Einleitung.

Die Musik ist die Kunst der modernen Welt. Keine Zeit und keine Welt vorher hat diese Kunst besessen, sowie wir sie kennen, als ebenbürtige Schwester der Poesie und der bildenden Künste. Keine Zeit vorher hatte den Inhalt, den die Sprache der Töne sich schuf: es mußte erst die volle Seele im Menschen erweckt werden, ehe es wahre Musik geben konnte. Nun haben wir sie, und es gilt jetzt, durch sie selbst den Gehalt, der sie geschaffen, hinwiederum zum vollen Besitze und Bewußtsein Aller zu bringen. Denn die Zeit, die die Kunst der Töne aus Dunkel und Abhängigkeit zum Leben, zur wahrhaften Würdigkeit hervorgerufen, auch diese Zeit ist vorüber: wir Heutigen genießen nur das Geschaffene. Aber nun gilt es, dieses ganz zu genießen und der Seele eines Jeden die Fülle und Tiefe zu gewinnen, welche die sichere Grundlage ist für die höhere Geistesbildung des heutigen Menschen. Schon regt es sich an allen Enden, besonders unseres Vaterlandes, das berufen scheint, auch fortan der ganzen übrigen Welt den eigentlichen Gehalt zu verleihen; es regt sich in Aufführungen der Meisterwerke unserer Kunst, an allen Orten, in jeder kleinen Stadt sind die Concerte üblich geworden, die dem Volke, einem Jeden, den köstlichen Gehalt der Tonkunst mittheilen; die Musik ist nicht mehr bloß Unterhaltung,[7] Unterhaltung der Vornehmen, sie lebt nicht mehr bloß in der »Kammer«, sie lebt vor den Ohren von Jedermann. Es regt sich auch mannichfach die Feder, die dem Verständniß einer Kunst, sobald ihre Blüthezeit vorüber ist, zu Hülfe zu kommen sucht und hundertfach aufmerksam macht auf ihre Werke. Die Musikliteratur fängt an, Bedeutung zu gewinnen, sie beschäftigt bereits in großem Umfange den Buchhandel und ist allgemach ein vortreffliches Mittel geworden, das unersetzliche Bildungselement, das für Jedermann in der Musik liegt, auch dem Manne zum Bewußtsein zu bringen. Denn das weibliche Geschlecht genießt diesen Vortheil schon längst; das ungemeine Bedürfniß nach Musikunterricht in unsern Tagen verräth eine Ahnung von der Wichtigkeit dieser Kunst für die Bildung. Der heutige Mensch soll nicht bloß Geist, er soll auch Gemüth haben; erst wo beides ist, erscheint der ganze Mensch.

Nun herrschte aber bisher in den Begriffen über das Wesen der Musik eine unendliche Verwirrung. Erst in den letzten Jahren ist Klarheit gekommen, und zwar durch den Mann, der nach so manchen Seiten hin die Begriffe über das Schöne und die Kunst erst wahrhaft aufgehellt hat, durch den großen Mann der Ästhetik, Friedrich Theodor Bischer. Es hatte wohl Mancher von uns hie und da richtig empfunden, auch wohl Richtiges gesagt, aber Keinem war es gelungen, bis zu den letzten Zielen vorzudringen und die allgemeingültigen Principien für die Ästhetik der Tonkunst aufzustellen. Bischer hat dies gethan, und in bewundernswürdiger Weise. Die köstliche Waare aus dem fernen Indien ist gelandet, und nun sind wir »kleinen Leute« schnell geschäftig, den Vertrieb durch die Lande zu besorgen, daß auch der Letzte im Volke sein[8] erforderliches Theil erhalte. Man gesteht gern, daß man diesem Manne Vieles verdankt. Denn wenn sich auch Einer oder der Andere bewußt ist, mit treuem Fleiße die Jahre hindurch an Anschauungen und Reflexionen Manches gesammelt zu haben, so ist das Besitzthum dieser Erkenntnisse doch nicht anders als das kleine Beutelchen voll Geld, das sich die arme Frau mit ihrer Hände Arbeit erwarb; sie fühlt lebhaft den Werth des Selbsterworbenen, aber dennoch wagt sie nicht, es den vielen Gütern des reichen Mannes zu vergleichen, dem sein größerer Geist größere Reichthümer gewann. Es ist ein Segen, daß endlich ein Richter auf Erden ist und ein Gesetzgeber in diesen Gebieten der geistigen Thätigkeit. Wir gestehen, obgleich uns Bischer's Werk erst seit Kurzem bekannt ist, so haben wir bereits erfahren, wie bedeutend dasselbe gerade für Denjenigen wird, der ihm mit einem gewissen Reichthum von Anschauungen aus dem Gebiete des Schönen entgegentritt. So ist uns Manches aus der Reflexion zum Gedanken erhoben, und was zum Gedanken bereits gediehen war, zu größerer Sicherheit, Fülle und Klarheit gebracht worden. Wir betrachten diesen Mann auch fortan als Denjenigen, von dem wir noch Vieles und von dem Besten zu lernen haben.

Es scheint vermessen oder überflüssig, daß wir zum Gegenstand unseres ersten Versuchs in der musikalischen Ästhetik einen Musiker gewählt haben, über den schon unter vielen andern so ausgezeichnete und erschöpfende Werke, wie die von Ulibischeff und Jahn, vorhanden sind. Aber wir glauben dennoch einige neue Gesichtspunkte in der Betrachtung dieses größten aller Meister in der Tonkunst aufstellen zu können. Das Wert des Russen behält vor dem Jahn'schen immer den Vorzug der gefälligeren[9] Schreibart voraus, während wir an jenem den Ernst und die Tiefe deutschen Denkens vermissen: in den letzten Dingen reicht es überall nicht aus. Es fehlt in diesem Felde an einem Werke, das wie Goethe's Biographie von dem Engländer Lewes sich wie ein Roman läse, ohne wie Heribert Rau's neues Buch wirklich ein Roman zu sein.

Die Art und Weise, wie der vorliegende Gegenstand an den Universitäten zu behandeln ist, ergibt sich aus dem Zwecke, der nicht ist, practische Musiker zu erziehen, sondern jungen Männern anderer Berufe auch auf diesem Wege zu einer Erweckung der innersten Seelenkräfte zu verhelfen, die zur harmonischen Bildung der Menschen nothwendig erscheint. Die Behandlungsweise wird also um so viel besser sein, als sie sich von ihrer Kunst die Fähigkeit borgt, die Phantasie und vor Allem die Empfindung aufs Tiefste zu erregen. Sie wird nur dann den richtigen Punkt getroffen haben, wenn der junge Mann sich getrieben fühlt, von dem Worte und Büchern über Musik zu den großen Tonwerken selbst zu eilen. Es erscheint also hier die künstlerische Begabung, die die Begeisterung erzeugt, als mindestens ebenso bedeutend wie die wissenschaftliche Methode, die Klarheit und einfachen Fortgang in die Sache bringt.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 7-10.
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