künstler von steigender Bedeutsamkeit hervorbrachte, entstammte Johann Sebastian Bach, der ruhmreichste Repräsentant des musikalischen Namens, dessen vier Lettern sich durch Notenschrift bezeichnen lassen. Der Zweig der Familie, der ihn als stolzeste Blüte zeitigte, hatte in Wechmar bei Gotha seine Heimat. Als ältesten der bisher ermittelten directen Vorfahren Sebastian's lernen wir daselbst durch Spitta – Bach's neuesten und eingehendsten Biographen, dessen Angaben wir im Wesentlichen folgen1 – den um die Mitte des 16. Jahrhunderts lebenden Hans Bach kennen. Dessen Sohn Veit bezeichnete Sebastian selbst, der auf sein altkünstlerisches Herkommen Werth legte, als den Ahnherrn seiner Familie. Bäcker und Maler seines Zeichens, wanderte er nach Ungarn aus, kehrte aber, als Lutheraner dort angefeindet, in seine thüringische Heimat zurück, als deren echter Sohn er neben dem Betriebe seines Handwerks die Musik liebte und übte. Was aber bei ihm nur Nebenbeschäftigung – wiewol nach des großen Bach Worten »gleichsam der Anfang zur Musik bei seinen Nachkommen« – war, ward schon bei seinem jüngeren Bruder, wie bei seinem eigenen Sohn Hans, zur Profession. Der Letztere, ein lustiger Spielmann, den ein Kupferstich in Philipp Emanuel Bach's Besitze mit Narrenkappe und Schellen abgebildet zeigte, ward unseres Sebastian's Urgroßvater. Flott auf der Fiedel, den Kopf voller Späße, war er, der dem Pestjahr 1626 zur Beute verfiel, eine volksthümliche Persönlichkeit. Von seinen Söhnen, deren drei er Hans,[61] deren zwei er Heinrich taufte, wurde Christoph der Großvater Sebastian's. Er repräsentirt sammt den Seinen ausschließlich das zünftige, weltliche, sogenannte Kunstpfeiferthum, während seine Brüder und deren Nachkommen als Orgelspieler und Componisten die bevorzugtere Stellung im Dienste der Kirche einnahmen oder auch beiden Anforderungen gerecht zu werden wußten. Inmitten der nach dem Jammer des langen Krieges auch unter seinen Berufsgenossen eingerissenen sittlichen Verwilderung strebten er und die Musiker seines Geschlechtes darnach, die Würde der Kunst und ihres Standes hoch zu halten. Schlichte Frömmigkeit und Ehrbarkeit der Sitte waren von Alters her bei ihnen heimisch. In selbstloser Bescheidenheit dienten sie ihrer Kunst und hielten an der Heimat fest, in deren Natureinsamkeit und Stille sich ihr Sinn vertiefte und verinnerlichte. Ein ihnen Allen eigenes lebhaftes Gemeinsamkeitsgefühl veranlaßte die männlichen Glieder der Familie zu alljährlichen Zusammenkünften in Arnstadt, Eisenach oder Erfurt, den Hauptsammelpunkten der Musiker ihres Stammes. War doch beispielsweise ein Zweig desselben an letztgenanntem Ort ein volles Jahrhundert hindurch so ausschließlich im Besitz der dortigen Stadtpfeiferstellen, daß man auch später, nachdem dieselben längst in andere Hände übergegangen waren, die Stadtmusikanten noch immer »die Bache« nannte.

Auch Sebastian's Vater, Johann Ambrosius, und dessen Zwillingsbruder, Johann Christoph, mit dem ihn eine so verwunderliche äußere und innere Aehnlichkeit verband, daß selbst ihre Frauen sie nur durch die Kleidung von einander unterscheiden konnten, traten als Kunstpfeifer das musikalische väterliche Erbtheil an. Dem Ersteren wurde, als Stadtmusikus zu Eisenach, in seiner Ehe mit Elisabeth Lämmerhirt aus Erfurt, unter sechs[62] Söhnen und zwei Töchtern als jüngstes Kind Johann Sebastian geboren. Er trat am 21. März 1685 in's Leben. Durch das Geigenspiel des Vaters, der ihm ohne Zweifel die erste Anweisung in seiner Kunst ertheilte, empfing er seine ersten musikalischen Eindrücke. Weitere Anregung seiner künstlerischen Begabung durfte er seines Vaters Vetter, Johann Christoph, dem hervorragendsten seiner Vorfahren, der als Stadtorganist zu Eisenach's Ruhme wirkte, wie dem daselbst blühenden Currentchor danken, an dessen Umzügen sich der mit einer hübschen Sopranstimme Begabte vermuthlich, wie 200 Jahre früher Martin Luther, frühzeitig betheiligte. Als der zehnjährige Knabe Mutter und Vater in schneller Aufeinanderfolge verloren hatte, nahm ein älterer Bruder, der ebenfalls den in der Familie beliebten Namen Johann Christoph führte, den Verwaisten in sein Haus. Zu ihm, der als Organist in Ohrdruf seines Amtes waltete, siedelte er über. Für seine allgemeine Ausbildung sorgte nun das dortige Lyceum, für seine musikalische der Bruder, der seine eigene Lehrzeit unter Obhut des dem Vater befreundeten, berühmten Orgelmeisters Pachelbel in Erfurt bestanden hatte. So wurde Sebastian durch ihn in aller Frühe mit der Kunstweise des Letzteren bekannt. Doch scheint es, daß Johann Christoph sich seinem Pflegebefohlenen gegenüber nicht sonderlich mittheilsam erwies. Die Musikstücke, die er ihm vorlegte, hatte der Letztere baldigst durchstudirt. Eine Sammlung, die er sich von Werken der damaligen angesehensten Componisten: Froberger, Pachelbel, Buxtehude u. A. angelegt hatte, aber enthielt er ihm trotz seiner Bitten beharrlich vor. So trachtete der musikeifrige Sebastian denn darnach, sich den verbotenen Schatz heimlich anzueignen. In nächtlicher Stille, wenn Alles schlief, schlich er sich zu dem ihn bergenden Schranke und zog aus dem Gitterwerk[63] desselben mit seinen kleinen Händen das sorglich zusammengerollte Heft heraus. In Ermangelung eines Lichtes mußte ihm der Mond zur Leuchte dienen, um sich den kostbaren Inhalt durch Abschrift zu eigen zu machen. Sechs volle Monate bedurfte er zu der mühseligen Arbeit, und als sie endlich glücklich beendet war, ertappte ihn der Bruder über dem schwer erworbenen Besitze und entriß ihm denselben unerbittlich.

Fünfzehn Jahre zählte Sebastian, da ward es ihm in Ohrdruf und im Hause des Bruders, dessen Familie sich mehrte, zu eng; er glaubte schon der eigenen Kraft vertrauen zu dürfen und wanderte mit einem Freund, Georg Erdmann, gemeinsam nach Lüneburg, wo er auf Empfehlung seines Cantors, dem er sich durch seine tüchtigen Leistungen lieb gemacht hatte, im dasigen Michaeliskloster Aufnahme fand. Durch zwei Bache war dort der Name bereits musikalisch bekannt geworden; auch waren die thüringischen Knaben ohnehin ihrer musikalischen Fertigkeit wegen gut berufen; genug, Sebastian und sein Ohrdrufer Genosse traten im April 1700 in die auserlesene Schar der Mettenschüler ein und wurden zugleich mit dem zweithöchsten Gehaltsatze der Discantisten bedacht. Seine äußere Existenz war gesichert, und auch als er bald darauf seinen schönen Sopran verlor, half ihm seine Verwendbarkeit als Clavier- und Orgelspieler wie als Violinist weiter. Die rege Betheiligung des Klosterchors an der Kirchenmusik, die Reichthümer der musikalischen Bibliothek boten Sebastian hinreichende Gelegenheit, auf dem Gebiet kirchlicher Vocalmusik Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln. Aber auch auf seinem eigensten Feld, der Instrumentalmusik, von der aus sein Genius seinen Aufschwung nahm, brauchte er nach Anregung und Nahrung nicht weit zu suchen. Eines eigentlichen Lehrers in der musikalischen Composition und Technik bedurfte[64] er bereits nicht mehr. »Durch das Betrachten der Werke der damaligen berühmten und gründlichen Componisten und angewandtes eigenes Nachsinnen nur« – so belehren uns seine ersten Biographen, sein Sohn Philipp Emanuel und sein Schüler Agricola2 – erlernte er die Composition und vermochte, von den Traditionen seines Geschlechts geleitet, seine eigenen Wege und Ziele zu finden. Von den verschiedenen Persönlichkeiten und Kunstrichtungen nahm er mit dem Instincte des Genies und voll rastlosen Strebens auf, was seiner Entwickelung förderlich war; was ihm Bedeutendes begegnete, verschmolz er mit dem eigenen Wesen.

In Lüneburg gewann Georg Böhm, der geistvolle Organist der Johanniskirche, erkennbaren Einfluß auf ihn. Ein Thüringer Kind wie Bach, trachtete er im Einklange mit dessen späteren Bestrebungen, das von den heimischen Orgelspielern Erlernte mit der damaligen norddeutschen Orgelkunst, welche technische Gewandtheit, geistreiche Anmuth, eigenthümliche Harmonik und seine Klangwirkung charakterisirten, zu verbinden. Aber auch mit den Hauptvertretern der letzteren drängte es Sebastian, der an der Quelle zu schöpfen liebte, sich bekannt zu machen, und so trugen ihn seine Füße wiederholt nach Hamburg, um die berühmten Orgelvirtuosen Reinken und Lübeck daselbst zu hören. Zu anderen Malen pilgerte er wiederum nach dem nahen Celle, wo die nach französischem Muster eingerichtete Capelle des letzten Herzogs ihm Gelegenheit bot, praktische Orchesterstudien zu machen und sich mit der instrumentalen Tanz- und der Claviermusik der Franzosen, die an Formengrazie und Ausdruckslebendigkeit[65] der deutschen Kunst voraus war, des Näheren zu befreunden.

Im Jahre 1703 hatte er die Klosterschule absolvirt. Seine wissenschaftliche Bildung, wie andere Musiker und manche seiner Vettern, auf der Universität zu erweitern, was seinem hochstrebenden Geiste wol angemessen schien, fehlten ihm leider die Mittel. Arm, schon im frühen Jünglingsalter ganz auf sich selbst gestellt, mußte er mit dem erworbenen Wissen wuchern und schnell in Amt und Brod zu kommen suchen. In Weimar, nahe seiner thüringischen Vaterstadt, eröffnete sich ihm, was er begehrte. In der Privatcapelle des Prinzen Johann Ernst, des Bruders des regierenden Herzogs, erhielt er eine Stelle als Hofmusikus. Wurden hier auch lediglich seine Dienste als Violinist in Anspruch genommen, während seine Neigung sich bereits jetzt seinem eigensten Gebiet, dem Orgel- und Clavierspiel, zugewandt hatte, durch die Bekanntschaft mit einer bunten Fülle von Instrumentalmusik, und namentlich der am Hofe beliebten italienischen, erwuchs ihm dabei doch genügender Vortheil. Wenige Monate später aber gerieth er in sein eigentliches Fahrwasser: er vertauschte die Weimarer Stellung mit der eines Organisten in Arnstadt, der damaligen Residenz schwarzburgischer Grafen und einer der alten Sammelpunkte seines Geschlechts. Das Spiel des achtzehnjährigen Künstlers auf dem neuen Orgelwerk der Neuen Kirche hatte dem Consistorium dergestalt imponirt, daß man sich zu besonderen Anstrengungen aufgefordert fühlte und ihm den verhältnißmäßig ansehnlichen Jahresgehalt von 73 Thalern 18 Groschen zugestand. Seine gottesdienstlichen Verpflichtungen waren ebensowenig, als die ihm übertragene musikalische Unterweisung eines kleinen Schülerchors zeitraubend; für das eigene Studium und Schaffen blieb ihm willkommene Muße. Konnten auch die ihn umgebenden[66] musikalischen Verhältnisse keinerlei bestimmenden Einfluß auf ihn ausüben, denn weder fand er in seiner Sphäre einen ihm überlegenen oder doch ebenbürtigen Künstler vor, noch trat er auch zu dem unter darstellerischer Betheiligung der Bürgerschaft am gräflichen Hofe gepflegten Sing- und Schauspiel in irgend welche Beziehung: die in Arnstadt verbrachten Jahre reisten gleichwol – vielleicht gerade Dank der ihn umgebenden Stille und Zurückgezogenheit – seine Meisterschaft. Ueber den vollen Umfang seiner schöpferischen Thätigkeit zwar verblieb uns aus keiner Periode seines Lebens und somit auch nicht aus dieser ein genauer Nachweis; doch lassen sich mit ähnlichem Recht wie eine Clavierfuge inE-moll und drei kleine Orgelfugen, welche die Vorbilder seines Oheims Johann Christoph und Pachelbel's verrathen, auf den Ohrdrufer, oder einige den Einfluß Böhm's bekundende Choral-Partiten auf den Lüneburger Aufenthalt, verschiedene Vocal- und Instrumental-Arbeiten auf die Arnstädter Zeit zurückführen. Der Beschäftigung Bach's mit dem Sängerchor dankt muthmaßlich die Ostercantate »Denn Du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen«, oder vielmehr die zwei Cantaten, aus denen dieselbe wol zu ihrer späteren in der Ausgabe der Bach-Gesellschaft vorliegenden Gestalt zusammengestellt wurde, ihre Entstehung. Wenn dieselben den Anschluß des Componisten an die norddeutschen Meister erkennen lassen, so weist ein der gleichen Zeit entstammendes »Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo« (Capriccio über die Abreise seines theuern Bruders) auf ein anderes Muster hin. Die programmatischen Claviersonaten Kuhnau's, des Schöpfers der Claviersonate und seines gelehrten Vorgängers im Leipziger Thomas-Cantorat, waren ihm vorbildlich, als er ein äußeres Erlebniß: den Abschied von seinem älteren Bruder Johann Jacob, der[67] als Hautboist in Carl XII. schwedische Garde trat, zu künstlerischer Form gestaltete. Naiv genug erklingt hier die »Schmeichelung« der Freunde, die den Abreisenden zurückzuhalten strebt und ihm die Vorstellung möglicher Unglücksfälle vorspiegelt; sodann ihr »Lamento« und am Ende das Lied des ihn davonführenden Postillons, das eine Fuge über die Posthornfanfare abschließt. Eine Sonate (D-dur), deren Schlußsatz-Thema, wie ausdrücklich bemerkt, das »Gackern der Henne« nachahmen soll, entsprang offenbar der gleichen Anregung. Darauf aber auch beschränkten sich, wie es scheint, ein für allemal Bach's Excursionen auf das Gebiet der Programmmusik, wenn er auch einer gewissen poetisirenden Richtung, zumal in seinen Choralbearbeitungen, dauernd huldigte und selbst die Hinneigung zu einem tonmalerischen Element in sei nem Schaffen nicht verschmähte. (Man erinnere sich nur beispielsweise der Nachahmung des Glockengeläutes in der Trauerarie »Schlage doch, gewünschte Stunde«, oder der eigenen rhythmischen Figur bei »Du schlägest sie« im Anfangschor der Cantate »Herr, Deine Augen!«)

Ein anderes Capriccio, das er seinem Ohrdrufer Bruder Johann Christoph zu Ehren schrieb, wie ein Präludium mit Fuge in C-moll und eine weitere in gleicher Tonart stehende Fuge zeigen die freiere Behandlung der Fugenform, wie sie vor Bach üblich war. Ihm selber erst war es vorbehalten, die strengen polyphonen Formen zu höchster Vollkommenheit zu entwickeln und unter seine Botmäßigkeit zu zwingen, wie über das gesammte Tonmaterial, das seine Zeit ihm darbot, mit absoluter Herrschaft zu schalten. Mit seinem wunderbaren formalen Genie sich in die verschiedensten Stile einlebend und an ihnen zur Selbständigkeit heranbildend, sehen wir ihn zunächst in den Bahnen Pachelbel's weiter schreiten, dessen[68] Einfluß ganz Thüringen und Sachsen durchdrang und dessen Weise der Choralbearbeitung insbesondere für Bach bedeutsam wurde.

Gleichzeitig hielt er sein Augenmerk unausgesetzt auf die Vervollkommnung seines Clavier- und Orgelspiels gerichtet. Ganz nur seinen künstlerischen Zielen zugewandt, sah er für's Erste seine Orgelkunst als Hauptsache, ihre Verwendung für den Gottesdienst als Nebensache an. In kühner, ausschweifender Weise colorirte er selbst während des Singens der Gemeinde die Melodie, oder gab ihr eine so ungewöhnliche Harmonisirung, daß die Gemeinde, so erzählt man, oftmals vergaß, in den Gesang einzustimmen. Das amtliche Protokoll hebt hervor, »daß er bisher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thöne mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundiret worden«. Dies und sein eigenmächtiges Einstellen der Uebungen des von ihm zu leitenden Sängerchors, mit dem er sich bei seinem aufbrausenden, dem Lehren wenig günstigen Temperament überworfen hatte, zog ihm eine Rüge seitens seiner Behörde zu. Dazu kam noch eine Amtsüberschreitung anderer Art.

Um »ein und anderes in seiner Kunst zu begreifen«, und zwar um sich bei dem Dänen Buxtehude in Lübeck, dem genialsten Vertreter der nordischen Schule und einem der größten Orgelvirtuosen seiner Zeit, neuen künstlerischen Nahrungsstoff zu holen, erbat sich Bach während der letzten Monate des Jahres 1705 einen vierwöchentlichen Urlaub. Der rauhen Jahreszeit zum Trotz, ließ er es sich nicht verdrießen, den fünfzig Meilen langen Weg zu Fuße zurückzulegen. Die originale hohe Kunst des Meisters – dessen virtuose Orgeltechnik selbst Bach keine wesentlich neuen Bahnen offen, sondern ihn nur das Ueberkommene zur Vollendung bringen ließ –, desgleichen[69] die unter dem Namen »Abendmusiken« von ihm geleiteten berühmten Choraufführungen in der Marienkirche nahmen ihn derart in Bann, daß er die Heimkehr darüber vergaß. Die sich ihm eröffnende Gelegenheit, sich die glänzende Stellung des bejahrten Buxtehude als dessen Nachfolger zu sichern, zwar versäumte er zu nützen, obgleich er – der, die nordische glanzvollere Stilart der mitteldeutschen verschmelzend, den Schwerpunkt deutscher Orgelkunst nun nach Mitteldeutschland verlegte – zum natürlichen Erben Jenes bestimmt schien. Er zog es vor, in seiner Stille und Einsamkeit weiter zu schaffen. Doch erst nachdem er den erbetenen Urlaub um das Vierfache überschritten hatte, sah ihn Arnstadt wieder. Eine ihm von seinen Vorgesetzten in milder Form zugehende Zurechtweisung hatte die Folge, daß der empfindliche Meister sich nach einem anderen Unterkommen umsah. Er durfte nicht lange darnach suchen. Eine Spielprobe genügte, um ihm im Juni 1707 die Berufung als Organist an die Blasiuskirche der freien Reichsstadt Mühlhausen einzutragen. Die Letztere stand, Dank dem daher gebürtigen berühmten Johannes Eccard und anderen trefflichen Tonsetzern, von Alters her musikalisch in gutem Ansehen, und das Organistenamt zu St. Blasius galt als ein Ehrenamt. Auch war es Bach nicht um eine Erhöhung seiner Besoldung zu thun – er beschied sich mit dem gleichen Gehalt, den er in Arnstadt empfangen hatte, ob er nun auch die Sorge für einen eigenen Haushalt auf sich nahm. Der Sinn für ein eng umfriedetes häusliches Leben, der in seinem ganzen Geschlecht lebendig war, erwies sich auch in dem 22jährigen Sebastian bereits mächtig, und aus seinem nächsten Verwandtenkreis heraus wählte er sich sein Weib. Mit Maria Barbara Bach, der jüngsten Tochter seines Onkels Michael aus Gehren (des mehrerwähnten Eisenacher Johann Christoph Bruder), trat[70] er in Dornheim bei Arnstadt am 17. October 1707 in einen Ehebund ein, der dreizehn glückliche Jahre währte und ihm zwei Töchter und fünf Söhne – unter diesen die bedeutenden Musiker Friedemann und Philipp Emanuel – schenkte. Zur vollen Höhe der Zeit hatte er sich mittlerweile als ausübender und schaffender Künstler emporgearbeitet. Der von allen Seiten aufgenommene Bildungsstoff und die erworbene Herrschaft über die Technik befähigten ihn, nun neue, eigene Wege zu gehen. Bezeugt auch seine zum Rathswechsel in Mühlhausen (1708) geschriebene Cantate »Gott ist mein König«, gleich verschiedenen noch in die letzte Arnstädter Periode fallenden Orgelcompositionen, zuvörderst noch die mächtige Einwirkung Buxtehude's, die ja in formeller Beziehung eine dauernde bei Bach blieb, so gelangt die eigene Individualität doch fortan immer entschiedener zum Ausdruck. Das hohe Bewußtsein der in ihm thätigen überlegenen Kraft mag ihn dabei getragen haben. In einem Schreiben an den Rath3 bezeichnet er es wenigstens ausdrücklich als den Endzweck seines Strebens, die gesammte kirchliche Kunst auf eine höhere Stufe zu erheben. So sicheren Blickes erkannte der noch junge Meister den ihm vorgezeichneten Beruf und die zu erstrebenden Ziele!

Diesen letzteren auch in seinem derzeitigen Wirkungskreise näher zu kommen, that Bach redlich das Seine. Seinen Bemühungen erwuchs jedoch in Person seines Superintendenten Frohne ein ihm lästiges Hinderniß. Als Anhänger des Spener'schen Pietismus wollte Jener von einem selbständigeren Hervortreten der Musik im protestantischen Cultus nichts wissen. Was war natürlicher,[71] als daß der Widerspruch zu seiner Kunstanschauung und seinem eigensten Lebenszweck den Künstler, trotz einer gewissen, schon in dem mystischen, transcendentalen Zug seines Wesens begründeten Hinneigung zum Pietismus, auf die Seite von Frohne's Gegner Eilmar trieb? Wiesen ihn Erziehung und religiöse Traditionen seines Geschlechtes doch ohnehin in die Reihen der Orthodoxen, wiewol er keineswegs zu ihren fanatischen Parteigängern zählte.

Seine Thätigkeit in Mühlhausen war ihm hierdurch verleidet. Da ward die Stelle eines Hoforganisten in Weimar erledigt. Bach kam, spielte und siegte. Der Herzog berief ihn sofort und ernannte ihn zugleich zum Kammermusikus. Ungern aber sah man ihn aus seinem bisherigen Amte ziehen und ertheilte ihm gegen Ende Juni 1708 die geforderte Entlassung nur mit dem Vorbehalt, daß er die nach seinen sachkundigen Angaben begonnene Reparatur der Orgel auch weiterhin unter seiner Leitung behalte. Er selbst soll Mühlhausen immer in gutem Andenken behalten haben.

In auserlesen günstige Verhältnisse trat er in Weimar ein. Herzog Wilhelm Ernst war eine ernste, tief angelegte, dem Religiösen und Kirchlichen vorzugsweise zugewandte Natur. Für Wissenschaft und Kunst interessirt, zeigte er, ein Gegner des Pietismus, sich namentlich Bestrebungen auf dem Gebiete kirchlicher Musik geneigt, recht im Gegensatz zu den meisten Fürstenhöfen seiner Zeit, deren musikalisches Interesse nicht über die Oper hinausging. So fühlte sich Sebastian, von der Gunst seines Herzogs und dem Antheil seiner Umgebung gehoben, ganz in seinem Elemente. Hier stieg er zu seiner vollen Größe als Orgelvirtuos und -Componist empor. Weitaus die Mehrzahl seiner Orgelschöpfungen entstammt der Zeit seines Weimarer Aufenthaltes. Wie keinem Andern aber gehorchten ihm die Orgelgeister, und gerade[72] die Orgel wurde der Ausgangspunkt seiner Entwickelung, der Keim, aus dem zum größten Theile seine Tongestalten großwuchsen.

Der Orgelmusik des siebzehnten Jahrhunderts lag vielfältig der Choral als musikalisches Motiv zu Grunde, ja in Mitteldeutschland concentrirte sich auf ihn nahezu das gesammte Streben. In der Art und Weise der Choralbearbeitung aber gingen die Richtungen auseinander. Wo man über den blos praktischen Zweck eines auf den Gesang der Gemeinde vorbereitenden kurzen Vorspiels hinausging und den Choral als selbständig abgeschlossenes Tonstück auffaßte, arbeitete man ihn entweder Zeile für Zeile motettenartig durch, dem Stimmungsgehalt der Worte nur im Allgemeinen Rechnung tragend, oder man ging vielmehr seinem ihm textlich innewohnenden poetischen Sinne im Einzelnen nach und gab den Figurationen zugleich eine ideelle Bedeutung, indem man den Inhalt der Choralstrophe durch die die Melodie umspielenden Gegenstimmen näher auszudeuten trachtete. Die reicher figurirte, mehr virtuose Behandlungsweise erscheint durch die Meister der nordischen Schule: Reinken, Bruhns, Buxtehude vorzugsweise repräsentirt. Als Hauptvertreter der andern poetisirenden Richtung stellt sich der Nürnberger Pachelbel dar, der die süddeutschen und italienischen Elemente, an denen er sich herangebildet hatte, nach Thüringen trug, wo Bach, obwol er nie in directe Beziehung zu ihm trat, die von ihm ausgeprägten, allerwärts vorgefundenen Formen unwillkürlich aufnahm. Er, dem wir mehr als hundert solcher Choralbearbeitungen größeren und kleineren Umfangs danken (es sei hier nur an die bekannteren »O Mensch, bewein' dein' Sünde groß«, »An Wasserflüssen Babylons«, an »Wachet auf«, »Aus tiefer Noth«, oder an das ›unschätzbare seelentiefste‹ »Schmücke dich,[73] o liebe Seele«, wie Robert Schumann es begeistert nennt, erinnert!), ist, indem er seinen Vorgänger an Tiefsinn der poetischen Auslegung überholt und dem »Affect der Worte« folgt, der Vollender des Pachelbel'schen Ideals, wie des Orgelchorals überhaupt, geworden. Was er uns in ihm hinterlassen, sind poetisch-musikalische Kunstwerke von unglaublichem Reichthum der Erfindung und Auffassungsgröße. Sie vergegenwärtigen gleichzeitig die Kunstsphäre, in der Bach's Genius zuerst seine Reise bethätigte und seine volle Originalität zum Ausdruck brachte.

Aller Formen der Orgelmusik bemächtigte er sich allmälig mit gewaltiger Hand, mochten sie dem strengen Stil der Fuge, oder dem ungebundeneren des Präludiums, der Toccata, Ciaconna oder Passacaglia angehören. Aber selbst diesen Letzteren, sogar der Phantasie, in der sich sonst die Einbildungskraft fessellos zu ergehen pflegt, gab er ein festes künstliches Gefüge; allenthalben erscheint er als endgültiger Beschließer der Form. Man vergegenwärtige sich beispielsweise das berühmte, die grandiose G-moll-Fuge einleitende Präludium, durch deren Pianoforte-Uebertragung mit mehreren anderen ihres Gleichen Liszt den Clavierspielern ein kostbares Geschenk gemacht! Nicht minder die großen Präludien und Fugen in A-moll, E-moll, C-moll, die mit Vorliebe gespielten Toccaten in D-moll und F-dur und die imposante Passacaglia! (Er schrieb nur ein Werk dieser Art, darin er die Form von Passacaglia und Ciaconna, die sich beide über einem kurzen, immer wiederholten Baßthema aufbauen, vereinigt und mit einer Fuge endet.) Sie alle stehen wie Schlußsteine ihrer Gattung da.

Die Gesetze der Fuge, wie wir sie heute kennen, traten erst durch ihn in Kraft. Er erst brachte in die aus Nachahmung des fugirten Vocalstils hervorgegangenen,[74] noch ziemlich frei gestalteten Bildungen Zucht und Einheit, die ernste zügelnde Strenge, die das Kennzeichen seiner Kunst ist. Das complicirte Gewebe der Fuge, das wie kein anderes dem Wesen der Orgel entspricht und sie in ihrer ganzen Macht und Größe zeigt, wie planvoll und klar gestaltet es sich unter seiner Hand! Streng und doch frei, kunstreich und doch nicht gekünstelt, formvollendet und doch nie einem starren Formalismus verfallend, alle innerlich belebt, eine unermeßliche Erfindungskraft bezeugend, stellen sich seine Fugen als Meistergebilde eines Riesengeistes dar, dessen Formgenie und contrapunktische Herrschaft nicht wieder ihres Gleichen fand. »Am herrlichsten, am kühnsten, in seinem Urelemente erscheint er nun ein für allemal an seiner Orgel. Hier kennt er weder Maß noch Ziel und arbeitet auf Jahrhunderte hinaus«, sagt Robert Schumann von ihm. Mit Bach, das ist gewiß, hat der Orgelstil nicht nur seine höchste Glanz- und Blütezeit, sondern auch zugleich seinen Abschluß erreicht. Ohne Nachfolger blieb der Gewaltige.

Es war, wie erwähnt, nicht ausschließlich seine Stellung als Hoforganist, der der Meister in Weimar oblag, auch als Kammermusikus wurden seine Dienste gefordert und zwar vorzugsweise im Interesse des für Musik ebenso begabten als begeisterten herzoglichen Neffen, Prinz Johann Ernst. Für Bach ergab diese Wirksamkeit den Vortheil, daß er der dazumal in voller Blüte stehenden und am Hofe mit Vorliebe gepflegten Kammermusik der Italiener näher trat – wichtig genug für ihn, den es das ganze Reich der instrumentalen Kunst zu durchmessen und sich auf ihm zu bethätigen drängte. Und es fehlt nicht an Zeugnissen, wie er auch hier wiederum die ihm sein Leben lang zu eigen bleibende Gabe bewährte, jedwede Stilart anzunehmen, ohne auf die persönliche Eigenthümlichkeit zu verzichten. Von den durch die Italiener[75] geschaffenen Formen der Sonate und des Concertes zwar ergriff er auf deren eigentlichem Gebiete nicht alsogleich Besitz; für's Erste begnügte er sich damit, die neue Errungenschaft auf seinem Feld: der Orgel und dem Clavier, zu verwerthen. Die Uebertragung von sechzehn Violinconcerten Vivaldi's für Clavier und drei für Orgel, mehrere Orgelfugen, deren Themen er den Violinsonaten Corelli's und Albinoni's entnahm, ein Clavier-Variationenwerk alla maniera italiana, wie eine im Stil Frescobaldi's gearbeitete Orgel-Canzone und einiges Andere beweisen, daß er, dessen Augen Italiens Himmel niemals schauen sollten, die großen Meister dieses Landes besser kannte als die Mehrzahl derer, die sie an Ort und Stelle studiren durften. So flossen deutsche und niederländische, französische und italienische Einflüsse zusammen, um seine Individualität zu befruchten und ihr zur vollen Entfaltung ihrer gigantischen Größe zu verhelfen.

Umfassender noch gestaltete sich Bach's Thätigkeit, als er im Jahre 1714 zum Concertmeister aufrückte und ihm bei zunehmendem Alter und Dienstuntüchtigkeit des Capellmeister Drese nicht allein die wie es scheint ausschließliche Leitung der Kammer-, sondern auch wesentlich die der Kirchenmusik anheimfiel. Hatte er vordem schon Mancherlei im kirchlichen Vocalstil geschaffen, so erwuchs ihm nun die Verpflichtung zur regelmäßigen Composition von Kirchencantaten. Hiermit aber eröffnete sich ihm ein Gebiet, auf dem sich die schöpferische Kraft seines Genius in einem neuen Lichte zeigen sollte. Gehören auch seine dauernde Beschäftigung und seine größten Thaten in dieser Richtung einer späteren Zeit und einem anderen Wirkungskreise an, so entkeimte doch schon dem Weimarer Boden sehr Bedeutsames, darunter zwei der bekanntesten und eingänglichsten Cantaten: der[76] sogenannte Actus tragicus »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« – eine Art protestantischen Requiems, wie Ambros ihn nennt – und »Ich hatte viel Bekümmerniß«.

Die Cantate ist, wie fast alle musikalischen Formen, italienischen Ursprungs, erfuhr jedoch bei ihrer Uebertragung nach Deutschland und in die protestantische Kirche eine wesentliche Umwandlung, für welche Bibelwort und Kirchenlied bestimmend wurden. Die contrapunktische Kunst, die sich, als im evangelischen Cultus der Kunstgesang dem Gemeindegesang Platz machte, an die Orgel flüchtete und dort herrlichste Früchte zeitigte, fand in der Cantate wieder bereitwillige Aufnahme. Im Gegensatz zur polyphonen Kirchenmusik der Niederländer und Italiener, die im sechzehnten Jahrhundert unter Orlando Lasso und Palestrina ihre Blütentage sah, aber rief man hier die Instrumente zur Betheiligung herbei. Für den Einzelgesang gewann man ferner die aus der in Italien um 1600 erstandenen Oper herübergenommenen Formen von Recitativ und Arie als willkommene und abwechselungsvolle Ausdrucksmittel hinzu. Nicht ohne heftigen Widerstand allerdings vollzog sich die Einführung der Opernformen und gleichzeitig der freien religiösen Dichtung, welche vielfach an die Stelle des Bibeltextes trat, in die Kirche. Namentlich auf Grund von Neumeister's in den Jahren 1700–1716 veröffentlichten Cantatendichtungen entspann sich ein erbitterter literarischer Krieg, in dem als Gegner der Neuerung die kunstfeindlichen Pietisten in vorderster Reihe kämpften; doch hatten Erstere bald den Erfolg für sich.

Bach schlug sich zu keiner der streitenden Parteien; aber er stellte sich, indem er Neumeister'sche Texte zur Grundlage seiner Cantaten wählte, praktisch auf die Seite der Neuerer. Seinem künstlerischen Scharfblick konnte die Verwerthbarkeit der italienischen Opernformen und[77] ihre Berechtigung für seine Zeit nicht entgehen. Er verschmolz sie mit den Formen, wie sie sich mittlerweile in der Orgelkunst ausgebildet hatten. Ein Vergleich seiner Arien und Chöre mit seinen Toccaten, Präludien und Fugen zeigt dies anschaulich genug. Recitative, Arien, Duette, Chöre, Vocal-Fugensätze, einfach harmonisirte und von künstlichen Contrapunkten umspielte Choräle, concertirende Soloinstrumente und die als Halt und Bindeglied allenthalben eingreifende Orgel: alle Elemente seines Kunststils, den ganzen Apparat musikalischer Ausdrucksmittel verwandte er zum Ausbau von Schöpfungen, denen, mögen sie nun Cantaten oder Passionen, oder Messen heißen, als den unerreichten Meisterthaten echt protestantischen Geistes, eine ewige Bedeutung innewohnt.

In einem seiner geistreichen Aufsätze4 hebt Ambros die große innere Verwandtschaft Bach's mit der Musik der alten Niederländer des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts hervor, an die selbst einzelne eigenthümliche Züge erinnern: »wie wenn in der Cantate ›Ich hatte viel Bekümmerniß‹ sich der Chor ›Sei nun wieder zufrieden‹ contrapunktisch über einen Tenor aufbaut, welcher einen ganz anderen lehrhaften Text ›Was helfen uns die schweren Sorgen‹ (nach der Melodie ›Wer nur den lieben Gott läßt walten‹) singt«. Die alten Niederländer und die ihnen nachfolgenden Italiener der Palestrina-Zeit bauten ihre großen geistlichen Musiken über gegebene Motive des Ritualgesanges auf, welche letztere dann entweder in ihrer vollen Gestalt als »Tenor«, d.i. als Cantus firmus dienten, der mit den contrapunktirenden Gegenstimmen überbaut ward, oder aber in ihren einzelnen Motivgliedern fugenartig verarbeitet wurden. So ähnlich, wenn auch einer um 150 Jahre fortgeschritenen[78] Entwickelung gemäß, verfährt auch Bach. Statt wie Jene den gregorianischen Gesang aber, legt er seinen Cantaten den protestantischen Choral zu Grunde. Dieser, der ihm der Mittelpunkt des Ganzen ist, stellt das officiell Kirchliche, die Gemeinde vor; in den Arien und Chören ist der Betrachtung, der subjectiven Empfindung des Einzelnen Raum gegönnt. Zuweilen folgt der Componist seinem Choral Strophe für Strophe. Statt der Originalmelodie jedoch giebt er vielmehr einen musikalischen Commentar der einzelnen Strophen, dessen Themen er der behandelten Choralmelodie entnimmt. Diese Gestalt zeigt beispielsweise die der Anfangszeit seines Leipziger Wirkens entstammende Ostercantate »Christ lag in Todesbanden«. Erst mit der letzten Strophe tritt der unveränderte Choral »wie ein Riese« ein. In seiner letzten Lebensperiode neigte er sich mit Vorliebe einer Form zu, die den Choral – und zwar hier in breit ausgeführter Chorform, dort in schlichtem vierstimmigen Satz – an Anfang und Schluß der Cantate stellt.

Je nach ihrem textlichen Inhalt verschieden in ihrer Anordnung, erwies sich die von Bach schon in Weimar völlig ausgebildete Form von so wunderbarer Elasticität, daß er sich derselben während seiner ganzen Lebenszeit für eine Fülle von Werken zu bedienen vermochte. Mosewius zählt in seiner kleinen Schrift über Bach's Kirchencantaten und Choralgesänge5 226 Cantaten auf, eine Zahl, die durch Spitta's Angaben noch um 69 überstiegen wird. In Wahrheit ein Reichthum, der uns mit um so größerem Staunen erfüllt, je mehr nahezu jedes einzelne dieser Werke an tiefsinniger Erfassung des Textes wie musikalischer Ausgestaltung unsere nie ermüdende Bewunderung herausfordert![79]

Auch eine weltliche Cantate Bach's besitzen wir aus der Weimarer Zeit, die unter dem Titel »Diana, Endymion, Pan und Pales« zur Verherrlichung eines höfischen Festes helfen mußte. Von neuer Seite indeß zeigt sie den Meister nicht. Ihr Stil läßt keinen Unterschied von seinem kirchlichen gewahren, wie er denn auch zwei Arien aus derselben später in erweiterter Form in seiner Pfingstcantate »Also hat Gott die Welt geliebt« eine Stelle anweisen konnte. Die eine: »Mein gläubiges Herz, frohlocke, sing', scherze«, hat sich längst in die Herzen unserer Musikfreunde eingesungen.

So nach den verschiedensten Seiten hin schaffend und wirkend, verbrachte er in Weimar neun fruchtbare Jahre. Oeftere Kunstreisen nur unterbrachen ihre arbeitvolle Stille und das äußere Einerlei seines Lebens. Die Besichtigung neuer Orgelwerke führte ihn unter Anderem 1713 und 1714 nach Halle und Kassel. An beiden Orten erntete sein Orgelspiel höchsten Beifall; namentlich riß er durch ein mit fabelhafter Virtuosität ausgeführtes Pedalsolo den hessischen Erbprinzen zu äußerster Bewunderung hin. In Halle hätte man ihn gern festgehalten. Ihn selber lockte die Aussicht, seine Lieblingskunst endlich auf einem seiner Meisterschaft entsprechenden Instrumente betreiben zu können. Doch lehnte er, als man mit dem Verdacht geldsüchtiger Motive seinem berechtigten Stolz zu nahe trat, die Berufung in energischer und schneidiger Weise ab. Am ersten Adventsonntage 1714 führte er in Leipzig seine Cantate »Nun komm, der Heiden Heiland« auf und versah während des ganzen, ungemein ausgedehnten Gottesdienstes das Organistenamt.

Höchsten Ruhm trug ihm im Herbst 1717 eine Reise nach Dresden ein, wo Friedrich August I. eine Reihe trefflicher Künstler an seinem Hof versammelte. Auch der in Paris sehr gefeierte Clavier- und Orgelvirtuos[80] Marchand hielt sich, durch die Ungnade seines Königs zeitweilig vertrieben, zur Zeit daselbst auf und sollte mit einem bedeutenden Gehalt eben vom Hofe eine dauernde Anstellung erhalten. Der Streit, ob er oder Bach der Größere sei, gab die Veranlassung, daß Letzterer auf Andrängen seiner Freunde den Franzosen zu einem Wettkampfe aufforderte und sich, nachdem er ihn gehört hatte, erbot, jede ihm von Marchand gestellte Aufgabe aus dem Stegreif auszuführen, dafern dieser seinerseits das Gleiche verspreche. Marchand erklärte sich bereit. Stunde und Schauplatz des Turniers wurden unter Vorwissen des Königs festgesetzt, und pünktlich fand sich zugleich mit Bach eine glänzende und zahlreiche Gesellschaft, welche dabei Zeuge zu sein wünschte, ein. Nur Marchand erschien nicht. Als man aber, nachdem man ihn vergeblich erwartet, einen Boten nach ihm ausschickte, empfing man statt seiner die Nachricht, daß er schon in der Frühe des Tages mit Extrapost die Stadt verlassen habe. Um sich – da er sich wol von der Ueberlegenheit seines Gegners überzeugt hatte – eine unausbleibliche Demüthigung zu ersparen, hatte er vorgezogen, ihm kampflos das Feld zu überlassen. Und Bach wußte es zu behaupten. Er spielte nun allein, und groß war sein Sieg, dessen Kunde sich weit verbreitete und vielfältig auch als ein Triumph der deutschen Tonkunst über die französische aufgefaßt wurde. Mit ihm trat Bach in den Zenith seines Virtuosenruhms. Den Rang des größten Orgelspielers der Welt konnte man ihm hinfort bis auf den heutigen Tag nicht mehr streitig machen. Seine officielle Organistenthätigkeit schloß er gleichwol bald nach jenem Ereigniß für immer ab. Augenscheinlich verstimmt, daß man nach dem Tode des Capellmeister Drese dessen unbedeutenden Sohn ihm vorangestellt, kehrte er im November 1717 Weimar den Rücken, um als Capellmeister in die[81] Dienste des Fürsten Leopold von Anhalt-Cöthen zu treten.

Um Vieles enger umgrenzt war der Wirkungskreis, der ihm hier gesteckt war. Der Kirchendienst lag außerhalb seiner Befugnisse. Fast ausschließlich der Kammermusik, die unter persönlicher Betheiligung des Fürsten, mit Ausschluß der Oeffentlichkeit, im fürstlichen Schlosse ausgeübt wurde, galt seine Thätigkeit. Nichtsdestoweniger fühlte sich der Künstler in seinem Stillleben so wohl, in seinem Verhältniß zu dem jungen, sehr musikalischen Fürsten, dessen Freund und Vertrauter er bald wurde, so befriedigt, daß er seine Tage hier zu beschließen dachte. Nur die Reisen, die er zu künstlerischen Zwecken oder als Begleiter seines fürstlichen Herrn unternahm, der ihn auch fern seiner Residenz nicht missen wollte, erhielten ihn mit der Welt und dem öffentlichen Musikleben in Verbindung. So reiste er im Herbst 1718 nach Halle, um Händel, der von England herüber gekommen war, kennen zu lernen. Sein Versuch mißglückte jedoch, da der Gesuchte am selben Tage seine Vaterstadt verlassen hatte, ebenso wie ein zehn Jahre später wiederholter: er sollte seinen einzigen ebenbürtigen Zeitgenossen, dessen Werke er neidlos bewunderte und theilweise mit eigener Hand abschrieb, niemals von Angesicht zu Angesicht schauen.

Ein anderes Mal (es war im November 1720) finden wir Bach in Hamburg. Der Magistrat der Stadt und viele Vornehme sind in der Katharinenkirche versammelt, um sein Meisterspiel zu hören. Mehr denn zwei Stunden lang lauschen sie ihm andächtig, vornehmlich über eine Improvisation über »An Wasserflüssen Babylons«, welche Choralmelodie er motettenartig im Stil der nordischen Schule ausführt, des Staunens voll. Selbst der 97 jährige Reinken, der sonst nicht eben anerkennender Natur war, macht seiner Begeisterung mit[82] den Worten Luft: »Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebt.« War denn nicht auch seine Improvisationskunst von unerhörter Gewalt? Zeigte er sich nicht in der Fingertechnik wie im Pedalspiel und Registriren eigenthümlich und vollendet wie in jedem Zweige seiner Kunst? Und war nicht auch das mächtigste seiner Pedalstücke: die riesige G-moll-Fuge mit ihrem kühnen, phantastischen Präludium, eigens für die Hamburger Reise geschrieben worden, wie viele seiner virtuos gehaltenen Arbeiten im Hinblick auf ähnliche Zwecke entstanden? Es scheint, daß Bach in Hamburg die Sehnsucht überkam, sich seinem eigensten Gebiet wieder zuzuwenden, daß ihn der Gedanke, inmitten eines großen empfänglichen Publicums zu wirken, verführerisch dünkte. Wenigstens gab er seine Bereitwilligkeit kund, die offenstehende Organistenstelle zu St. Jacobi zu übernehmen. Trotz alledem zog man ihm einen Andern vor, der, wie Mattheson sagt, »besser mit Thalern als mit Fingern präludiren konnte« und sich die Stimme des Kirchencollegiums mit 4000 Mark erkaufte. So kehrte Bach in sein stilles Cöthen zurück.

Aber auch in seinem Hause war es daselbst still geworden. Bei der Heimkehr von Carlsbad, dahin er im Sommer 1720 den Fürsten begleitet hatte, fand er sein Weib nicht mehr unter den Lebenden. Sie, die er frisch und gesund verlassen, war indessen erkrankt, gestorben und begraben, ohne daß ihn eine Kunde davon erreicht hatte. Schwer, ohne Zweifel, ertrug Bach, seiner tiefen, innerlichen Natur gemäß, den harten Verlust; doch männlich und stark, wie seine Weise war. Anderthalb Jahre darauf, am 3. December 1721, gab er seinen verwaisten Kindern eine andere Mutter, und auch aus dieser zweiten Ehe mit Anna Magdalena Wülken, einer Cöthen'schen Hofsängerin und Tochter eines herzoglich Weißenfels'schen[83] Hoftrompeters, erblühte ihm ein schönes und reines Glück. Er fand in ihr eine treue Gefährtin, die an seinem Schaffen regen Antheil nahm und den Mittelpunkt der kleinen Hauscapelle bildete, welche er sich in seinem Familienkreise heranzog und selber später in einem Briefe an seinen Jugendfreund Erdmann schildert: »Insgesamt aber sind sie gebohrene Musici und kann versichern, daß schon ein Concert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formiren kan, zumahle da meine itzige Frau gar einen saubernSoprano singet, auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschläget.« Oft auch nahm Anna Magdalena die Feder in die Hand, um ihm beim Copiren eigener oder fremder Musikstücke zu Diensten zu sein, und so ähnlich war ihre feste und charaktervolle Handschrift der seinigen, daß die Unterscheidung selbst dem Kenner vielfach Schwierigkeit bereitet. Hinwiederum schrieb er für sie, die im Clavierspiel und Generalbaß seine Schülerin war, manches Tonstück nieder. Ein beredtes Zeugniß solch gemeinsamer Thätigkeit sind zwei Notenbücher, die uns aus der Gattin Besitz erhalten blieben. Bald von ihrer, bald von seiner Hand aufgezeichnet, stehen da Clavierstücke: Präludien und Fugen aus dem »wohltemperirten Clavier«, »französische Suiten«, geistliche Gesänge, Arien, Generalbaßregeln u. dergl. mehr, in buntem Wechsel neben einander, darunter auch das viel besprochene und gesungene Lied: »Willst du dein Herz mir schenken, so fang' es heimlich an.« Zelter, der bekannte Freund Goethe's und Director der Berliner Singacademie, vermuthete, daß Bach dasselbe als Bräutigam schrieb, und sah darin ein um so werthvolleres Document, als wir kein anderes Lied, geschweige ein Liebeslied von dem großen Meister besitzen. In der beigefügten Bezeichnung »di Giovannini« glaubte er den »italisirten Schäfernamen« Bach's erblicken zu sollen. Dagegen[84] weist Bach's Biograph Spitta auf einen italienischen Tonsetzer dieses Namens hin, mit dessen Schreibart das in Rede stehende Lied ungleich besser als mit der unsers deutschen Künstlers übereinstimme. Er stellt die Autorschaft Bach's entschieden in Abrede, während wiederum Rust, der gegenwärtig als erste Bach-Autorität gilt, an derselben nicht zweifelt.6

Wie die Orgelmusik und im Grunde jedes Gebiet, dessen sich Bach's bildnerische Kraft bemächtigte, so gewann auch die Claviermusik durch ihn eine veränderte Physiognomie, auch von der technischen Seite betrachtet. Lag vor ihm die Applicatur der Tasteninstrumente derart im Argen, daß man sich bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein des Daumens fast gar nicht, des fünften Fingers aber so zurückhaltend als möglich bediente, so setzte Bach sich durch den methodischen Gebrauch beider Finger in Besitz einer ganz neuen Technik und führte eine völlig neue Spielart herbei. Die von ihm aufgestellten Regeln im Fingersatz haben im Wesentlichen bis auf den heutigen Tag ihre Geltung bewahrt. Auf die unabhängige Ausbildung der einzelnen Finger legte er, der das gesangreiche Spiel als Grund aller Clavierkunst betonte, auch bei seinen Schülern, deren viele und ansehnliche er erzog, großen Werth; auch war sie zur Wiedergabe seines polyphonen Stils erstes Erforderniß. »Alle Finger waren bei ihm gleich geübt«, heißt es in dem erwähnten, von seinem Sohne mitverfaßten Necrolog; »alle waren zu der feinsten Reinigkeit in der Ausführung gleich geschickt. Er hatte sich so eine bequeme Fingersetzung ausgesonnen, daß es ihm nicht schwer fiel, die größten Schwierigkeiten mit der fließendsten Leichtigkeit vorzutragen.«[85] Und Forkel, nächst der eben angeführten weitaus die verläßlichste ältere Quelle über Bach7, preist seine »Allgewalt über das Instrument in allen Tonarten, daß es nun für ihn fast keine Schwierigkeiten mehr gab«. Die Möglichkeit, auf dem Clavier »in allen Tonarten« zu spielen, war eben erst eine Errungenschaft der Bach'schen Zeit, an der ihm selbst ein hervorragender Antheil gebührt. Es bedurfte dazu der gleichschwebenden Temperatur, die durch jene jetzt allgemeine Stimmkunst erzielt wird, welche die absolute Reinheit der Intervalle etwas alterirt, damit, dem sogenannten Quintencirkel gemäß, die zwölfte Quinte des Grundtons wieder in diesen zurückleitet. Die von ihm nicht theoretisch begründete8, aber in genialer Weise praktisch angewandte Methode ist bald zu allseitiger Annahme gelangt. Er selbst setzte ihrer Einführung in seinem »Wohltemperirten Clavier«, einer zweitheiligen Sammlung von je vierundzwanzig Präludien und Fugen in allen Dur-und Moll-Tonarten, noch ein besonderes künstlerisches Denkmal. Es raubt dem hohen Kunstwerth dieses Werkes nichts, daß es zunächst einem instructiven Zweck bestimmt war; denn eben so wenig als wir in der überwältigenden Fülle der Bach'schen Gebilde einem leeren Virtuosenstück ohne geistigen Gehalt begegnen, gewahren wir darunter eine Schöpfung, die nichts weiter als das Gepräge pädagogischer Zweckmäßigkeit an der Stirn trüge. So bergen diese anspruchslosen Clavierstücke, die er während kurzer Mußestunden auf der Reise schrieb, eine Perlenreihe so köstlicher Art, daß sie fast mehr noch als seine großen Orgelfugen Bach's Ruhm als unerreichter Fugencomponist begründeten[86] und zu einer Zeit, wo seine umfangreichen Kirchencompositionen in Staub und Vergessenheit begraben lagen, fast einzig noch seinen Namen im großen Publicum lebendig erhielten. Kein anderes seiner Instrumentalwerke, das ist gewiß, kommt ihnen an Popularität gleich, und doch haben viele derselben kein geringeres Anrecht auf Unsterblichkeit. Man sehe nur seine »Inventionen und Symphonien« an: kleine zwei- und dreistimmige Clavierstücke, deren Form so neu als ihr Bau kunstvoll ist! Alle imitatorischen und contrapunktischen Kunststücke drängen sich da zusammen im engsten Raum und in unscheinbarster Gestalt. Auch sie wollen zuvörderst belehren und spenden dabei doch künstlerischen Genuß.

Wie der Kunsttrieb seines Volkes und seines Geschlechtes nach den Schrecknissen des unheilvollen 30jährigen Kriegs neben dem Choral im Tanz seine Ausdrucksformen suchte und fand, so trat Bach alsbald auch die zweite Hälfte dieses Erbtheils an, indem er dieselbe in veredelter Form in sein Schaffen aufnahm. Mit Vorliebe pflegte er die Suite, eine Folge von Tanzstücken, die zwar in keinem inneren Zusammenhang, aber doch in dem äußeren der gleichen Tonart stehen und dem Kunstprincip des Gegensatzes wenigstens durch den Wechsel langsamer und bewegter, möglichst mannigfaltig rhythmisirter Sätze gerecht werden. An ihrer Gestaltung hatten Italiener, Franzosen und Deutsche gearbeitet; auch Spanier und Engländer steuerten mit je einem Tanze das Ihrige bei. Zwischen die vier Hauptsätze, aus denen sie sich demnach zusammensetzte: die deutsche Allemande, die italienische Corrente oder französische Courante, die spanische Sarabande und englische Gigue, schob man später gern dies und jenes kleinere Tanzstück: Gavotte oder Menuett, Rigaudon oder Passepied, Bourrée oder Ciaconna oder wie es heißen mochte, als Intermezzo ein.[87] Bach hat uns außer mit vereinzelten Gaben dieser Art mit drei großen Clavierwerken zu je sechs Suiten beschenkt. Die in Cöthen entstandenen »französischen Suiten«, die wol das melodisch Reizvollste, anmuthig Liebenswürdigste umschließen, was wir von ihm besitzen (man vergleiche nur etwa die D-moll und H-moll, die Es-dur und G-dur!), bescheiden sich mit knapperen Formen. Die als op. 1 veröffentlichten, 1730 vollendeten »Partiten« (auch deutsche Suiten genannt, denn Partita oder Partie ist mit Suite gleicher Bedeutung), sowie die um 1727 abgeschlossenen »englischen Suiten« dagegen bewegen sich innerhalb eines ausgedehnteren Rahmens. Nicht nur daß die erwähnten Intermezzi in wechselvollster Gestalt in ihnen Raum finden; ein breiter Einleitungssatz auch, sei es ein Präludium oder eine Toccata, eine Symphonie oder eine Ouverture im französischen Stil (d.i. ein kurzer langsamer Satz, dem ein rasch bewegter folgt, welcher durch Wiederkehr des ersten abgeschlossen wird), wird dem Ganzen vorangestellt. Ernster und reicher erscheinen hier die Gedanken, großartiger und kunstvoller auch ihre Ausdrucksweise. Die Suite ist hier zur Vollendung gelangt.

Auch die den Italienern zu dankenden Formen der Sonate und des Concertes zog Bach in sein Bereich. Die Kirchensonate, die zu seiner Zeit noch neben der jetzt allein üblichen Kammersonate in Brauch war, kommt als Einleitung seiner Kirchenmusiken öfters bei ihm zur Anwendung. Die Letztere, die jüngere Schwester der Suite, der sie freilich, Dank ihrem höheren, einheitsvoller entwickelten Organismus, später weit den Rang ablief, hat er mannigfach für Clavier oder Violine, für beide Instrumente vereint, für Violoncello, Gambe und Flöte cultivirt. Sie sind, wie nahezu Alles, was er uns gab, eine hoch zu preisende Bereicherung unserer Musikliteratur;[88] einen directen Fortschritt zur modernen Sonatenform aber vergegenwärtigen sie nicht. Im strengen polyphonen Stil ruht noch ihr Wesen beschlossen. Viel entschiedener ist der Schritt, den er dem neueren Sonatenstil in seinem »italienischen Concert« entgegen thut. Dasselbe bezeichnet gleichzeitig den Gipfelpunkt von Bach's Leistungen in der Gattung, zu der es sich bekennt, während es eine Sonderstellung innerhalb derselben einnimmt. Mit sich selbst concertirt es, und kein Soloinstrument oder Instrumentenchor tritt zu ihm nach Art des Concerts in Gegensatz. Bei den zahlreichen übrigen Concerten für ein, zwei, drei Claviere, für eine und zwei Geigen, Clavier, Flöte und Violine, wie bei den für den Markgrafen von Brandenburg geschriebenen »Concerts avec plusieurs instruments« (man sieht, er befaßte sich vielfach mit dem jetzt nicht mehr gebräuchlichen »Concerto grosso«, darin mehrere Soloinstrumente den Kampf mit dem Orchester aufnehmen), spielen meist Streichinstrumente und Cembalo die Rolle des Tutti, die sich freilich mehr auf eine bloße Begleitung und Ausfüllung des Basses beschränkt. Das Cembalo (der Kielflügel), das Bach in seiner Kammermusik allenthalben herbeizieht und das, wie in seinen Kirchencompositionen die Orgel, ergänzend und ausfüllend hinzutreten muß, repräsentirt sammt dem zarteren Clavichord (bei dem der Ton nicht, wie bei dem später ausgebildeten Pianoforte, durch an die Saiten anschlagende Hämmer, sondern durch Tangenten, Messingstifte, hervorgebracht wird) den unentwickelten Mechanismus, der dem großen Meister zur Ausführung seiner Clavierwerke zu Gebote stand. Er bedurfte keiner vollkommneren Mittel, um der eigentliche Schöpfer des modernen Clavierstils zu werden. Orgel und Clavier, die er beide unablässig pflegte, mußten sich unter seiner Hand gegenseitig von ihrem Vermögen etwas[89] zu eigen geben. Für die gebundene Weise jener führte ihr dieses etwas von der eigenen Beweglichkeit zu. Das Eine mußte den Reichthum des Andern mehren, wie die Orgel bereits die befruchtende Macht für Bach's Vocalmusik war.

Endlich bethätigte sich sein weitumfassendes Wirken auch noch nach einer anderen Seite hin: er gestaltete mit seinen Orchestersuiten die Grundlage für den neuen Orchesterstil. Die aus dem Volksleben herausgeborenen Tanzformen erhebt er nun zu künstlerischer Bedeutung und verwerthet das vom Kunstpfeiferthum des Vaters und Großvaters Ererbte somit auf seine eigene geniale Weise. In Bach seien die guten Talente von hundert anderen Musikern vereint gewesen, hat man einmal gesagt. Die künstlerische Potenz, mit der er alle Musikformen, die seine Zeit ihm, von der Oper abgesehen, darreichte, zusammenfaßte und des Weiteren ausbaute, hat in der That selbst nicht in seinem großen Zeitgenossen Händel ihres Gleichen, dessen Genius ein engeres, umgrenzteres Tongebiet beherrschte. Dafür umschrieb des Letzteren Wirkungsfähigkeit von je weitere Kreise. Er ist der allgemeiner verständliche, universalere Musiker im Vergleich zu Bach, dem nationalen, urdeutschen Künstler, dessen ganze Größe sein eigenes Volk zum guten Theil mehr ahnt als recht ermißt, ja den man den unpopulärsten aller großen Meister nennen konnte. Wie diesem die echt deutsche Orgelkunst der Leben spendende Mittelpunkt seines Schaffens war, so ist er mit seinem auf's Ewige gerichteten Sinn in die tiefsten Tiefen deutschen Gemüths- und Glaubenslebens hinabgestiegen und hat Schätze an das Licht gefördert, die leben werden, so lange die Menschheit dauert und deutsches Wesen lebt. »Mir ist es bei Bach«, sagt Goethe, »als ob sich die ewige Harmonie mit sich selbst unterhielte, wie es sich im Busen Gottes vor der Schöpfung mag zugetragen haben.«[90]

Fünf Jahre hatte Bach fast ausschließlich in der Beschäftigung mit der reinen Instrumentalmusik verharrt und in ihr Genüge und ein reiches, seinen Genius kräftigendes Arbeitsfeld gefunden, dessen Ergebniß die Mehrzahl der eben besprochenen Werke war. Nun drängte sich ihm die Erkenntniß auf, daß er, seinem höchsten Ziel, der kirchlichen Kunst, dauernd fern gehalten, in Cöthen doch nicht an seinem rechten Platze stehe. Es kam hinzu, daß das Musikinteresse des Fürsten nach seiner, acht Tage nach Bach's Wiederverheiratung erfolgenden Vermählung zeitweilig an Lebendigkeit verlor, daß ferner die Rücksicht auf Bach's heranwachsende Söhne ihn sich nach einer geeigneteren Bildungsstätte für sie umschauen ließ. Sein Blick fiel auf Leipzig. Im Sommer 1722 war Kuhnau daselbst gestorben und das Cantorat an der Thomasschule frei geworden. Man war besorgt, ihm und der langen Reihe seiner ausnahmslos hervorragenden Vorgänger einen würdigen Nachfolger zu geben. Doch war man anfangs nicht glücklich. Telemann, auf den unter den verschiedenen Bewerbern zuerst die Wahl fiel, nahm zwar an, besann sich jedoch hinterdrein eines Andern. Einem Darmstädter Capellmeister, den man dann begehrte, verweigerte der Landgraf von Hessen die Entlassung. Endlich meldete sich Bach. Er hatte sich nicht leichten Herzens dazu entschlossen, denn die Trennung von seinem Fürsten kam ihm sauer an; auch wollte es ihm, in so hohem Ansehen die Leipziger Stellung bei den Musikern stand, wie er schreibt, »anfänglich gar nicht anständig sein, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden«, denn an Glanz des Namens, das durfte er sich sagen, überstrahlte er schon jetzt weit all' seine Vorgänger. Am Ende überwog doch die Aussicht auf den erweiterten Wirkungskreis inmitten eines regen kirchlich-musikalischen Lebens. Er »wagte es im höchsten Namen«, am[91] 7. Februar 1723 mit Aufführung seiner Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« seine Probe abzulegen. Zwei Monate später ward ihm auf dem Leipziger Rathhaus seine einstimmig erfolgte Wahl feierlich kundgethan. Die Prüfung, welcher er sich, wie alle Candidaten städtischer Schul- und Kirchenstellen, beim Consistorium bezüglich seiner religiösen Grundsätze unterwerfen mußte, bestand er zur Befriedigung. Vorschriftsgemäß gab er das übliche Versprechen eines ehrbaren eingezogenen Lebenswandels, treuer Amtsverwaltung u.s.w., unterschrieb auch die Concordienformel und leistete den Eid. Am ersten Pfingsttage trat er sein Amt als Universitäts-Musikdirector, am 30. Mai, dem ersten Trinitatis-Sonntage, seine Thätigkeit als Thomas-Cantor an. Tags darauf, am 31. Mai, fand seine feierliche Einführung auf der Schule statt.

Die Thomasschule reicht als Stiftsschule der regulirten Augustiner mit ihrem Ursprung bis in das dreizehnte Jahrhundert zurück. Sie hatte von Alters her ein Alumneum, in welchem zur Ausführung des liturgischen Gesanges und anderer Cultushandlungen eine Anzahl von Knaben unterhalten ward. Als sie bald nach Einführung der Reformation in Leipzig, im Jahre 1543, sammt dem Thomaskloster und den zugehörigen Klostergütern in das Eigenthum der Stadt überging, erfuhr sie als protestantische Lehranstalt wesentliche Erweiterungen. Zu Bach's Zeit belief sich die Zahl der Alumnen auf 55. Sie hatten gegen freie Existenz und ein gewisses Einkommen die Verpflichtung, zu bestimmten Tagen und Zeiten Gesangsumgänge durch die Stadt zu halten, sowie bei Trauungen und Leichenbegängnissen, und vor Allem beim Gottesdienst in den verschiedenen Kirchen der Stadt die Ausführung der Musik zu besorgen. Dies vorzubereiten und zu leiten lag dem Cantor[92] ob, der zugleich als Musikdirector an den beiden Hauptkirchen mit Inspection über die Organisten derselben und die bei der Kirchenmusik mitwirkenden Stadtpfeifer und Kunstgeiger betraut war und daneben auch an der Universitätskirche allerlei Functionen zu erfüllen hatte. Bezüglich des Unterrichts wurden keine übermäßigen Anforderungen an Bach gestellt. Fünf lateinische und sieben Gesangstunden hatte er allwöchentlich zu ertheilen; doch wußte er, obwol ihm das Latein geläufig und er überhaupt im Besitz einer soliden Allgemeinbildung war, sich nicht nur später von den ersteren ganz zu befreien, sondern sich auch die letzteren mit Hülfe der ihm unterstellten Präfecten zu erleichtern. Um so mannigfaltiger gestalteten sich die Ansprüche an seine compositorische Thätigkeit. Jeden Sonntag, mit Ausnahme der Fastenzeit und der drei letzten Adventsonntage, hatte er eine Cantate zur Aufführung zu bringen, und da es als Ehrensache der Cantoren galt, den Bedarf möglichst aus eigenen Mitteln zu decken, er auch academische Feierlichkeiten durch seine Werke verherrlichen mußte, eröffnete sich ihm damit ein weites Schaffensgebiet.

In pecuniärer Beziehung war Bach's Stellung eine für jene Zeit günstige. Außer freier Dienstwohnung, die er, wie seine Vorgänger und Nachfolger bis Hauptmann, in dem noch gegenwärtig stehenden, wenn auch seiner einstigen Bestimmung nicht mehr dienenden Schulgebäude angewiesen erhielt, gewährte sie ihm, seiner eigenen Angabe zufolge, ein Jahreseinkommen von ungefähr 700 Thalern, das ihm bei seiner schlichten Lebensweise selbst mit seiner zahlreichen Familie (denn zu den sieben Kindern aus erster Ehe kamen in zweiter dreizehn hinzu) ein bequemes Auskommen sicherte. In anderer Hinsicht jedoch blieb ihm gar Vieles zu wünschen übrig. Lästig vor Allem war ihm, dem stolzen, durch ganz Deutschland[93] berühmten Künstler, der neben dem Ehrentitel eines fürstlich Cöthen'schen Hofcapellmeisters auch noch den gleichen des Herzogs von Weißenfels trug, das Untergeordnete seiner Stellung, das ihm kleinlich eifersüchtige Rectoren und Rathsherren zu Vorgesetzten gab, denen der Blick für seine Größe fehlte. Dazu war die Schule, Dank dem laxen Regiment eines alternden Rectors, in argen Verfall gerathen. Krieg unter den Lehrern, Zucht- und Sittenlosigkeit unter den Schülern, gänzliches Darniederliegen der Musik im Sängerchor: das waren die Verhältnisse, in die Bach eintrat, die Bedingungen, unter denen er arbeiten sollte! Energisch wie er war, an selbständiges Handeln gewöhnt, trotz seiner sonst im Umgang behaupteten ruhigen Würde ein eigensinnig schroffes, herrisches Auftreten und Verfolgen seiner Ziele nicht immer meidend, erfuhr er häufigen Widerspruch und Tadel. Unwesentliche Dienstversäumnisse wurden ohne Berücksichtigung seiner außerordentlichen Verdienste um die Kunst gerügt, seine Vorschläge für Verbesserung der musikalischen Hülfsmittel begegneten tauben Ohren, indeß man andere mittelmäßige Musiker eifrig protegirte. Sogar dahin kam es, daß man bei Vertheilung von Geschenken, Legaten, Vacanzgeldern den großen Meister schnöde überging, bis dieser endlich durch directes Vorgehen an den König seine Rechte wahrzunehmen sich herbeiließ. Ein weiteres Hemmniß für eine seiner Bedeutung entsprechende Thätigkeit ergab sich aus dem Mangel an verfügbaren Kräften. Ganz ungenügend erwiesen sich zumal die Instrumentalisten. Ein Musikchor von sieben Personen: vier Stadtpfeifer und drei Kunstgeiger, war Alles, was ihm die Stadt zur Lösung seiner idealen Aufgabe und Aufführung seiner eigenen mächtigen Werke beim Gottesdienste zu Gebote stellte. Er mußte zur Ergänzung des Sängerchors die Studenten, zur unumgänglichen[94] Vervollständigung des Instrumentalkörpers seine Schüler heranziehen und sie außer im Gesang auch im Orgel-, Clavier- und Violinspiel unterweisen. Trotz alledem konnte nach Bach's Tode im Leipziger Rathe das Wort laut werden: »Herr Bach wäre zwar wol ein großer Musikus, aber kein Schulmann gewesen«. Er selbst legte auf sein Lehramt viel geringeres Gewicht als auf sein städtisches Musikdirectorat, wie er denn auch mit Vorliebe den Titel Director Musices führte. Nichtsdestoweniger war ihm ein hohes pädagogisches Talent zu eigen, und wenn ihn seine natürliche Reizbarkeit und Leidenschaftlichkeit weniger zur Bildung größerer und zumal undisciplinirter Massen befähigte, so erzielte er bei Leitung einzelner strebsamer Schüler um so schönere Resultate. Eine ganze Reihe hervorragender Künstler – Allen voran seine Söhne Friedemann und Philipp Emanuel, sein Schwiegersohn Altnikol, Ziegler, Agricola, Kirnberger, Vogler, Gerber, Homilius, Johann Ludwig Krebs – gingen aus seiner Schule hervor und durften ihm den größten Theil ihres Rufes danken. Schmückte ihn doch neben seinem nach dem Höchsten verlangenden gewaltigen Geist zugleich die entsagende Selbstlosigkeit, welche das eigene überragende Können in den Dienst des schwächeren Mitmenschen zu stellen bereit ist. Die Worte, die er auf das Titelblatt seines »Orgelbüchleins«, einer köstlichen Sammlung von Choralbearbeitungen, schrieb: »Dem höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nächsten draus sich zu belehren«, deuten zur Genüge darauf hin, welche Pflichten er sich durch seinen Genius auferlegt fühlte. So sind denn in der That viele seiner Clavier- und Orgelstücke für seine Schüler eigens niedergeschrieben. Mit Freundlichkeit und Geduld neigte der sonst so ernste strenge Mann sich zu ihnen herab und war unermüdlich, sie zum Fleiß und Eifer anzuspornen. »Ich habe fleißig[95] sein müssen«, pflegte er zu ihrer Aufmunterung zu sagen; »wer es gleichfalls ist, wird eben so weit kommen«. Im Urtheil über Andere war er mild und nachsichtig. Das schloß nicht aus, daß er untüchtige Kunstleistungen zuweilen in heftigster Weise rügte. Ohne Bedenken jagte er einen ungehorsamen Schüler mitten im Gottesdienst lärmend vom Chore fort, ja dem Organisten der Thomaskirche, der durch irgend ein Versehen sein empfindliches Künstlerohr beleidigte, warf er einmal zornig seine Perrücke mit den Worten an den Kopf: »Er hätte lieber sollen ein Schuhflicker werden!«

Die gleiche Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, die ihn im Verhältniß zu seinen Schülern charakterisirt, übte er auch im eigenen Hause. Auch in ihm war der rege Familiensinn seines Geschlechtes lebendig und gab sich in fürsorglicher Liebe für seine Angehörigen und Verwandten kund. Mit einem nothleidenden Vetter hatte er schon in Arnstadt sein karges Einkommen getheilt, und den letzten Willen einer Verwandten hielt er pietätvoll gegen den eigenen Vortheil und die habsüchtigen Bemühungen Anderer aufrecht. Seine Kinder erzog er mit vieler Sorgfalt und stattete sie mit der soliden Allgemeinbildung aus, die ihn selber auszeichnete. Um seinem ältesten Sohn, dem reichbegabten Friedemann, wie es scheint, eine Weihnachtsfreude damit zu machen, ließ er den Dreizehnjährigen bereits im December 1723 auf der Universität einschreiben, und auf seinen öfteren Wanderungen nach Dresden, wo am glanzreichen Hofe August des Starken auch die Musik und zumal die italienische Oper mit Hasse und Faustina blühte und glänzte, mußte ihn sein Liebling immer begleiten. »Friedemann, wollen wir nicht die schönen Dresdener Liederchen einmal wieder hören?« mit diesen Worten pflegte ihn der Vater aufzufordern. Denn so verschiedene, ihr entgegengesetzte[96] Wege ihn auch sein Ideal gehen hieß, Bach selber wußte ohne Zweifel, daß er ohne die Oper nicht geworden wäre, was er war. Die Berücksichtigung derselben selbst im Kirchenstile dünkte ihm eine berechtigte Forderung der Zeit. Nicht nur ihre Formen, auch die reicheren Mittel des Ausdruckes für Seelenstimmungen, für Lust und Leid, wie sie die Musik erst im Theater lernte, hatte er in der That durch sie gewonnen, durch sie die subjectivsten Regungen der Seele belauschen gelernt. Wir wissen, trotz einigen in dramatischer Form gehaltenen weltlichen Compositionen, von keiner Oper, die Bach geschrieben hätte; aber wir bewundern ihn als geistlichen Dramatiker, obgleich er durch ein vorwaltendes Allgemeingefühl stets den kirchlichen Charakter seiner Tondichtungen bewahrt. So erscheint er zugleich als geistlicher Lehrer, als Prediger. Musikalische Homilien hat Ambros seine Cantaten genannt. »Palestrina betet in seinen Tönen, – Bach predigt und er predigt gewaltig«, sagt er. Schon in seinen Instrumentalwerken stellt er sich seinen Themen gegenüber wie ein Dialectiker, ein tiefsinnig forschender Philosoph dar. In seinen Kirchencompositionen führen ihn nun vollends seine Texte zur direct ausgesprochenen Lehre hin. In dem Jahrhundert freilich, in dem Bach lebte, war es um die Poesie schlimm bestellt. Die Wunden, die der dreißigjährige Krieg Deutschland geschlagen, bluteten auch in seinem Culturleben noch fort, die Sprache war einerseits verwildert, andererseits durch den Schwulst der schlesischen Dichterschule und die Empfindelei des Pietismus versüßlicht. Demnach leiden auch Bach's Texte, die er meist den Arbeiten Neumeister's, Franck's und Henrici's (Picander's) entnahm, an den Gebrechen ihrer Zeit. Vieles Schwache, Geschmacklose findet sich darunter, ja hier und dort (in den Sologesängen) muß selbst die Musik das Veraltete der Worte entgelten[97] und ihrer Zeit den Tribut zahlen. Doch das ist Vereinzeltes. Im Ganzen weiß der schöpferische Geist des Meisters auch den flachsten Text zu vertiefen und zu verklären, ihn zu einer künstlerischen Einheit zu ordnen und uns somit auch über den empfindlichen Contrast abgeschmackter Verse und der daneben wirkenden Urkraft des Bibelwortes harmonisch hinweg zu bringen.

Fünf vollständige Jahrgänge von Kirchen-Cantaten auf alle Sonn- und Festtage, nach Spitta's Berechnung in Summa 295, hat Bach hinterlassen. Davon entfallen laut Ersterem etwa 266 auf die 27 Jahre seiner Leipziger Wirksamkeit. Doch nur gegen 210 blieben uns davon erhalten, und nicht gar lange ist es her, daß wir erst begannen, sie lebendig in Besitz zu nehmen. Hierhin und dorthin verstreut, unter hundertjährigem Staub begraben lagen die Schätze, die der tonreiche Meister Jahr für Jahr angesammelt und, nachdem sie den Zweck gottesdienstlicher Erbauung erfüllt, still bei Seite gelegt hatte. Erst neuerdings erwecken hauptsächlich die in's Leben getretenen Bachvereine sie wieder zu Sang und Klang, und Werke unvergänglichen Werthes, wie »Ein' feste Burg«, »Ach, wie flüchtig«, »Bleib' bei uns«, »O ewiges Feuer«, »Gott der Herr ist Schirm und Schild«, »Sie werden aus Saba Alle kommen« etc. etc., werden dem staunenden Hörer als etwas Altes und doch Neues geboten. Eine leicht genießbare Kost allerdings gewähren sie nicht. Wie Bach's große Schöpfungen namentlich in der Weise der Stimmbehandlung den Ausführenden Schwierigkeiten bieten, die nur mit wahrer Selbstverleugnung und Hingabe überwunden werden können, so berührt die ruhelose Polyphonie ihres Stils ein durch homophone Musik erzogenes Ohr zunächst mehr fremdartig als anziehend. Nicht passiv darf sich der Hörer dem bloßen sinnlichen Eindruck überlassen; er muß der[98] Gedanken- und Formenentwickelung aufmerksam nachgehen, nicht eine einzelne Stimme oder Melodie, sondern die Vielheit derselben verfolgen, um sich in diesen kühnen Tongebäuden zurecht zu finden und ihrer Herrlichkeit gewahr zu werden. Oder verbergen sich unter der scheinbaren Einförmigkeit seines Fugenstils nicht Wunder der Erfindung und Wissenschaft? Im freien contrapunktischen Stimmengewebe reichster Polyphonie hat Bach das Höchste erreicht und die ihm vorangegangene Periode der Tonkunst durch seine Thaten zum Abschluß gebracht. Die Meisterschaft der Arbeit aber ist ihm nur Mittel, nie Zweck; nicht um ihrer selbst willen, nur im Dienste der Idee verwendet er sie. »Ohne Bedenken kann man es wol als Regel aufstellen: je tiefsinniger Bach in seinen formalen Combinationen auftritt, desto sicherer läßt sich darauf rechnen, daß hinter dem ungewöhnlichen Ausdruck ein eben so überraschender Gedanke verborgen liegt. In der Cantate »Ein' feste Burg« umschließt der Meister wie mit einem eisernen Gürtel den ersten Chor durch die canonische Führung der Choralmelodie. Oboen und Fundamentalbaß vollziehen diese kunstreiche Aufgabe, und zwar so, daß sie die äußersten Grenzen der Höhe und Tiefe des Satzes bestimmen. Innerhalb dieses strengen Gefüges bewegen sich Gesangstimmen und Orchester in völliger Freiheit, die melodischen Formen des Cantus firmus theils nachahmend, theils umschreibend. Man hat vielfach und mit Recht das große Kunststück einer solchen Anlage und Durchführung angestaunt – ist aber der hochsymbolische Sinn, den Bach sicherlich mit diesen außergewöhnlichen Mitteln beabsichtigte, weniger der größten Theilnahme werth? Konnte die »feste Burg« in architectonischer Hinsicht gewaltiger umgrenzt, durch Tonmaterial erhabener ausgebaut werden?« So hören wir Robert Franz in seinem Aufsatz »über Bach'sche[99] Kirchencantaten«.9 Er, einer der feinsten Kenner Bach'scher Kunst, hat sich ohnehin durch seine Bearbeitungen von Bach's Werken ein nicht genug zu schätzendes Verdienst um Verbreitung und Zugänglichmachung derselben erworben. Nicht in vollendeter Gestalt bekanntlich liegen die uns überkommenen Originalpartituren des Meisters vor. Sie enthalten, gleich denjenigen Händel's, vornehmlich in den Solonummern viele nicht völlig ausgeführte, sondern blos skizzirte Theile, zu deren Ergänzung und Ausfüllung die Orgel accompagnirend hinzutreten mußte. Bei der Gewohnheit des Componisten, die Aufführung seines Werkes von Letzterer aus persönlich zu leiten, genügte die karge Andeutung eines bezifferten Basses, um mit der in virtuoser Weise von ihm geübten Improvisationskunst dem Ganzen bei der jedesmaligen Vorführung die erforderliche Abrundung und harmonische Vollendung zu geben. Für uns Nachkommende indeß ist diese unvollständige ursprüngliche Fassung nicht wol brauchbar, sie erheischt zwingend eine Bearbeitung, wie sie beispielsweise auch Mozart und Mendelssohn Händel'schen Oratorien zu Theil werden ließen. Der pietät- und mühevollen Wiederherstellung derartiger Partituren nun hat Franz den hingebendsten Eifer gewidmet und als eine dem Autor congeniale Natur sie durch seine stilgemäßen polyphonen Ergänzungen für Orgel und Orchester mit seinem künstlerischen Sinn dem Verständniß der Gegenwart möglichst nahe gerückt.10

Ueber Bach's Art zu arbeiten hören wir, daß er wol häufig änderte und besserte, nicht aber in der Weise, wie[100] z.B. Beethoven es gethan, viel skizzirte und die Grundidee mannigfach umgestaltete und verwarf. Die Manuscripte seiner Hand verrathen Sorgfalt und Sauberkeit. Daß er vielfach ältere Compositionen neuen Zwecken dienstbar machte, wurde bereits erwähnt, nicht minder auf seine unvergleichliche Improvisationskunst hingewiesen. Willkür kennt er nicht, aus einem gemeinsamen Mittelpunkt scheint Alles entsprungen, in strengster Form alle Leidenschaft des Empfindens gebändigt. Trotz einer an's Unglaubliche grenzenden polyphonischen Virtuosität läßt er sich doch nicht zum Schaden seines Ideals von ihr beherrschen; auch in den complicirtesten Formen und ungeachtet der Wucht und Massenhaftigkeit seiner Gestaltungen bleibt er groß und klar. Das Wort von der flüssigen Architectur gilt von seiner Musik mehr als von der irgend eines Anderen. Seine Harmonik ist kühn und scheut keine Härten; der Gang seiner Stimmen zeigt inmitten seiner Gebundenheit große Lebendigkeit und Freiheit. Seine Modulation ist im Allgemeinen sehr maßvoll, erzielt aber, wo es ihm darauf ankommt – wie im Präludium zur großen G-moll-Fuge und der wundersamen »chromatischen Phantasie« – durch eine geniale Chromatik und Enharmonik die gewaltigsten Wirkungen. Tief und innig ist seine Melodik, mannigfaltig und complicirt seine Rhythmik, seine Declamation im Recitativ voll melodischen Ausdruckes und dabei meist voll schöner Uebereinstimmung zwischen Wort und Ton. Seine Instrumentation ist, wo sie in volle Wirksamkeit tritt, charakteristisch und an geeigneter Stelle – so beispielsweise in der Einleitung der Cantate »Gott der Herr ist Schirm und Schild«, oder des Weihnachtsoratoriums »Jauchzet, frohlocket« – oft von hellem Glanze, auch wenn sie selten eine gewisse Herbigkeit ablegt, wie Bach denn mit Vorliebe dunkele Seelenstimmungen schildert und den Gegensatz[101] zwischen den Leiden dieses irdischen und den Freuden jenes seligen Lebens betont. Die schwierigsten Aufgaben bringt seine Behandlung des Vocalen mit sich. Wie er allenthalben in seinen Productionen hohe und höchste Anforderungen an den Ausführenden stellt, so gehen seine Zumuthungen an die mit den Instrumenten fortwährend in Wetteifer gebrachte Menschenstimme so weit, daß von Seiten der Sänger oft Klagen laut wurden und ihm der Vorwurf der »Grausamkeit« nicht erspart geblieben ist. Man vergleiche nur seine Arien und Chöre, seine unerhört schwierigen Motetten! Nur die gewiegtesten Sänger dürfen es wagen, sich (mindestens ohne stützende Orgelbegleitung) mit den Letzteren zu befassen, soll anders ihnen und dem Hörer Genuß daraus erwachsen. Wahre Pracht- und Wunderwerke aber sind uns in ihnen, die er, gleich der großen Ueberzahl seiner Cantaten, für seinen Thomanerchor schrieb, doch leider nur in bescheidener Zahl auf uns vererbte, zu eigen gegeben. (Es genüge hier auf »Jesu, meine Freude«, »Singet dem Herrn ein neues Lied«, »Fürchte dich nicht«, »Komm, Jesu, komm« hinzuweisen!) Auch sie wurzeln, wie seine Cantaten, von denen sie sich selbständig losgelöst zu haben scheinen, und wie alle seine Instrumentalcompositionen, in seiner Orgelkunst. Findet sich jedoch in jenen Ersteren und vornehmlich in den früheren derselben Manches, was mehr als Formel des Zeitstils, als aus innerer Nothwendigkeit entstand, so erscheint hier Alles aus seiner eigensten Kunstherausgeboren, Alles echter, lauterster Bach.

Eben diese Motetten erregten die begeisterte Bewunderung Mozart's, der Bach bis dahin nur als Instrumentalcomponisten kannte, als Cantor Doles sie ihm im Jahre 1789 zeigte. »Da ist doch einmal etwas, woraus sich was lernen läßt!« rief er voll Freude aus, indem er sich in das Studium der geschriebenen Stimmen vertiefte.[102] Sie waren auch die einzigen von Bach's Vocalwerken, die zu keiner Zeit völlig aus dem Musikleben verschwanden. In Leipzig und an anderen Orten ihres sächsischen Vaterlandes wenigstens wurden sie hin und wieder gesungen. In weitere Kreise aber drangen auch sie nicht hinaus. Selbst Beethoven gründete seine Verehrung des »Urvaters der Harmonie« und sein bekanntes Wort: »Das ist kein Bach, sondern ein Meer«, nur auf die Orgel- und Clavierstücke, welche die damalige Zeit von ihm kannte. Sogar das Werk, das Bach unter allen seinen Künstlerthaten am werthesten hielt: die Matthäuspassion, hatte man völlig aus den Augen verloren, bis Felix Mendelssohn es gerade hundert Jahre nach seinem Geburtstag (1829) gleichsam neu entdeckte.

Als eine fruchtbare Atmosphäre übrigens erwies sich Leipzig für unseren Meister, mochten auch seinem Berufe daselbst die Dornen nicht fehlen. Ein großes Werk nach dem anderen entsprang seinem Geiste, mit vollen Händen spendete er köstlichste Gaben. So traten in den ersten sieben Jahren seiner Cantoren-Thätigkeit neben einer Fülle von Cantaten sein großes Magnificat und die Passionsmusiken an das Licht. Zur Verherrlichung des Weihnachtsfestes wurde das Erstere (der Lobgesang der Maria auf lateinischen Text) geschrieben, das zu den erhabensten Eingebungen seines Genius zählt. Es spiegelt in seiner durch deutsche Texteinlagen erweiterten Form, wie sie der Tonsetzer von seinem Vorgänger Kuhnau übernahm, den alten, dazumal noch in Leipzig populären Brauch: die Vorgänge der heiligen Nacht zur Christmette dramatisch aufzuführen, im idealen Bilde wieder. In ungleich weiterem Rahmen als dies durch seine knappen, concentrirten Formen unter Bach's großen Kirchencompositionen hervorstechende Werk breiten sich seine Passionen aus.[103]

Bis in das frühe Mittelalter zurück reicht der alte Kirchenbrauch, die Passionsgeschichte nach den Worten der Evangelisten während der Charwoche mit vertheilten Rollen am Altare abzusingen und, um sie der gläubigen Gemeinde möglichst zu Gemüthe zu führen, in primitiver Weise dramatisch darzustellen. Den erzählenden Theil sang ein Priester »choraliter« (ohne rhythmische Eintheilung im Einzelnen, nur mit abgetheilten Phrasen), Andere übernahmen gleicherweise die Reden Christi und der übrigen Personen; die Volksmenge (turba) wurde durch einen Chor vertreten. Später als die geistlichen Schauspiele und Mysterien sich mittlerweile aus der schlichten liturgischen Passion entwickelt und selbständig von ihr abgezweigt hatten, kam das Scenische der Vorführung allmälig in Wegfall. Um das Ganze mehr musikalisch einzurahmen, fügte man meist zu Anfang eine für Chorcomponirte Ueberschrift (»Das Leiden unsers Herrn Jesu Christi, wie es uns das Evangelium beschreibet«) und am Schluß einen kurzen chorischen Dank-, Bitt- oder Lobgesang hinzu, darin der religiösen Empfindung und Betrachtung Raum gegeben war. Daneben kam mit der wachsenden Ausbildung des mehrstimmigen Gesanges auch eine durchgehends chorische, motettenartige Composition des lateinischen Passionstextes, sowie endlich eine dritte Behandlung auf, in welcher die Erzählung des Evangelisten im Choralton recitirt wird, das Uebrige aber mehrstimmig gesetzt ist. All' diesen verschiedenen Formen wies mit Anwendung deutschen Textes auch die protestantische Kirche in ihrem Passionscultus eine Stelle an. Sie erfuhren durch von der Gemeinde oder vom Sängerchor gesungene Choräle, durch Instrumentalbegleitung und -Einleitung, durch allerhand aus der Oper und dem italienischen Oratorium entnommene Elemente weiterhin mannigfache Bereicherungen. Dabei verweltlichten sie[104] mit Aufnahme der freien Dichtung, die sich mit Bibelwort und Kirchenlied vermischte, indessen mehr und mehr; das Kirchliche trat in den Hintergrund.

Ein so buntes Vielerlei fand Bach vor und seine geniale Kraft gestaltete aus ihm eine Schöpfung von hoher künstlerischer Einheit. Die Keime zu seinem Kunstwerke wol finden sich in den vier Passionen (1665 und 66), den »Sieben Worten Christi am Kreuz«, der »Historia der fröhlichen und siegreichen Auferstehung unsers einigen Erlösers und Seligmachers Jesu Christi« (1623) von Heinrich Schütz, dem größten deutschen Tonmeister des siebzehnten Jahrhunderts, vorgebildet. Man muß sie, die ersten oratorischen Werke, welche in die Handlung eingreifende Chöre in wahrem Oratorienstil enthalten, kennen, um zu verstehen, was gleich Händel auch Bach diesem seinem größten deutschen Vorgänger dankt. Doch sind sie eben nur die Keime, die der Schöpfer der Matthäuspassion zu höchster Blüte entfaltet und die sich zu seinen Thaten wie Verheißung zur Erfüllung verhalten. An Stelle der knappen Schütz'schen Formen, welche die Chöre in gedrängtester Fassung bringen, in denen die Arie fehlt und das neugewonnene Recitativ nur hier und dort statt des alten einförmig psalmodirenden Tones hervorbricht, dehnt sich nun ein in großartigen Verhältnissen angelegter Bau. Mächtige Eingangs- und Schlußchöre, Choräle als Mittelpunkt des Ganzen, Recitative voll reich melodischen und dabei sprachgemäßen, oft dramatischen Ausdruckes, betrachtende Arien und Chorsätze, welche den Gang der Handlung nach jeder Scene unterbrechen und das Gefühl der Gemeinde wie Einzelempfindungen voll austönen; dazu eine belebte Instrumentalsprache – so treten uns die Werke entgegen, in denen wir die höchsten Erscheinungen auf dem Gebiete protestantischer Kirchenmusik ehren und lieben.[105]

Fünf Passionen hat Bach nach den Mittheilungen seines Sohnes Philipp Emanuel geschaffen. Davon gingen durch die Schuld des leider mehr und mehr verwildernden Friedemann, in dessen Besitz nach des Vaters Tode die Hälfte seines Musikreichthums überging, zwei für uns verloren. Nur einzelne Theile der einen – der Marcuspassion – die, wie die Untersuchungen Rust's ergaben, in der 1727 geschriebenen Trauer-Ode auf den Tod der Königin Christiane Eberhardine, August des Starken Gemahlin, Aufnahme fanden, blieben uns erhalten. Vollständig wurden uns durch Philipp Emanuel die Passionen nach den Evangelisten Johannes und Matthäus überliefert. Auch eine Lucaspassion ist in Bach's Autograph noch gegenwärtig vorhanden; doch wurde ihre Echtheit vielfältig bestritten. Spitta bezweifelt sie nicht; er weist nur ihre Entstehung in eine frühere und zwar die erste Weimarer Periode zurück, der beispielsweise der Actus tragicus entstammt. Die Johannespassion wurde muthmaßlich am Charfreitag 1724 zum ersten Male öffentlich zu Gehör gebracht. Ihr folgte fünf Jahre später die Matthäuspassion.

Verschieden geartet wie die biblische Grundlage beider Evangelien ist Bach's tonkünstlerische Wiedergabe derselben. Dem früher geschriebenen Werk ist ein mehr lyrischer, mystischer, eigenthümlich umschatteter Grundton eigen; das spätere charakterisirt ein dramatischerer Zug, eine bewegtere Handlung und wechselvollere Stimmung und demgemäß eine reichere Mannigfaltigkeit der Kunstmittel und Formen. Dort, wo der Componist sich seinen Text auf eigene Hand zusammenstellte, herrscht eine gewisse düstere Einförmigkeit vor. Hier, wo der Wirkung des Ganzen die Mithülfe eines Dichters (Henrici-Picander) zu Gute kam, der sich auf Gliederung und Anordnung des Stoffes wohl verstand, kommt ungeachtet[106] der Einheit des Trauergefühls, welche Alles durchzieht, eine überraschend reiche Scala der Empfindungen zum Ausdruck. Eine tiefe Wirkung auch liegt in der modulatorischen Anordnung der Matthäuspassion, auf die der scharfe Künstlerblick Moritz Hauptmann's zuerst hinwies.11 Der ganze erste Theil und im Wesentlichen auch die erste Hälfte des zweiten bis nach der Kreuzigung bewegen sich in der Region der Kreuztöne. Nach den in As-dur gesungenen Worten: »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!« aber herrschen die B-Tonarten, die für die nun eingetretene Entspannung die geeignete Unterlage bilden. Als das macht-und glanzvollere, imposantere und in seiner Ganzheit vollendetere Werk wird die Matthäuspassion mit ihrer breiten Anlage, ihren zwei Orchestern und Chören immer den Preis davontragen. An Werth der musikalischen Erfindung und Ausgestaltung im Einzelnen indeß steht keins von beiden dem anderen nach. Die Sologesänge gehören bei dieser wie bei jener zu den schönsten, die Bach geschrieben. Auch in Behandlung der Recitative wird wesentlich nur der Unterschied augenfällig, daß in der Matthäuspassion ein Streichquartett die Reden des Heilands begleitet und sein Haupt gleichsam von einem Heiligenschein umflossen zeigt. Bei Darstellung der dramatischen Chorsätze da gegen giebt sich in der zuletzt genannten Schöpfung eine um Vieles erhöhte Lebendigkeit kund. Oder bezeugen der grandios wirkende Volksruf »Barrabam!«, das »Laßt ihn, haltet, bindet nicht!«, das flammende »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?« nicht zugleich die naturwahrste und stilvollste Charakteristik? Zwei größere betrachtende Chöre nur weist die Johannespassion auf: die herrlichen am Anfang und Ende stehenden »Herr, unser Herrscher«[107] und »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«. Den Eingangschören seiner Cantaten gleich, in denen Bach den im Ganzen darzulegenden Empfindungsgehalt zusammenzudrängen liebt, repräsentirt auch der erstere Chor gleichsam den Prolog der kommenden Passionstragödie. An seiner Stelle stand ursprünglich der gegenwärtig aus der Matthäuspassion bekannte Schlußchor »O Mensch, bewein' dein' Sünde groß«, der nun sammt dem sich gleichfalls über einem Choral (»O Lamm Gottes, unschuldig«) aufbauenden bewundernswürdigen Einleitungschor den ersten Theil von Bach's größtem protestantisch-kirchlichen Werke durch zwei Choralbearbeitungen erhabensten Stils einrahmt. Wie in den Cantaten, so ist auch in den Passionen und den später entstandenen, ihnen verwandten großen Musiken, welche das Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsfest feiern (sie sind als Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsoratorium, letzteres auch als Cantate »Lobet Gott in seinen Reichen« bekannt), der Choral die bedeutsamste musikalische Macht. Doch dient er hier nicht nur wie bei jenen Ersten als eigentlicher Träger der kirchlichen Empfindung; auch als wichtiges Kunstmittel wird er in Mitwirkung gezogen. Im einfach vierstimmigen Satze eingeführt, gewährt er innerhalb des weiten, vielgliederigen Baues willkommene Gefühlsruhepunkte und sorgt für entsprechende Gruppirung und Abwechslung. So tritt in der Matthäuspassion Bach's Lieblingsmelodie »O Haupt voll Blut und Wunden« nicht weniger als fünfmal mit immer gesteigerter Wirkung hervor, und gleicherweise wählte er für die Johannespassion das Stockmann'sche Passionslied »Jesu Leiden, Pein und Tod« als Mittelpunkt. Indem er somit seinen aus Orgelkunst und Choral hervorgegangenen, echt kirchlichen und nationalen Stil, wie er ihn in der Cantate bethätigt hatte, auch auf die Passion übertrug, vollzog[108] er die künstlerische Einigung all' der widerspruchsvollen Elemente, die vor ihm in dieser Letzteren Aufnahme gefunden hatten, und wurde auch für sie wiederum der Vollender. Die wunderbare volksthümliche Kraft, die der Matthäuspassion wie keinem anderen von Bach's Werken innewohnt, hat sich, wie im Allgemeinen in ihrem deutschen Vaterlande, so im Besonderen an ihrem Geburtsort Leipzig bewährt. In der Kirche, in der sie der Meister einst seiner Gemeinde bescheerte, lauschen alljährlich am Charfreitag Tausende in stiller Andacht ihren frommen Klängen und suchen und finden bei ihr höchste künstlerische und religiöse Erbauung.

Was Leipzig an dem besaß, der ihm unsterblichen Ruhm bereitete, das ahnte es freilich so wenig, daß die Väter der Stadt es nicht einmal der Mühe werth erachteten, ihm, nachdem er sie unmittelbar zuvor (am 15. April 1729) mit seiner großen Matthäuspassion beschenkt hatte, die Rücksicht zu erweisen, bei Besetzung von Alumnenstellen die von ihm empfohlenen, musikalisch Tüchtigsten herauszulesen. Das erbitterte ihn begreiflicherweise dergestalt, daß er allen Ernstes den Gedanken faßte, sich der undankbaren Stadt und einer ihm ohnedies vielfach unerquicklichen Stellung für immer zu entziehen. In einem Briefe an seinen Jugendfreund Erdmann, der sich mittlerweile in Danzig niedergelassen hatte, spricht er 1730 die Bitte aus, dafern er »vor einen alten treuen Diener dasigen Orthes eine convenable station wisse oder finde, eine hochgeneigte Recommendation einzulegen«, da er »einer wunderlichen und der Music wenig ergebenen Obrigkeit gegenüber fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben müsse«.

Zum Glück für Leipzig hatte der Brief nicht den gewünschten Erfolg. Bach blieb bis an sein Lebensende in seinem Amte. Auch gestaltete sich dasselbe um Vieles[109] erfreulicher, als nach des alten Rectors Tode der ihm von Weimar her befreundete Gesner die Leitung der Thomasschule übernahm. Unter ihm, einer bedeutenden philologischen und trefflichen pädagogischen Kraft, nahm die Anstalt erneuten Aufschwung. Auch für Bach umschließen die leider kurzen Jahre des mit ihm vereinten Wirkens (1730–1734) die glücklichste Zeit seines Lebens in Leipzig. Nicht nur daß ihn ein herzliches collegialisches Verhältniß mit dem gelehrten Freunde verband, der in einer Anmerkung zu seiner Ausgabe der »Institutiones oratoriae« des Quinctilian von Bach sagt, daß er »mehr Gaben in sich vereinige als Orpheus und Arion zusammen«: auch seine Beziehungen zur städtischen Behörde suchte Gesner mit Erfolg freundlicher zu gestalten. Ernstliche Differenzen zwischen ihr und dem streitbaren Cantor unterblieben wenigstens hinfort; man suchte mit einander gütlich fertig zu werden. Auch die musikalischen Verhältnisse hoben sich, Dank Bach's immer mächtiger werdendem Einfluß, inzwischen mehr und mehr. Er fühlte sich zu dieser Zeit wirklich wohl in Leipzig und gab dem auch in einer Cantate, in der er das Lob der Stadt singt, offenen Ausdruck. Leider nur war diese Befriedigung von kurzer Dauer. Als Gesner schon nach vier Jahren seinen Leipziger Wirkungskreis mit einem anderen vertauschte, fehlte es bei seinem Nachfolger Ernesti nicht an erneuten Conflicten und Kämpfen, da Bach in musikalischen Angelegenheiten volle Unabhängigkeit begehrte. Es bedurfte des persönlichen Eingreifens des ihm wohlgeneigten Königs, das der in seiner Ehre gekränkte, hartnäckig sein Recht verfolgende Musiker schließlich anrief, um einen zwischen ihm und seinem Rector ausgebrochenen langwierigen Competenzstreit zu seinen Gunsten beizulegen. Die Feindschaft zwischen Beiden aber währte offen fort. Ernesti's Collegen stellten sich auf dessen[110] Seite. Den persönlichen Groll gegen Bach ließ man seiner Kunst entgelten, nur als ein nothwendiges Uebel noch betrachtete man dieselbe in der Schulordnung. Mehr und mehr gerieth der große Künstler in eine vereinsamte, mißachtete Stellung, und um ein harmonisches Zusammenwirken und eine gedeihliche Musikpflege an der Schule war es für immer geschehen. Was Wunder, daß Bach entschiedener noch als zuvor den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf sein freies musikalisches Schaffen verlegte und sich zum Verdruß seiner Behörde mehr als königlicher Hofcompositeur – denn seit dem Herbst 1736 trug er auch diese Würde – und Capellmeister der Fürstenhöfe Cöthen und Weißenfels denn als städtischer Beamter fühlte?

Unbeeinträchtigt durch all' diese amtlichen Mißhelligkeiten floß ihm wenigstens der Quell seines Schaffens in ungetrübter Reine und Klarheit. An das Große, Ewige, das sein Genius der Welt verkündete, reichten die kleinen Leiden des Lebens nicht hinan. So entstanden in den dreißiger Jahren unter Anderem seine schon erwähnten drei sogenannten »Oratorien« zum Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsfest. Mit dem, was wir sonst unter diesem Gattungsbegriff verstehen, haben sie nichts gemein. Wie seine Passionen, deren Form sie mit Ausnahme des mehr opernhaften Oster-Oratoriums gleichen, knüpfen sie an alte liturgische Gebräuche an, sind, den Mysterien ähnlich, kirchlich-volksthümlichen Charakters. Weit stärker als bei jenen Ersteren jedoch erscheint hier das Lyrische betont; sie neigen mehr dem Stil der Cantate zu. In eine Folge von sechs Cantaten, welche, den kirchlichen Gepflogenheiten entsprechend, die heiligen Vorgänge vom Christ- bis zum Dreikönigsfest als Ganzes behandeln und den drei Christtagen, dem Neujahrstag, dem darauffolgenden Sonntag und dem[111] Epiphaniasfest gewidmet sind, gliedert sich auch das populärste dieser Werke: das 1734 geschriebene Weihnachts-Oratorium. Reizvollere, eindringlichere Melodien denn hier hat Bach über keine seiner Schöpfungen ausgestreut, und eine holdere Sprache reden seine Instrumente nirgends als in der nächtlichen Hirtenscene, welche die den zweiten Theil einleitende »Sinfonia« schildert. Es hat der Größe seines Werkes keinen Abbruch gethan, daß er einzelne Theile desselben aus verschiedenen weltlichen Gelegenheitscompositionen entlehnte. Kirchlich, wie sein Stil von Grund aus geartet war, bleibt er es auch, wo er weltlich sein will; seinem eigensten Wesen kann er nicht entfliehen.

Neben dem Reichthum monumentaler Werke überrascht die Fülle gelegentlicher Gaben, zu denen der vielbeschäftigte Meister noch Zeit fand. Auch unter ihnen findet sich Bedeutendes, wie die erwähnte herrliche Trauer-Ode auf den Tod den Königin Christiane Eberhardine (1727), oder die Trauermusik, die er dem Andenken seines frühverstorbenen Gönners, Fürst Leopold von Cöthen, weihte und dort persönlich (1729) zur Aufführung brachte. Ihnen reihen sich in bunter Folge Werke lichteren und leichteren Charakters an: Huldigungs-Cantaten für das sächsisch-polnische Königs- oder das Cöthen'sche Fürstenhaus, dramatische Compositionen für allerlei Universitäts- und Schul-Feierlichkeiten, italienische Kammer-Cantaten, Hochzeitsmusiken, auch Humoristisches, wie die Kaffee- und die Bauern-Cantate. Der ernste Künstler kann auch heiter lächeln, und der fromme Sinn für die Kirche hat ihn dem Leben nicht entfremdet. Selbst der sarkastische Ton steht ihm zu Gebote. In dem Dramma per musica »der Streit zwischen Phöbus und Pan« giebt er (1731) eine Art Satyrspiel und geißelt den Unverstand, welcher leichtwiegender, oberflächlicher[112] Musik vor echter edler Kunst den Vorzug giebt. Er zielt darin, indem er in Apollo sich selber, in dem mit Eselsohren bedachten Midas seinen anmaßenden Widersacher Scheibe schildert, in tendenziöser Weise auf die neue, nur das Leichte, Gefällige anstrebende Richtung ab, die sich in der Musik vorzudrängen und seinem strengen Kunststil entgegen zu treten begann. Das Ueberhandnehmen derselben zwar vermochte sein hohes Ansehen nicht zu schädigen. Er war und blieb eine Berühmtheit der Stadt, die für fremde Fachgenossen und Schüler, wie für vornehme Musikfreunde die alte Anziehungskraft bewährte. Auch als oberste Autorität im Orgelbau behauptete er seine Geltung. Bezeugte er sich ja auch durch seine technischen Kenntnisse im Instrumentenbau als ein so echter Abkömmling seines Geschlechtes, daß er zu Cöthen ein neues, zwischen Violoncello und Bratsche in der Mitte stehendes Streichinstrument: die Viola pomposa, und später in Leipzig ein aus Cembalo und Laute sinnvoll combinirtes Tasteninstrument erfand. Indessen hörte er doch mehr und mehr auf, der Mittelpunkt der Musik in Leipzig zu sein. Der neuen, im Jahre 1743 begründeten Concertgesellschaft, die den noch heute blühenden Gewandhausconcerten das Leben gab, blieb er dauernd fern, und einen von ihm geleiteten Musikverein gab er nun auf. Er ließ den herankommenden, ihm fremden Musikgeist unbekümmert sein Wesen treiben – seine Kunst hatte in der Kirche, nicht im Concertsaal ihre eigenste Heimat. Emsig mehrte er fort und fort die Zahl seiner Cantaten. Auch geistliche Arien, darunter die schönen »Dir, dir, Jehovah, will ich singen« und Paul Gerhard's »Gieb dich zufrieden«, schrieb er, wol zunächst für den häuslichen Gebrauch. Eine von ihm angelegte Choralsammlung von gegen 240 Melodien ging leider verloren. Nur Theile derselben wurden uns durch seine Schüler[113] und durch Schemelli's Choralbuch gerettet. Nach seinem Tode gab sein Sohn Philipp Emanuel 100 Choräle von ihm heraus, die er später auf 370 vervollständigte. Sie sind größtentheils den Kirchen-Cantaten entnommen und lassen in der Mannigfaltigkeit und Eigenartigkeit ihrer Harmonisirung den harmonischen Reichthum erkennen, den sich Bach durch die tiefsinnige Benutzung der alten Kirchentonarten neben dem modernen Dur- und Moll-System gewann.

Obgleich als ein gelehrter Componist bekannt, ließ er sich, wie der Necrolog berichtet, »nicht in tiefe theoretische Betrachtungen der Musik ein«. Natur und Neigung wiesen ihn zur Praxis hin. Nichtsdestoweniger besitzen wir von ihm eine Generalbaßlehre, die, dem Jahre 1738 entstammend, abschriftlich auf uns kam. Sie ist natürlich zum eigenen Gebrauch beim Unterricht entworfen und in ihrer mustergültigen methodischen Fassung ein beredtes Zeugniß der Lehrgabe, die den vielseitigen Künstler zierte. Hell leuchtet auch hier der sittliche Ernst, der jede Art seiner künstlerischen Thätigkeit kennzeichnet, hindurch, wenn er sagt: »Des Generalbasses Finis und Endursache soll anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ist's keine eigentliche Music, sondern ein Teuflisches Geplärr und Geleyer.«

Was er hiermit als die eigentliche Aufgabe seiner Kunst bezeichnet: dem Höchsten zu dienen und das Gemüth zu erheben, das strebt er auch in seinen Messen an. Es mag Wunder nehmen, daß ihn, die durchaus protestantische Natur, nach Bethätigung in einer dem katholischen Cultus specifisch angehörenden Musikform verlangte. Doch war ihm die Veranlassung dazu einerseits in seiner Eigenschaft als sächsischer Hofcomponist, andererseits durch die Eigenthümlichkeit des Leipziger[114] Gottesdienstes gegeben, welch Letzterem mehr als anderwärts noch immer katholische Elemente verblieben waren. Nicht vollständige lateinische Messen zwar, aber doch einzelne Messentheile, ein Kyrie, Gloria, Credo oder Sanctus, wie lateinische Hymnen und Motetten, hatten in der kirchlichen Sonn- und Festtagsfeier daselbst ihren bestimmten Platz. So genügte Bach, der Lotti'sche, Palestrina'sche und andere Messen eigenhändig abschrieb, um sie zu diesem Behuf zur Aufführung zu bringen, durch Composition derartiger Kirchenstücke einfach den Verpflichtungen seines königlichen und städtischen Doppelamtes. Unter den vier kurzen, nur aus Kyrie und Gloria bestehenden Messen, deren Entstehungszeit gegen Ende der dreißiger Jahre fällt, ragt die in F als weitaus bedeutendste hervor. Auch sie hat, gleich den übrigen, in ihrem zweiten Satze Bestandtheile älterer Werke aufgenommen; während sich der Autor aber bei jenen die Arbeit ziemlich leicht gemacht und sich mehr äußerlich mit seiner Aufgabe abfand, gestaltet er hier ein harmonisches Ganze und schöpft zumal das Kyrie aus tiefsten Tiefen. Das Höchste jedoch, was er zu geben im Stande war, legte er in seiner hohen, seiner H-moll-Messe nieder. Sie ist die einzige vollständige, die er überhaupt schrieb und an der er von 1732 bis gegen 1738 beschäftigt war. Die ersten beiden Theile wurden bereits im Juli 1733 König August III. gewidmet und in Dresden persönlich überreicht. Der ersten Anlage entsprechend, aber wuchs auch das später Hinzukommende zu so colossalen Verhältnissen an, daß sich die fertige Messe für den Gebrauch beim katholischen Gottesdienst als ungeeignet und auch für den protestantischen nur stückweise verwerthbar erwies. Ward, zu so unzähligen Malen dieser Text auch schon in Musik gesetzt wurde, er wol je in riesigerem Maßstabe ausgeführt? Jeden einzelnen der fünf Hauptabschnitte, [115] das Agnus Dei ausgenommen, umrahmen breite, oft zweitheilige Chöre. Sologesänge, Arien und Duette mit ihren Instrumentalvor- und Zwischenspielen, im zweiten und dritten Theil noch mehrere ausgedehnte Chorsätze, drängen sich dazwischen. Aus nicht weniger als 26 Musikstücken, von denen 17 vier-, fünf-, sechs- und doppelt vierstimmigem Chor übertragen wurden, setzt sich das Ganze zusammen. In dieser seiner complicirten Gestalt stellt es an Ausführende und Hörende höchste Anforderungen. Choräle, ariose Chöre, der dramatische Zug und Anderes, was die Matthäuspassion dem Verständniß der Menge näher rückt, ist hier, der Natur des Meßtextes gemäß, ausgeschlossen. Was die H-moll-Messe bietet, sind schwerste musikalische Genüsse, denen nur ein feinfühliger, empfänglicher Sinn und ernste Hingebung beikommen, obwol auch hier das Wort Moritz Hauptmann's gilt, daß »das Höchste in der Kunst überall nicht für den Künstler und Kunstkenner ausschließlich da ist, sondern für den Menschen.« Reicht auch, um Alles zu ergründen, was der große Meister an kunstvoller Arbeit und tiefsinniger Symbolik hineingeheimnißt in sein erhabenstes Vermächtniß, ein Menschenleben vielleicht nicht aus, so lohnt ein Blick in diese Schönheitsfülle den andächtigen Hörer schon überreich. Mag das polyphone Wesen der großen Chöre seinem Verständniß anfangs Schwierigkeiten bereiten, mögen die von selbständig einhergehenden Soloinstrumenten umspielten Sologesänge – wie wir sie bereits aus Bach's Cantaten kennen – ihn zuerst auch fremdartig berühren, so werden doch andere Sätze dafür um so schneller den Weg zu seinem Herzen finden. An den Höhepunkten der Messe beispielsweise, dem Incarnatus, Crucifixus und Ressurexit, die im kurzen, tiefergreifenden Bilde das Erlösungswerk des Herrn vorführen, wird auch der Verständnißloseste nicht[116] kühl vorübergehen und er wird etwas von der Weihe der Kunst verspüren, die Ideal und Wirklichkeit zu versöhnen und Himmlisches den Irdischen zu verkünden berufen ist. Was jede Messe sein soll: »eine ideale Durchlebung der Hauptmomente in der Entwickelung der Christenheit und zugleich des einzelnen Christen bis zur realen Feier des heiligen Abendmahls«, das ist in höchster Weise Bach's hohe Messe und zwar im protestantischen Sinne, wie es Beethoven's Missa solemnis im katholischen ist. Wir haben auf diesem Gebiet keine höheren Besitzthümer als diese beiden.

Hatte Bach, wie wir sahen, im Gegensatz zu seiner ersten Lebenshälfte, wo er sich vorwiegend mit Instrumentalcomposition beschäftigte, in Leipzig den Schwerpunkt seiner Thätigkeit auf die vocale Kirchenmusik gelegt, so schuf er nebenher doch noch immer viel Instrumentales. Dem Clavierconcert namentlich wandte er sein Interesse zu. Im Uebrigen vervollständigen die berühmte »chromatische Phantasie und Fuge« – das merkwürdige Werk, in welchem, wie Hans von Bülow sagt, »die Romantik zum ersten Mal das Gebiet der Clavierliteratur überschritten hat« –, die genialen dreißig Variationen über eine Arie, der zweite Theil des »wohltemperirten Claviers«, das »musikalische Opfer«, »die Kunst der Fuge«, verschiedene große Orgelfugen und Orgelchoräle und Anderes die an Zahl und Bedeutung fast unbegreiflich große Reihe seiner schöpferischen Gebilde. Als kirchlicher Vocalcomponist ward er gegen Ende seines Lebens allmälig schweigsamer und verstummte endlich ganz. Er durfte es, im Bewußtsein, das Seine gethan zu haben, nach dem ungeheuren Maße seines Vermögens.

War der weitberühmte Thomascantor seinen Zeitgenossen auch mehr als eminenter Orgelvirtuos denn als Componist bekannt, allgemach drangen doch auch viele[117] seiner Instrumental-, vornehmlich Clavier-und Orgelstücke in die Welt, wenn freilich auch nach Sitte damaliger Zeit mehr durch Abschriften als durch den Druck. Als op. 1 veröffentlichte er erst im Jahre 1731 sechs Partiten unter dem Titel »Erster Theil der Clavierübung«, dem 1735 ein zweiter mit dem italienischen Concert und einer neuen Partita, 1739 ein dritter mit Choralbearbeitungen für Orgel und Clavierduetten und 1742 ein vierter Theil mit den erwähnten 30 Variationen (den sogenannten Goldberg'schen) folgte. Der erste und dritte Theil wurden vom Autor selbst verlegt, muthmaßlich auch eigenhändig von ihm gestochen. Von seinen großen Kirchencompositionen gelangte keine einzige zu seinen Lebzeiten in die Oeffentlichkeit. Die Mühlhausener Rathswechsel-Cantate von 1708 wurde zwar gedruckt, nicht aber in den Handel gegeben. Nur das Erscheinen dreier Werke außer den genannten: Sechs Choräle für zwei Manuale und Pedal (zwischen 1746 und 1750), die »canonischen Veränderungen« über »Vom Himmel hoch, da komm' ich her«, die er für die musikalische Societät in Leipzig schrieb, und das »Musikalische Opfer« (beide 1747) noch erlebte er. Inmitten der Vorbereitungen eines vierten ereilte ihn der Tod.

Still und stiller ward es im Leben des Meisters. Einen lauten Weltverkehr zwar hatte er nie gepflogen, wiewol sein gastliches Haus Kunstgenossen und Schülern wie Männern der Wissenschaft, soweit seine Beschäftigung ihm dazu Muße ließ, offen stand. Die schon dem Jüngling eigene Wanderlust, die ihn, wenn es künstlerischen Zwecken galt, bald dahin, bald dorthin trieb, aber war auch dem Manne lange noch treu geblieben; auch hatte seine Stellung als Capellmeister und Hofcomponist der Höfe zu Cöthen, Weißenfels und Dresden ohnehin öftere Reisen nach sich gezogen. Besondere Anziehungskraft[118] bewährte für ihn von je die sächsische Residenz mit ihrer italienischen Oper und ihren trefflichen Künstlern, an deren Spitze der viel mit Bach verkehrende Hasse und seine gefeierte Gemahlin Faustina stand und in deren Kreis auch Bach's Sohn Friedemann als Organist an der Sophienkirche (1733) eingetreten war. Er ließ sich zuweilen dort öffentlich als Orgelspieler hören. Bei dem herannahenden Alter jedoch gewann der Hang zu einem häuslichen zurückgezogenen Leben, zu einer steten, ununterbrochenen Beschäftigung mit seiner Kunst mehr und mehr Gewalt über ihn. Es drängte ihn, sein Tagewerk abzuschließen, die Schätze, die er verschwenderisch ausgestreut, zu sammeln und zu ordnen. Nur mit Widerstreben gehorchte er dem Wunsche Friedrich des Großen, der ihn an seinem Hofe, wo Philipp Emanuel Bach (seit 1740) als Capellmeister und Accompagnateur wirkte, zu sehen und zu hören verlangte. Endlich, im Mai 1747, entschloß er sich zu seiner letzten und ruhmgekröntesten Reise. Kaum erfuhr der König seine Ankunft in Potsdam, als er ihn alsbald zu sich entbieten ließ. Im Reisekleid mußte er vor ihm beim Hofconcert erscheinen, auf seinen Clavieren phantasiren und ein vom König gegebenes Fugenthema durchführen. Tags darauf spielte er in der Heiligen-Geist-Kirche vor einer großen Zuhörerschar auf der Orgel und am selben Abend nochmals im Schlosse, wo er auf Friedrich's Begehren und zu seiner höchsten Bewunderung eine sechsstimmige Fuge extemporirte. Nach Leipzig zurückgekehrt, arbeitete er das vom König am ersten Abend empfangene Thema in einer Reihe von Fugen, Canons und in einem Trio neu aus und widmete das in Kupfer gestochene Werk unter dem Titel »Musikalisches Opfer« dem großen Friedrich, von dem er sich mit Genugthuung in seiner Bedeutung als Künstler verstanden fühlte.[119]

Eine letzte große Aufgabe: »die Kunst der Fuge«, in der ihn darzulegen verlangte, was die höchstentwickelte Kunst in dieser von ihm zur Vollkommenheit gebrachten Form zu leisten fähig sei, noch erfüllte den nun alternden Meister. Es galt ihm, aus einem einzigen Thema durch Anwendung aller Mittel des strengen Contrapunkts ein großes, vielsätziges und einheitliches Kunstwerk zu gestalten. Die mannigfaltigsten Formen, von den einfachsten bis zu den denkbar schwierigsten, wie sie selbst Bach bisher noch nicht ausgeführt hatte, sollten darin zur Darstellung kommen. So schrieb er über ein Thema in D-moll fünfzehn Fugen und vier Canons, die im Grunde wie eine einzige Riesenfuge in so viel Abschnitten erscheinen: ein Werk von unvergleichlicher Kunstvollendung, dessen einsamer Größe gleichwol, wol eben seiner complicirten Fassung zufolge, das deutsche Volk nie nahe getreten ist. Dem Ruhme des Werkes hat die Theilnahme, welche es fand, nie entsprechen wollen. Nicht in der vom Componisten beabsichtigten Gestalt auch kam es (1752) auf die Nachwelt. Als er noch vor Vollendung des Stiches abberufen ward, mischten unkundige Hände manches Fremde, nicht dazu Gehörige mit hinein, das nun den Zusammenhang des Ganzen stört. Als solch' fremdes Glied verräth sich unter Anderem eine Clavierfuge, die in den allergrößesten Verhältnissen angelegt ist und von deren drei Themen das letzte Bach's eigenen Namen darstellt. 239 Tacte schrieb seine Hand nieder – unvermuthet brach sie dann ab, um für immerstill zu stehen.

Keine Spur von ermattender Schöpferkraft redet aus seinen letzten Werken. Es war ein gesunder, kräftig gebauter Körper – sein Bild mit den festen, energischen Zügen bezeugt es –, der die große Seele barg. Eine angeborene, durch unablässiges Arbeiten beförderte Augenschwäche nur steigerte sich während seiner letzten Lebensjahre[120] zu einem lästigen Leiden. Die Operation, der er sich im Winter 1749 zu 50 bei einem berühmten englischen Augenarzt, der gerade in Leipzig verweilte, unterwarf, mißglückte ein erstes und zweites Mal und erschütterte gleichzeitig seine Gesundheit in bedenklicher Weise. Er erblindete. Am 18. Juli ward es plötzlich wieder hell um ihn. Er konnte wieder sehen und das Licht vertragen. Aber es war nur ein Vorbote des ewigen Lichtes, der ihn grüßte. Wenige Stunden darauf traf ihn ein Schlaganfall, dem ein hitziges Fieber folgte. Im Gefühl des herannahenden Todes dictirte er seinem Schwiegersohn und Schüler Altnikol den Choral: »Wenn wir in höchsten Nöthen sein« in die Feder; ließ die Ueberschrift desselben dann aber bezeichnend in die Worte: »Vor deinen Thron tret' ich hiermit« umändern. Treu im Glauben und Beruf, ein sittlich und geistig großer Mensch, schloß er am Abend des 28. Juli 1750 – es war gegen halb neun Uhr – auf immer die kranken Augen.

Auf dem Johanniskirchhof senkte man ihn in der Morgenfrühe des 31. Juli in sein Grab, dahin ihm die ganze Schule unter vollem Glockengeläut das Geleite gegeben hatte. Nahe der südlichen Eingangsthür der Johanniskirche, die sonst eine stille Gräberstadt umstand, fand er seine letzte Ruhestätte. Inzwischen mußten die grünen Hügel längst dem lärmenden Getriebe der Lebenden weichen; auch Bach's Grab verschwand. Kein Mensch mehr kennt, kein Stein, kein Denkmal nennt es; das laute Alltagsgeräusch erklingt ungescheut da, wo der hehre Meister der Harmonie in Frieden schlummert.

Das Erbtheil der mit drei unverheirateten Töchtern zurückbleibenden Wittwe war bittere Armuth. Sie, die treue, kunstverständige Gefährtin ihres großen Gatten, ließ das musikreiche Leipzig als Almosenfrau sterben und verderben.[121]

Von den fünf Söhnen, die er aus erster und zweiter Ehe zurückließ, ging Gottfried Heinrich, der, »ein großes, aber nicht entwickeltes Genie«, in den Gerichtsverhandlungen über Bach's Nachlaß als »blöde« bezeichnet wird, ihm am ehesten (1763) in die Ewigkeit nach. Die übrigen folgten, der Zeitströmung nachgebend, anderen künstlerischen Bahnen als der Vater.12 Eine seltsame Fügung berief gerade sie dazu, den Uebergang aus seiner streng abgeschlossenen, reinen Kunstsphäre zur freien Wirklichkeit zu vollziehen.

Wenn in der That schon Bach's Zeitgenossen die Fühlung mit seiner hohen, ganz von der Gottesidee getragenen Kunst mehr und mehr verloren, so folgte die nach ihm heraufsteigende Zeit noch entschiedener neuen Empfindungen und Idealen. Aus der Kirche drängte die Musik nun hinaus in die Welt, in das Leben, aus der strengen Gebundenheit der Form zum freieren Tonspiel hin. Was Wunder, daß man über den neuen Bestrebungen bald des ernsten Meisters mit dem himmelwärts gewandten Blick vergaß? Am Ende fand ein neu herankommendes Geschlecht doch den Weg zu dem[122] zurück, der als Abschließer und Vollender einer echt nationalen Kunstrichtung und Epoche monumentale Bedeutung hat. Hundert Jahre lag er im Grabe, da erscholl ein Weckruf durch die deutschen Lande, der der Wiederbelebung seiner Werke galt. Und nicht ungehört verhallte er. Deß ist das Wirken der Bach-Gesellschaft Zeuge, die Band um Band seiner Hinterlassenschaft an das Licht fördert, im emsigen Bemühen, die lang vergrabenen Schätze zu heben. So trat denn unser Volk die große Erbschaft an. Wir wissen endlich, was wir ihm danken, der nahezu Alles, was ihm seine Zeit an Formen und Empfindungsgehalt bot, in ewigen Kunstwerken zusammenfaßte und gleichzeitig die neue instrumentale Kunst herausführen half, in der wir noch heute leben.

Ein romantischer Zug ruht in dem alten classischen Meister, der uns Gegenwärtige wahlverwandt berührt und die Kluft überbrückt, die mehr denn ein Jahrhundert zwischen ihn und uns gelegt. Dank ihm blickt das erhabene Antlitz, das, wie aus den Perrückenlocken seines Steinbildes13, aus der unnahbaren Höhe seiner Kirchenwerke zu uns herniederschaut, uns persönlich vertrauter an, und neben der Bewunderung für die »unbegreifliche Erscheinung der Gottheit«, die wir mit Zelter in ihm erkennen, kommt nun auch die Liebe zu ihrem Recht, mit der wir dem Genius den begehrteren Lohn darbringen![123]

Quelle:
La Mara (d.i.: Marie Lipsius): Musikalische Studienköpfe: Vierter Band: Classiker. Mit einer Lichtdruck-Tafel, Leipzig: Heinrich Schmidt & Carl Günther, 1880., S. 57,124,405.
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