VII.

Paris.

(December 1823 – Mai 1824.)

Folgen seines letzten wiener Koncertes. Nach Paris. Koncerte in München, Stuttgart, Straßburg. – Paris. Wird im Konservatorium nicht als Schüler angenommen. Cherubini. Kompositions-Unterricht bei Paër. Produktionen in den Salons. Die Aristokratie. Erstes öffentliches Auftreten. Hervorragende Eigenthümlichkeiten seines Spiels und Wesens. Seine Improvisationen. Seine Erfolge. Die Stimmung der Zeit.


Das letzte Koncert war für Franz Liszt von mehrseitigen Folgen. Nicht nur, daß es ihm persönlich Unvergeßliches gebracht und seiner eingeborenen Begeisterung für den gewaltigen Tonmeister die Weihe gegeben – auch für seine weiteren Künstlerwege ward es eingreifend.

Der Enthusiasmus, welchen er erweckt hatte, fand seinen Wiederhall in der Presse. Ihre Stimmen trugen die erste Kunde seines Virtuosenruhms hinaus in die Welt, um so bedeutungsvoller, als sie aus Wien kam, der Stadt, in welcher vor nicht allzulanger Zeit Haydn und Mozart gelebt und gewirkt hatten, in welcher ein Beethoven noch seine Riesenwerke schuf. Mit jenem Koncert beginnt die europäische Berühmtheit Liszt's als Klavierspieler, eine Berühmtheit, die sich von da an – aber auch so fest, ja verhängnisvoll an seine Finger nestelte, daß der Begriff der wunderbarsten Virtuosität mit seinem Namen identisch wurde und ihm später, als die sich in seinen Knabenjahren durch seine »freien Phantasien« ebenso überraschend wie glänzend offenbarende andere Seite seines Genies, die schöpferische, zu ihrer vollen Entfaltung gelangte, beim Publikum hindernd, um nicht zu sagen feindselig in den Weg trat.

So bedeutungsvoll sein Koncert nach künstlerischer Seite war, so eingreifend wurde es für die weiteren Wege, welche Adam[48] Liszt zur Ausbildung seines Sohnes einschlug. »Der Kleine erfreute sich einer guten Einnahme« schließt ein damaliges Referat über jenes Koncert, eine Bemerkung, welche im allgemeinen den Kunstberichten sehr ferne lag. Durch diese »gute Einnahme« sah sich Adam Liszt auf einmal in die Möglichkeit versetzt, ihm eine noch höhere Ausbildung, und zwar in freieren Verhältnissen und auf einer breiteren Basis als bisher geben zu können. Ihm schwebte eine musikalische. Weltbildung vor, ähnlich wie Mozart sie genossen.

Nicht zufällig kam ihm dieser in den Sinn. Man sprach in Wien vielfach davon, daß das Genie seines Knaben dem des jugendlichen Mozart ähnlich sich äußere. Diese Anschauung befindet sich sogar in den Konversationsheften. Beethoven's aufbewahrt. Da stehen, geschrieben von seines Neffen Hand die Worte: »Vorige Woche war er bei mir (Czerny) und bat mich, doch ja das Koncert des jungen Liszt nicht zu versäumen; dann sing er an ihn bis an die Sterne zu erheben, ihn Dir und Mozart (in Eurer Jugend) gleichzustellen etc. etc.«

Wie nahe lag es für Adam Liszt, die Führung, welche einst dem kleinen Mozart geworden, sich zum Vorbild zu nehmen. Der Vater des letzteren, Leopold Mozart, hatte seinen Wolfgang nach Frankreich, geführt, von da nach England. Franz sollte von ihm denselben. Weg geleitet werden. In Paris aber sollte er einige Zeit bleiben. Denn hier lebte der von Mozart's und Salieri's Geist getränkte hochgefeierte Opern- und Kirchenkomponist Cherubini, der zugleich Direktor des weltberühmten dortigen Konservatoriums für Musik war. Hier unter Cherubini's Leitung sollte Franz sich seine Sporen als Komponist erwerben. Ein berufener Vater des Genies ließ Adam Liszt sich so wenig, wie seiner Zeit Leopold Mozart damit genügen, daß sein Sohn bereits Virtuose, ein Phänomen auf seinem Instrument, und Bewunderung, Ruhm und Ehre ihm sicher sei. Der Virtuose war ihm im richtigen Gefühl der Anlagen seines Knaben nur eine Vorstufe zum Komponisten.

Als Adam Liszt seinen Plan zur Ausführung reif sah, sagte er eines Tages zu Franz: »Franz, Du weißt jetzt mehr als ich, aber in einem halben Jahr geht es nach Paris. Da wirst Du ins Konservatorium treten und unter dem Schutz und der Leitung[49] der berühmtesten Männer arbeiten«. Bei diesen Worten gerieth der Knabe in eine unsägliche Bewegung.1

Das war im Frühjahr 1823, nach seinem zweiten Koncert.

Mit dem Herbst kam die Ausführung des Planes. Die kleine Familie, Vater, Mutter und Sohn, verließen die österreichische Kaiserstadt und betraten den Weg nach Paris. In den Hauptstädten aber, die sie passiren mußten, wurde Rast gemacht, welche Adam Liszt zu Koncertarrangements benutzte. Überall fand der Knabe dieselbe günstige und enthusiastische Aufnahme wie in Wien. Man jubelte ihm als einem Mozart zu und schrieb über seine »Phantasien« die merkwürdigsten Dinge. Diese Berichte erzählen das außerordentlichste von dem Talent des Knaben, eigentlich von den Wundern des Genies. Namentlich waren es die Städte München und Stuttgart, die in ihren Beifallsbezeugungen gleichsam wetteiferten. Die münchner Kritik nannte ihn einen zweiten Mozart, und die von Stuttgart stellten ihn neben, zum Theil auch »über« die besten Klavierspieler Europas.


»Ein neuer Mozart ist uns erschienen, ruft man aus München der musikalischen Welt zu.2 Man weiß, daß dieses Wunderkind nur sieben Jahre zählte, als es durch sein künstlerisches Talent die Bewunderung der Welt auf sich zu ziehen anfing. Zwar ist es wahr, daß der junge Liszt bereits vier Jahre mehr zählt. Aber wenn man den Unterschied der Zeiten und der Ansprüche, die das Publikum jetzt an die Künstler macht, in Betrachtung zieht, wird mau zugeben müssen, daß wir wohl berechtigt sind auszurufen: Ein neuer Mozart ist uns erschienen!

Der junge Liszt hat Hummel's Koncert in H mit einer Leichtigkeit und Reinheit, mit einer Präcision, mit einer solchen Kraft und einem so tiefen und wahren Gefühl gespielt, daß auch die kühnste Einbildung es nicht wagen durfte, von einem so zarten Alter Ähnliches zu erwarten. Wir haben Hummel und Moscheles gehört, und scheuen uns nicht zu versichern, daß dieses Kind in der Ausführung ihnen durchaus nicht nachsteht. Was aber die Bewunderung dabei auf den höchsten Gipfel trieb, war eine Improvisation über gegebene Themas. Der junge Liszt hatte schon[50] auf dem Anschlagezettel gebeten, daß das Publikum die Güte haben möchte ihm die Motive aufzugeben; und man gab ihm das Thema der Variationen, die Molique in dem Koncert von Moscheles gespielt hatte, sowie die Melodie »God save the King«. Der Knabe nahm zuerst das Thema von Molique und variirte es mit einer solchen Kunst, daß man eine vollständige Komposition zu hören glaubte. Dasselbe that er dann mit dem zweiten Thema, welches er später mit dem ersten vereinigte und auf die genialste Weise ineinander verflocht und verschmolz. Man darf sich deßhalb nicht wundern, daß das zahlreiche und entzückte Publikum seinen Beifallsbezeigungen kaum Grenzen zu setzen wußte.«


Von Stuttgart aus aber schrieb man, nachdem Franz hier ein Koncert gegeben:3


»Das hiesige kunstliebende Publikum hatte durch das gestrige von dem zwölfjährigen Franz Liszt aus Ungarn, einem Zögling Czerny's in Wien, gegebene Koncert einen hohen Kunstgenuß. Fertigkeit, Ausdruck, Präcision, Vortrag etc. etc., überhaupt alle Vorzüge, die einen ausgezeichneten Klavierspieler bezeichnen, besitzt dieser Knabe im hohen Grade. Hiezu kommt seiner tiefe Kenntnis im kontrapunktischen und Fugensatze, welche er in Ausführung einer »freien Phantasie« entwickelte, wozu ihm ein schriftliches Thema von einem hiesigen Künstler am Ende des Koncertes übergeben wurde. Alles dieses berechtigt die Behauptung, daß dieser Knabe jetzt schon den ersten Klavierspielern Europas zur Seite steht, vielleicht sie schon übertrifft.«


Ähnliche Berichte der Bewunderung über des Knaben eminentes Klavierspiel und wunderbares Improvisationstalent liegen aus Straßburg4 vor, wo er am 3. December im Saale »Zum Geist« und am 6. December im Theater sich hatte hören lassen.

Auf diese Weise waren zwei Monate verflossen, seit Adam Liszt mit seiner Familie Wien verlassen. Als sie in Paris ankamen, war es Mitte December. Mit hohen Erwartungen betrat Adam Liszt die Hauptstadt Frankreichs, hoffend, daß Franz hier eine Schule finden werde, die ihn für die höchsten Kunstziele vorbereite. Hierin täuschte er sich auch nicht, nur daß Paris in einer anderen Weise, als er es erwartet hatte, ihm diese Schule[51] wurde. Seine Gedanken und Wünsche kulminirten in der Aufnahme seines Knaben in das Konservatorium, wo für die Lehre des Kontrapunkts und der Komposition neben Cherubini Männer wie der Theoretiker Anton Reicha, ein Schüler Mozart's und Michael Haydn's, dessen Werk: »Traité de haute composition musicale« eine vollständige Umwälzung im Lehrsysteme der Musik hervorgerufen hatte, sodann der Parmanenser Ferdinand Paër, an dessen melodienreichen Opern sich ganz Europa erfreute, und andere thätig waren.

Man hatte allerdings schon in Wien Adam Liszt darauf aufmerksam gemacht, daß mit einer Aufnahme in dasselbe große Schwierigkeiten verknüpft wären, indem sie an bestimmte Paragraphen gebunden sei. Jetzt in Paris wiederholte man ihm dasselbe. Allein sich stützend auf das große Talent seines Sohnes – er meinte, daß diese Schwierigkeiten sich auf schwer zu lösende praktische und theoretische Aufgaben bezögen – und noch dazu versehen mit einem eigenhändigen und dringenden Empfehlungsbrief des Fürsten Metternich hoffte er die ihm möglicherweise entgegentretenden Hindernisse überwinden zu können.

Als am Tag nach der Ankunft in Paris Franz mit seinem Vater den Weg zu Cherubini antrat, begleiteten ihn nicht nur die Segenswünsche seiner Mutter, auch neue Freunde, die er sich hier bereits erworben hatte, die Familie Sebastian Erard's, des genialen Chefs der weltbekannten Pianofortefabrik, wünschten ihm aufrichtigen Herzens die Erfüllung feiner Hoffnungen.

Doch die heißesten Wünsche erweisen nie sich kräftig genug Bestimmungen zu lenken. Mit hochgespanntem Gefühl zogen Vater und Sohn aus – mit erschlafftem kehrten sie zurück. Eine Viertelstunde hatte genügt sie aller Hoffnungen und alles Muthes zu berauben. Und in der That hatten sie erfahren müssen, daß die Aufnahme als Schüler in das Konservatorium für Manche geradezu unmöglich sei, wenigstens erwiesen sich die Paragraphen, welche dem Eintritt Franz's entgegen waren, in den Händen des damaligen Direktors als unüberwindlich. Nach ihnen durfte kein Ausländer als Zögling eintreten, eine Bestimmung, die ihnen Cherubini in seiner kühlen, abstoßenden Weise, selbst des Fürsten Empfehlungsschreiben ignorirend, mitgetheilt hatte, ohne auch nur auf den Gedanken sich einzulassen, daß eine Ausnahme gegenüber einem Talent, das bereits so manche öffentliche Proben außergewöhnlichster Größe[52] gegeben, sich vielleicht ermöglichen ließe und eine Besprechung und Berathung derselben im Lehrerkollegium als wenigstens korrekt erscheine.

Franz Liszt hat später die Eindrücke, die ihn auf seinem damaligen Gang zum pariser Konservatorium beherrschten, sowie den Moment vor Cherubini geschildert, welcher den abschlägigen Bescheid ihm gab. Er erzählt den Hergang warm aus der Erinnerung des Herzens und so charakteristisch, daß ohne zu wollen, seine Schilderung vor den Augen des Lesers zu einer Scene, zu einem Bilde, fertig für den Pinsel des Malers wird. Unsere Vorstellung sieht den Italiener Cherubini vor sich als das personificirte finstere und starre Gesetz, sie sieht demselben gegenüber den ihm Gegenvorstellungen machenden Ungarn Adam Liszt, und neben letzterem, mit bittend gehobenen Händen, schwärmerischem Gesichtsausdruck, das Flammenzeichen des Genies auf der Stirn, den Knaben Franz Liszt, welcher in himmlischer Unkunde seiner selbst um die geistigen Brosamen fleht, die hier von der Tafel der Kunst fallen.

Doch lassen wir ihn selbst erzählen!


»Gleich nach dem Tag unserer Ankunft in Paris«, berichtet Franz Liszt5, »eilten wir zu Cherubini. Ein sehr warmes Empfehlungsschreiben des Fürsten Metternich sollte uns ihm vorstellen. Gerade schlug, es zehn Uhr – und Cherubini befand sich bereits im Konservatorium. Wir eilten ihm nach. Als ich kaum das Portal, wohl richtiger gesagt, den häßlichen Thorweg der Rue Faubourg-Poissonière durchschritten, überkam mich ein Gefühl tiefgewaltiger Ehrfurcht. ›Das also‹, dachte ich, ›ist der verhängnisvolle Ort. Hier in diesem ruhmvollen Heiligthum thront das Tribunal, das für immer verdammt oder für immer begnadigt‹ – und wenig hätte gefehlt, so wäre ich auf die Kniee gesunken vor einer Menge Menschen, die ich alle für Berühmtheiten hielt und die ich doch zu meiner Verwunderung wie einfache Sterbliche auf- und niedergehen sah.

Da endlich nach einer Viertelstunde peinlichen Wartens öffnete der Kanzleidiener die Thüre zum Kabinett des Direktors und machte uns ein Zeichen einzutreten. Mehr todt als lebend, aber in diesem Moment wie von überwältigender Macht getrieben stürzte ich auf[53] Cherubini zu, die Hand ihm zu küssen. In diesem Augenblick aber, und zum erstenmal in meinem Leben, kam mir der Gedanke, daß dieses vielleicht in Frankreich nicht Sitte sei, und meine Augen füllten sich mit Thränen. Verwirrt und beschämt, ohne wieder das Auge aufzuschlagen zu dem großen Komponisten, der sogar gewagt Napoleon die Stirne zu bieten, ging mein einziges Bemühen dahin kein Wort aus seinem Munde, keinen seiner Athemzüge zu verlieren.

Zum Glück dauerte meine Qual nicht lange. Man hatte uns schon darauf vorbereitet, daß sich meiner Aufnahme ins Konservatorium Schwierigkeiten entgegenstellen würden, aber unbekannt war uns bis dahin jenes Gesetz der Anstalt, das entschieden jeden Fremden von der Theilnahme ihres Unterrichts ausschließen sollte. Cherubini machte uns zuerst damit bekannt.

Welch ein Donnerschlag! Ich bebte an allen Gliedern. Nichtsdestoweniger verharrte, flehte mein Vater; seine Stimme belebte meinen Muth und ich versuchte ebenfalls einige Worte zu stammeln. Gleich dem kananäischen Weibe bat ich demüthig, ›mich mit dem Theil der Hündlein sättigen, mich wenigstens mit den Brosamen nähren zu dürfen, die von der Kinder Tische fallen!‹ Allein das Reglement war unerbittlich – und ich untröstlich. Alles schien mir verloren, selbst die Ehre, und ich glaubte an keine Hilfe mehr.

Mein Klagen und Seufzen wollte gar nicht enden. Vergeblich suchten mein Vater und meine Adoptivfamilie6 mich zu beruhigen. Die Wunde war zu tief und blutete noch lange fort.«


Cherubini's Zurückweisung des jungen Franz Liszt von der Aufnahme im Conservatoire du Musique hat damals, sowie auch später, den schärfften und härtesten Tadel hervorgerufen. Dieser Tadel, welcher gerechterweise ebensosehr einen Gesetzesparagraphen hätte treffen müssen, der befangen von einseitigstem Nationalgefühl weder allgemeinen humanen Ideen Rechnung trug noch dem großen Ge danken Raum gab diese Bildungsschule auf die Höhe einer europäischen zu stellen, traf jedoch nach allgemeiner Anschauung Cherubini allein. Gewiß mit Unrecht; denn er war nicht der Urheber des verhängnisvollen Paragraphen, er war nur dessen ausführende Hand. Das wie der Ausführung allerdings ist eine andere Sache. Ist jene Beschränkung dem Gesetze anzurechnen,[54] so fällt dieses dem Charakter des Ausführenden anheim, und nach dieser Seite scheinen die Vorwürfe, welche Cherubini getroffen, nicht ganz ungerechtfertigt. Man hat ihn, insbesondere da er diese Angelegenheit nicht einmal dem Gesammtdirektorium zur Besprechung vorlegte, des eigenmächtigen und inhumanen Handelns geziehen und sein Benehmen der Abneigung zugeschrieben, welche er überhaupt gegen frühreife Talente gehegt haben soll; auch wollte man eine geheime und instinktive Furcht vor dem Genie des Knaben erkennen. Mögen auch die ersteren Annahmen richtig sein, so dürfte letztere doch des Grundes entbehren, da Liszt keiner Prüfung, weder vor Cherubini noch vor der Schulkommission, unterzogen worden ist und ersterer in Folge dessen dem Genie des Knaben keine Beachtung geschenkt hatte. Mehrere Biographen des letzteren sprechen allerdings von einer großen Prüfung, die er durchgemacht und bei der er die schwierigsten Aufgaben des Kontrapunkts gelöst habe. Es beruhen diese Angaben jedoch auf einem Irrthum. Thatsache ist, daß er nicht geprüft worden ist. Aber welches auch die Motive zu Cherubini's Benehmen gewesen sein mögen, ob persönlicher oder künstlerischer Art, ob dem Moment oder dem Princip entsprungen, dasselbe war, wie Franz Liszt sich ausdrückte, »ein Donnerschlag« für Vater und Sohn.

Adam Liszt sah in der ersten Bestürzung seine Reise nach Paris als eine vollständig verfehlte an. Er sah nur, daß seinem Sohne die erhofften Bildungsmittel verschlossen und entzogen waren. Der Gedanke, daß die Öffentlichkeit, »der Strom der Welt«, auch künstlerische Bildungsmittel in sich trage, schien ihm noch nicht gekommen zu sein. Hierauf sollen ihn erst Professoren am Konservatorium, insbesondere Paër und Reicha, aufmerksam gemacht und darauf hingedeutet haben, daß ein für alle Schülerindividualitäten festgestellter Lehrgang wie der des Konservatoriums schwerlich in dem Maß für Franz förderlich sein würde, als er es sich vorstelle. Für ein Talent wie das seine wäre die Öffentlichkeit die richtige Schule, aber nicht das Konservatorium, welches seine Zöglinge statutarisch von der Öffentlichkeit abschließe.

Es blieb Adam Liszt nichts anderes übrig als sich in die gegebenen Verhältnisse zu fügen. Er that es, ohne dabei jedoch die künstlerischen Ziele für Franz aus dem Auge zu verlieren oder auch in irgend einem Punkt aufzugeben. Zunächst suchte er den Komponisten Paër als Kompositionslehrer für ihn zu[55] gewinnen – der Unterricht Reicha's fällt in eine spätere Zeit –, sowie Franz's Thätigkeit zu regeln.

Als er so einigermaßen und so weit es die Umstände gestatteten, diesem Drange genügt hatte, gab er mit Franz die Empfehlungsschreiben ab, welche die ungarische und österreichische Aristokratie ihrem Schützling nach Paris mitgegeben hatte. Sie führten das Talent des Knaben vor das Podium der höchsten Aristokratie Frankreichs.

In Folge dieser Empfehlungsschreiben befand sich Franz Liszt plötzlich mitten in dem vielseitigen und vielfach verschlungenen musikalischen Leben von Paris. Die Salons der Aristokratie wurden der Boden, auf welchem sein Genie, noch ehe er in die große Öffentlichkeit trat, die glänzendste Anerkennung fand. Er hatte bei der Herzogin von Berry, gleich darauf bei dem Herzog von Orleans – dem späteren Bürgerkönig Louis Philippe – gespielt, welche beide die gesellschaftlichen Spitzen des alt- und jungfranzösischen Adels, einer alten und einer angehenden neuen Zeit bildeten. Hier wie dort hatte er das Interesse für sich erweckt und wurde namentlich beim Herzog von Orleans, der schon damals »bürgerlich« zu leben und sich zu äußern begann, mit persönlichen Aufmerksamkeiten förmlich überhäuft. So sagte der Herzog zu Franz, hingerissen von seinem Spiel, er möge sich zum Geschenk ausbitten, was sein Herz begehre. Naiv bat dieser um einen Pulicinello, welchen der gerade neben ihm stehende kleine Prinz von Joinville in seinen Händen hielt. Von diesem Moment an wurden, so oft er bei dem Herzog spielte, ganze Körbe voll Spielzeug beim Fortgehen in seinen Wagen gepackt, so daß seine Mutter meinte, ein Extrazimmer zum Aufbewahren der herzoglichen Spielwaaren werde sie jedenfalls noch miethen müssen. – Der Herzog auch soll es gewesen sein, der ihn in Paris zuerst den »kleinen Mozart« nannte.

Die Gunstbezeugungen einflußreicher und vornehmer Persönlichkeiten machten ihn bald zur Mode. Kaum verging ein Abend, an dem er nicht im Salon eines Duc oder einer Duchesse, eines Prince oder einer Princesse vorspielte. Der Reiz seines Spiels ging aus Unglaubliche. Selbst hervorragende und erprobte Künstler mußten vor ihm zurücktreten.

In jener Zeit, als der Knabe Liszt nach Paris kam und die Sensationserscheinung während mehrerer musikalischer Saisons in[56] den höheren Kreisen bildete, war hier meist Rossini der Maëstro, welcher die exquisitesten Hauskoncerte arrangirte. Die Programme bestanden überwiegend aus Arien und Duetten seiner Opern, zu deren Ausführung er nur Gesangscelebritäten der pariser Oper gewann. Deßgleichen waren die mitwirkenden Instrumentisten nur Virtuosen ersten Ranges. Die Pianisten Henri Herz, Moscheles, die Geiger Lafont, Bériot, der Harfenist Nadermann, Tulou, der Flötist Karl's IX., und nun das musikalische Wunder der Welt: »le petit Litz«, wie die Pariser seinen Namen schrieben und aussprachen – sie alle gehörten zu den ausgesuchtesten Virtuosen der Koncerte der vornehmen Welt. Rossini saß bei denselben den ganzen Abend am Klavier, dirigirend und begleitend, und verließ seinen Platz nur, um ihn einem Virtuosen für seinen Vortrag einzuräumen.

»Le petit Litz« war bald der Bevorzugte unter den Virtuosen. Während nach höfischer und hergebrachter Sitte die Künstler durch einen place à part von der Gesellschaft getrennt waren, zog ihn diese entzückt in ihre Reihen. Männer wie Frauen plauderten mit ihm, sein gebrochenes Französisch ergötzte sie und ihr Lob fand so wenig ein Ende, als ihre Aufmerksamkeiten für seine Person eine Grenze. Wie in der wiener, so bürgerte er sich in der pariser Aristokratie ein, und die Kluft, die dem Künstler gegenüber sonst hier herrschte, erlangte bei ihm keine Geltung. Er war das enfant gâté der vornehmen Gesellschaft. Und wie es hier war, so war es in den Kreisen der Künstler und Gelehrten – er war das enfant gâté des gebildeten Paris.

Dieses außerordentliche Interesse für den Knaben trug nicht wenig dazu bei, daß schon sein erstes öffentliches Auftreten in Paris von dem seltensten Erfolg begleitet war. Schon damals war es für den Künstler schwierig in Paris Koncerte zu geben. Meistens debütirten sie darum nur in den Salons. Nicht nur, daß Saal und Beleuchtung sehr kostspielig, daß es schwer war die mitwirkenden Kräfte zu gewinnen und auch die publicistische Vorbereitung nicht leicht zu erringen war, so gehörte auch, wenn man nicht über einen großen künstlerischen Ruf bereits verfügte, eine ausgebreitete persönliche Bekanntschaft dazu, um aus ihr ein Auditorium gewinnen zu können. Franz Liszt hatte mit diesen Schwierigkeiten nichts zu thun. Sein Auftreten in Privatkreisen hatte ihm wie im Flug Publikum und Presse gewonnen, und blieb ihm[57] gegenüber auch die Kabale, welche kleinlicher Künstlerneid im Dunkeln webt, nicht aus, so konnte sie doch die Erfolge nicht aushalten, die, so jung er war, sich aus der Größe seines Genies und der Wirkung, die es ausübte, bestimmten.

Sein erstes öffentliches Auftreten in Paris war am 8. März 1824 im italienischen Opernhaus, unter Mitwirkung des Orchesters der italienischen Oper, eines der besten der Welt. Die auserlesenste Gesellschaft aller Kreise hatte sich zu demselben eingefunden. Der Enthusiasmus und die Bewunderung, welche er als Virtuos wie als Improvisator erregte, die Berichte selbst, welche aus jener Zeit vorliegen, streifen an das Märchenhafte.


»Der junge Liszt ist keines von den kleinen Wunderdingern, die man mit Zuckerstückchen und Fasten lehrt!« schreibt ein pariser Referent an die wiener ›Allgemeine musikalische Zeitung‹. »Er ist ein wahrer Künstler, und was für einer! Er ist, wie man sagt, elf Jahre alt; aber wenn man ihn ansieht, sollte man glauben, er sei nicht älter als neun. Seine Augen glänzen von Lebhaftigkeit, Muthwillen und Fröhlichkeit. Man führt ihn nicht zum Klavier, sondern er fliegt darauf zu. Man klatscht ihm Beifall und er scheint überrascht. Man wiederholt das Beifallklatschen und er reibt sich die Hände; diese kindliche Zerstreuung erregt lautes Lachen. Man muß dieses Kind gehört haben, um einen Begriff von seinem wahrhaft wunderbaren Talent zu haben. Man wird es nie begreifen können, wie zehn kleine Finger, welche die Tonleiter nicht umspannen, sich auf so verschiedene Weise vervielfältigen können, um die schwersten Akkorde hervorzubringen und alle Massen der Harmonie so geschickt zu mäßigen oder zu beflügeln. Man schrie Wunder unter den Zuhörern und mehrere von ihnen müssen geglaubt haben, es werde hier Zauberei getrieben; denn sie verlangten, daß man das Klavier nach der Querseite stelle, hinter welchem der junge Künstler etwas bedeckt saß. Sobald dieses aber geschehen war, erschollen die Bravos mit verdop pelter Gewalt und ein entzücktes Publikum zollte zu gleicher Zeit dem herrlichen Vortrage, dem Alter des Virtuosen, seiner Artigkeit und der Begeisterung, wovon er ergriffen war, seinen lebhaften Beifall. Die Improvisation schien ihm nur ein Spiel zu sein. Er wählte die bekannte Stelle aus Figaro's Hochzeit: ›Jetzt geht nicht mehr an Damentoiletten‹. War diese Improvisation vorbereitet? Man kann es in der That nicht glauben. Aber wäre sie es wirklich einigermaßen[58] gewesen, so waren doch ohne Widerrede die tours de force beim Schluß zu wunderseltsam, als daß mau der Begeisterung, dem Ungestüm und der Eigenthümlichkeit (la verve, la fougue et l'originalité) des Künstlers, wovon sie beseelt waren, die ehrenvollste Anerkennung versagen könnte. Liszt wurde nochmals hervorgerufen und mußte den Rundgang um die Logen machen.«


Dieser »Rundgang um die Logen«, welcher sich bei »le petit Litz'« Koncerten mehrfach wiederholte, bestand in der Auszeichnung in die Logen der vornehmen Herrschaften gerufen und von ihrem Enthusiasmus und ihrer Bewunderung nahezu erdrückt zu werden.

Eine größere Ovation als diese aber brachte ihm bei seinem ersten öffentlichen Auftreten das ihn begleitende Orchester der italienischen Oper, eine Ovation, wie sie schmeichelhafter kaum einem Künstler widerfahren ist.

Der Knabe nämlich halte ein Solo. Gespannt hörten pausirend die Musiker ihm zu. Ganz hingegeben an sein Spiel – vergaßen sie beim Ritornell einzufallen. Man verglich ihn nun in dem herrschenden galanten Stil damaliger Zeit mit Orpheus. »Orpheus rührte die Thiere des Waldes und bewegte die Steine«, sagte man, »aber der kleine Litz rührt das Orchester, daß es verstummt.«

Diese ihm von dem Orchester dargebrachte Ovation ist dem »Drapeau Blanc«7 entnommen, welcher über des Knaben Leistungen und ihre Aufnahme seitens des Publikums berichtend die Einzelheiten seines ersten pariser Koncertes der Nachwelt aufbewahrt hat. Trotzdem dieser Bericht der üblichen Floskeln des damaligen Schreibstils nicht ermangelt, so charakterisirt er dennoch die hervorragenden Seiten seines ihn über alle frühreifen Talente erhebenden Genies so scharf, daß er als ein biographisches, um nicht zu sagen kunsthistorisches Blatt gelten darf. Er lautet:


»Ich kann nicht umhin: seit gestern Abend glaube ich an die Seelenwanderung. Ich bin überzeugt, daß die Seele und der Geist Mozart's in den Körper des jungen Liszt übergegangen sind, und niemals hat sich die Identität durch deutlichere Zeichen offenbart: dasselbe Vaterland! dasselbe wunderbare Talent in der Kindheit und in derselben Kunst! Ich berufe mich deßhalb auf alle die, welche das Glück hatten den wunderbaren kleinen Künstler zu hören.

[59] Kaum kann er seine kleinen Arme bis zu den beiden entgegengesetzten Enden der Klaviatur ausstrecken, kaum erreichen seine kleinen Füße die Pedale, und doch ist dieses Kind ohne Vergleich, ist es der erste Klavierspieler Europas, ja Moscheles selbst würde sich durch diese Versicherung nicht beleidigt fühlen.

Mozart hat, indem er den Namen Liszt annahm, nichts von diesem niedlichen Gesicht verloren, welches immer das Interesse vermehrt, zu dem uns ein Kind durch sein frühreifes Talent begeisterte. Die Gesichtszüge unseres kleinen Wunderkindes sprechen Geist und Munterkeit aus. Er selbst stellt sich uns mit vieler Anmuth dar und das Vergnügen, die Bewunderung, die es, sobald seine Finger auf den Tasten herum schweifen, bei den Zuhörern erregt, scheinen für ihn ein Spiel, eine Unterhaltung, die ihn sehr belustigt, zu sein.

Es ist wenig für ihn, sagt Grimm, ein Tonstück von außerordentlicher Schwierigkeit mit der vollkommensten Präcision, mit Sicherheit und unerschütterlicher Ruhe, mit kühner Eleganz und doch mit einem durch alle Schattirungen köstlichen Gefühl, mit einem Wort, es mit einer Vollkommenheit vorzutragen, welche die geschicktesten Künstler, die schon seit dreißig Jahren dieses so schöne und so schwere Instrument studirt und es geübt haben, zur Verzweiflung bringt.

Um eine Idee des Eindrucks zu geben, welchen die Zuhörer empfinden mochten, erwähne ich nur die Wirkung, die sein Spiel auf die Musiker des Orchesters der italienischen Oper, des besten in Frankreich und Europa, hervorbrachte. Augen, Ohren und Seele waren an das magische Instrument des jun gen Künstlers gefesselt. Sie vergaßen darüber, daß sie selbst Mitwirkende in diesem Koncert waren, und alle Instrumente blieben bei dem Einfallen des Ritornells aus. Das Publikum bezeugte durch sein Lachen und Klatschen, daß es ihnen von Herzen eine Zerstreutheit vergab, die vielleicht die anerkennendste Huldigung war, welche das Talent des kleinen Wunderkindes jemals empfangen hat.

Man hatte zu Anfang das Instrument ziemlich ungeschickt aufgestellt, indem der Schweif, wie gewöhnlich, gegen das Publikum gerichtet und Liszt dadurch ganz von seinem Notenpult verdeckt war. Die Zuhörer sprachen den Wunsch aus das Kind auch gern sehen zu wollen; man veränderte nun die Richtung des Instruments und stellte es so, daß der Spielende dem Kapellmeister den Rücken[60] wendete. Ohne durch diese neue Ungeschicklichkeit außer Fassung gebracht zu sein, spielte er mit derselben Überlegenheit, die er schon in dem Koncert entfaltet hatte, ein variirtes Thema von Czerny, der sein Lehrer gewesen sein soll, wenn es übrigens wahr ist, daß er je einen gehabt. Kaum sah er in langen Zwischenräumen seine Noten. Seine Augen schweiften unablässig in dem Saal umher; und er begrüßte durch freundliches Zulächeln und Kopfnicken die Personen, die er in den Logen erkannte.

Endlich warf Liszt Pult und Notenheft bei Seite, überließ sich in einer freien Phantasie seinem Genius; und hier fehlen alle Worte um die Bewunderung auszudrücken, die er alsbald erregte! Nach einer harmonisch zusammengefügten Einleitung nahm er Mozart's schöne Arie aus der Hochzeit des Figaro: »Non più andrai« zum Thema. Wenn, wie ich früher schon gesagt habe, Liszt durch eine glückliche Seelenwanderung nur ein fortgesetzter Mozart ist, so hat er sich selbst den Text geliefert.

Sie haben schon gesehen, wie ein Kind einen Käfer, welcher unbewußt umher flattert, an einem seidenen Faden oder einem langen Haar gebunden hält und seinen schnellen Bewegungen folgt, den Faden entschlüpfen läßt, um ihn rasch wieder zu ergreifen; den Flüchtling an sich zurückzuziehen, um ihn wieder fliegen zu lassen: nun so haben Sie ohngefähr einen Begriff von der Art, wie Liszt mit seinem Thema spielt, wie er es verläßt, um sich seiner plötzlich wieder zu bemächtigen, es noch einmal verliert, um es eben so rasch wieder zu finden, wie er es durch die überraschendsten Modulationen, glücklichsten und unerwartetsten Übergänge durch alle Tonarten führt: und alles dies inmitten der staunenswerthesten Schwierigkeiten, die er scherzend nur zu schaffen scheint, um das Vergnügen zu haben über sie zu triumphiren.

Die lebhaftesten Beifallsbezeigungen und wiederholter Hervorruf hallten im Saale wieder. Die Beweise des Vergnügens und der Bewunderung waren unerschöpflich, sowie die zarten Hände der holden Zuhörerinnen unermüdlich waren. – Das glückliche Kind dankte lächelnd.

A. Martainville.«


Welcher Bericht über die Kunstleistungen eines zwölfjährigen Knaben! Und er war nicht vereinzelt in Paris; die gesammte Presse floß über in ihrem Enthusiasmus. Nach einem Concert spirituel, in welchem der kleine Liszt mitgewirkt hatte, erging[61] sich der»Etoile«8 in ähnlicher Weise wie der »Drapeau Blanc«. Er nannte sein Spiel »stolz und männlich«, »vollendet in allen Einzelheiten« und von »bezaubernder Eleganz«.

In diesen Berichten spiegelt sich Franz Liszt's künstlerische Zukunft, sein ganzes künftiges Sein als Virtuos und Komponist gleichsam im Voraus, und die Einzelmomente, die ihm ein nur ihm allein gehörendes und keinen Vergleich mit andern Genien zulassendes Gepräge, das fest und flammend zugleich, geben sollten, treten schon hervor in ihrer Vielseitigkeit, in ihrem Glanz, in ihrer massenbezwingenden Gewalt.

Von besonderem Interesse und seine Richtung als Komponist vorverkündend sind seine Improvisationen. Nicht allein die Leichtigkeit, die geniale spielende Leichtigkeit, mit welcher er die Formen aus der Unmittelbarkeit des Moments hervorbrachte, die Freiheit, mit welcher er, ganz Naivität, mit seinen Themen spielte und sie doch zugleich mit Beharrlichkeit festhielt, nicht nur die zu jeder Zeit vorwaltende »große Schöpferstimmung« – denn anders läßt sich wohl das jedem schaffenden Künstlergenius eingeborene geheimnisvolle Element, das ihn immer bereit er hält sein eigenes Selbst zu äußern, kaum nennen – nicht allein diese genannten Momente treten aus allen Berichten überraschend hervor, sie sprechen auch von »wunderseltsamen Harmonien«, von »überraschendsten Modulationen«, von »glücklichen und unerwarteten Übergängen«.

Konnte auch allen diesen Eigenthümlichkeiten noch keine Folge und Deutung gegeben werden, so waren sie doch so außerordentlich, so frappant, so nur vergleichenswerth mit dem im damaligen Kunstbewußtsein am höchsten stehenden musikalischen Genius, mit Mozart, daß sie Niemand entgehen konnten und kaum ein Bericht existirt, welcher dieselben nicht hervorhebt.

Aber auch spaßhafte Lobhudeleien und Übertreibungen aller Art kamen in der Presse vor, welche nur aus dem noch heutigentags so vielfach grassirenden Unsinn entstehen konnten, musikalisch ungebildete Litteraten und Dilettanten zu Berichterstattern zu nehmen. So nur konnte es geschehen, daß ein Journalist sich folgendermaßen über Liszt's Genie ergehen konnte:


»Gestern haben wir die Wundererscheinung des jungen Mozart unseres Zeitalters gehört. Würde man je geglaubt haben, daß[62] ein Kind im Klavierspielen es so weit bringen könne mit Begleitung des Orchesters der großen Oper zu phantasiren! Dieses Wunderkind that es zum Erstaunen aller Anwesenden.«9


Der Knabe nämlich spielte ein Koncert Hummel's mit Orchester auswendig, was allerdings damals noch ungewöhnlich war, und in Folge dessen bildete sich im Kopf jenes Referenten dieses nette Mißverständnis. Und die leipziger »Allgemeine musikalische Zeitung« druckte dieses Referat in gutem Glauben ab.

Der Erfolg seines ersten öffentlichen Auftretens in Paris war ein so durchschlagender, daß alle weiteren Produktionen nur eine Wiederholung desselben zu nennen sind. Nach ihm schien er buchstäblich »la huitième merveille du monde«. Ohne ihn gab es keine musikalische Soirée, weder in den Hôtels der Aristokratie noch in den Salons der Standes- und Geistesdistinguirten überhaupt. Man besang ihn in Gedichten und an den Schaufenstern der Kunsthandlungen prangte sein Bild mit Versen darunter10 und F.J. Gall, der Begründer der Schädellehre, gipste seine Stirn- und Schädelbildung, um zu Gunsten seiner Wissenschaft Studien daran zu machen.

Wie man seine Produktionen einzig fand, so liebte man ihn selbst. Sein Spiel und seine Person waren so verschmolzen, so Eins, daß er nicht musicirend gleichsam eine Fortsetzung seiner Musik schien und alle die Besonderheiten, welche sich durch sie ausdrückten, sich durch sein persönliches Wesen von neuem, aber durch die Art und Weise, wie er sich gab, durch die Sprache, wie durch seine Mimik äußerten. Was er that und sagte, und wie er es that und sagte, war unerwartet wie die Wendungen, die »wunderseltsamen« seiner Improvisationen. Alles aus dem Moment geboren, alles Wärme, alles Leben und Geist, nirgends eine Schwere. Sein Wesen und die Noblesse seines Gemüthes entzückten nicht minder, und so kann es kaum verwundern, daß die Augen von Paris gleichsam auf ihn gerichtet waren und er in aller Munde lebte. Bald bildeten seine eigenthümlichen Vorträge am Klavier den Konversationsstoff, wobei man sich erzählte, daß der bereits greise Tragöde[63] Talma ihn mit leidenschaftlicher Begeisterung in die Arme geschlossen und ihm eine große Zukunft prophezeit habe, bald war es die ihm zu Theil werdende Gunst der hohen Gesellschaft, von der man sprach – die Lobeserhebungen des Duc d'Orleans, die schwärmerische Zuneigung, welche der in ganz Paris bekannte, durch bittere Erfahrungen zum Misanthropen gewordene Marquis de Noaïlles für den genialen Knaben gefaßt hatte und die ihn seine menschenfeindlichen Grillen so vergessen ließ, daß er häufig seinen Mentor machte, ja sogar eigenhändig eine Art Album, bestehend aus einer Kollektion guter Nachbildungen von Meisterwerken der Malerei, für ihn zusammensetzte, um ihn auch mit dieser Kunst vertraut zu machen.

Dann wieder kursirten pikante Antworten und Anekdoten von Franz selbst. Heute theilte man sich unter Lachen mit, daß sein Übermuth einen Straßenauflauf verursacht habe, indem er eine Handvoll kleiner Münzen unter einen Rudel gamins geworfen, die nun zu seiner großen Belustigung sich um sie rauften; morgen pries man sein gutes Herz, das an keinem Nothleidenden und Bittenden vorüber gehen konnte, ohne ihn durch eine Gabe erfreut zu haben.

Das war nun wirklich so. Franz konnte Niemand eine Bitte abschlagen, selbst dann nicht, wenn sie Unbequemlichkeiten mit sich brachte. Eine hierher gehörige Anekdote, die man sich vielfach in Paris erzählte und die nicht ohne charakteristische Streiflichter ist, mag, obwohl schon vielfach verbreitet, hier einen Platz finden. Eines Tags ging er über die Boulevards, wo einer der dort mit Straßenkehren beschäftigten jungen Savoyarden ihn um einen Sou bat. Schnell griff er in die Tasche – fand aber nur ein Fünffrancsstück. Verlegen betrachtete er es einen Moment und fragte dann den Bettler, ob er wechseln könne. »Nein«, erwiderte ihm dieser mit bedauernder Miene. ›Nun, dann geht und wechselt schnell!‹ sagte er, ihm das Geldstück gebend. Der Savoyardenknabe nahm es und lief fort, um zu wechseln, hatte aber seinen Besen der Obhut des jungen Herrn vordem empfohlen, der ihn aus seiner Hand nahm und darauf gestützt seiner Rückkunst wartete. Da stand nun der junge gefeierte Künstler das anvertraute Gut festhaltend, ohne daran zu denken, wie komisch er sich ausnahm. Erst als die Blicke Vorüberfahrender ihn erstaunt und lachend ansahen, ward er sich dessen bewußt – aber er ließ den Besen nicht fallen, er hielt ihn fest wie eine Pflicht, bis sein Eigenthümer zurückkam.[64]

Solche kleine Charakterzüge, die man sich von ihm erzählte, waren eine Würze zu dem enthusiastischen Interesse, welches er hervorgerufen und das sich in einem Grade ausdrückte, der uns heutigen Tags wie eine Fabel erscheint. Die Thatsache der überall zündenden und fesselnden Wirkung seines Spiels wie seines Wesens – einer Wirkung, die so groß ist, daß die gesammte Kunstgeschichte kein zweites Beispiel kennt, erklärt sich jedoch leicht aus den Eigenthümlichkeiten derselben, die ebenso überraschend wie glänzend, ebenso vielseitig wie kräftig und zart hervortraten. Der Höhegrad des Genies bestimmt seine Wirkung.

Der letzteren kann allerdings die Zeit selbst mit ihrer Stimmung entgegenkommen und ihr eine breite Basis und erhöhten Glanz geben, wie es auch der wunderbaren Erscheinung des Knaben Liszt gegenüber der Fall war, sie kann ihr auch umgekehrt abgeneigt sein, allein aufheben kann sie dieselbe nie, nur beschränken.

Dem kleinen Liszt kam die Zeitstimmung in glücklichster Weise entgegen, und selten dürfte einem Künstler es zu Theil werden so sehr und so ganz den Boden für die Wirkung seines Talentes fertig vorzufinden, wie ihn der Knabe Liszt in Paris und in jener Zeit überhaupt fertig vorfand. Man stand in der Mitte der Restaurationsepoche. Die geistige Müdigkeit, welche nach den Stürmen und Schrecknissen der Revolution und des Kaiserreichs die Gemüther erfaßt hatte, war einer frischen Elasticität der Stimmung gewichen. Glücklich in der wieder hergestellten Ordnung und Ruhe gab man sich um so mehr mit der ganzen Unmittelbarkeit und Wärme der Empfindung hin, je mehr die vorhergehenden Zeiten schreckenreich und umdüstert, ja arm an inneren Ruhemomenten sich gezeigt hatten.

In solchen Augenblicken der Zeit und des Lebens ist die Empfänglichkeit für den Genuß höher gestimmt und allgemeiner. Die streitenden Mächte treten zurück und die Gefühls- und Phantasiewelt tritt ausruhend und geschäftig zugleich in den Vordergrund und giebt sich um so rückhaltsloser an Erscheinungen hin, die den inneren Zustand in erhöhten Schwung versetzen, je größer nach dieser Seite die Entbehrungen waren, die Herz und Phantasie erlitten. Da wird der Enthusiasmus dann zu hellen Gluthen und giebt der Zeit und ihren Dingen besondere Beleuchtung, helle Strahlen insbesondere auf die Kunstgenien werfend, deren Richtung der allgemeinen Stimmung Nahrung bringt. Und das war bei »le petit Litz« der Fall.

Fußnoten

1 Von Franz Liszt selbst erzählt. Siehe: Franz Liszt's »Gesammelte Schriften« (Breitkopf und Härtel) II. Band. »Über die Stellung der Künstler.«


2 Augsburger »Allgemeine Zeitung«. 17. Oktober 1823.


3 5. November 1823. »Schwäbischer Merkur.«


4 Siehe leipziger »Allgemeine musikalische Zeitung«. Bd. XXVI, Jahrgang 1824, Seite 627.


5 »Gesammelte Schriften Liszt's«, II. Bd. »Über die Stellung der Künstler.«


6 Die Familie Erard.


7 9. März 1824.


8 15. April 1824.


9 Vergl. Leipziger »Allgemeine musik. Zeitung«. XXVIII. Band, 1826, Seite 88.


10 Von Roehn gezeichnet und von Villain lithographirt.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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