Über das Wesen der Musik.

[10] Der Inhalt der Musik ist Gefühl, Empfindung. Wir müssen diese Ausdrücke als gleichbedeutend gebrauchen, wie sie sich auch im gewöhnlichen Sprachgebrauche ihrer Bedeutung nach nicht eigentlich unterscheiden; man könnte das Wort Empfindung seiner Bildung nach höchstens als das Gefühl bezeichnen, dessen man sich in einem höhern Grade bewußt geworden ist, das man »in sich gefunden« hat. Gefühl ist das, was vor allem Selbstbewußtsein vorhanden ist, das geheimnißvolle Bewegen der Seele, von dessen Existenz Jeder in jedem Augenblicke die lebhafteste Überzeugung hat, das aber in Worten auszusprechen noch keinem Menschen möglich geworden ist. Es lebt in sich, und Jeder glaubt es zu verletzen, ja zu zerstören, sobald er es in Worte zu kleiden sucht. »Ich fühle es, aber ich kann es nicht aussprechen. Ich fühle es so tief, daß ich es gar nicht sagen kann.« Ja, es hört in demselben Augenblicke auf, reines Gefühl zu sein, wo es sich in Worten ausdrückt, es wird Gedanke, oder wo es ins Wollen übergeht, Handlung. Wo liegt denn nun das Mittel, das Gefühl auszudrücken, ohne daß es in seinem Wesen leidet, von seiner Reinheit verliert? Wo vernimmt es sich selbst und nur sich selbst ohne fremde Zuthat? Wir antworten: im Tone, in der Musik drückt sich das Gefühl[11] rein und voll aus. Diese Antwort ist aus der Erfahrung genommen. Der Beweis, weßhalb es der Ton ist, die Schwingungen der Luft, die ein in Bewegung gesetzter Körper erzeugt, welche dem Gefühle den einzig entsprechenden Ausdruck verleihen, ist nach dem jetzigen Standpunkt der Physiologie noch nicht strict zu führen; wir heben nur hervor, daß das Gefühl selbst wesentlich Bewegung ist, daß man vom »Wogen« der Empfindung spricht, daß also das Gefühl selbst wohl ein Schwingungsleben sein mag, das in den feinsten, bis jetzt noch nicht genau erkannten Theilen des Nervensystems vor sich geht. Das Nähere wird späterer Untersuchung vorbehalten. Von den rein sinnlichen Gefühlen, wie sie auch das Thier hat, ist hier natürlich nicht die Rede, sie bilden nicht das Gebiet, mit dem die Kunst zu schaffen hat. Nur jene ganze innere Welt, die dem Selbstbewußtsein vorausgeht und in der sich die Idee, das Göttliche, das Unendliche gleichsam ahnungsweise vorgebildet hat, ist der Inhalt, der sich durch den Ton vorzudrücken strebt. Auch ist es ebensowenig der einzelne Ton, der diesen Inhalt auszudrücken vermag, wie das einzelne Wort den Inhalt des bewußtern Geistes ausspricht; sondern nach bestimmten Gesetzen, die denen der Vernunftsprache durchaus analog sind, ordnen sich die Töne zu Reihen und zu Accorden und bilden in Verbindung mit dem Rhythmus jene so schlechthin eigenartige Sprache der Musik, die jedem regelrecht gebildeten Menschen für die Wendungen des Gefühles, für die verschiedensten Seelenstimmungen ein ebenso deutlicher Ausdruck ist wie die eigentliche Sprache ihm der Ausdruck des Geistes ist. Das Nähere hierüber gehört in eine allgemeine Ästhetik der Tonkunst.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 10-12.
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