IX.

[80] Le petit Litz als Komponist.

Wieder nach Paris. Aufführung des »Don Sancho«. Gegnerische Kritik. Impromptu (opus 3). Allegro di Bravura (opus 4). Etudes (opus 1). Werth der Jugendarbeiten unserer Meister, Allgemeiner Vergleich der Jugendarbeiten Liszt's mit denen Beethoven's.


So war unter dem sich verändernden Gemüthszustand beider der Sommer verstrichen und der Zeitpunkt herangekommen, welcher Vater und Sohn zur Aufführung des »Don Sancho« von England zurück wieder nach Paris rief.

Franz wurde wieder mit Jubel begrüßt. Seinen Gönnern und Freunden entging nicht sein verändertes Wesen, doch schrieben sie seine Zurückhaltung und seinen Ernst der Unruhe zu, in welche ihn die Vorbereitung zur Aufführung seines Erstlingswerkes versetzen mußte, namentlich auch da die Kabale durchaus nicht müßig war sie zu verhindern oder wenigstens dem Werkchen ein fiasco zu bereiten. »Le petit Litz« war wieder der Mittelpunkt der Konversation der pariser musikalischen Kreise; »le petit Litz« – das Wort, das den jungen Künstler so tief verletzte, daß es ihm zum Theil die Freude an der bevorstehenden Aufführung seines »Don Sancho« raubte. Es lehnte sich nicht nur sein Selbstgefühl gegen dasselbe auf, es weckte auch Zweifel in ihm, die ihm sonst fremd weren: Zweifel gegen sich selbst. »Dem Kinde gilt das Lob, nicht dem Künstler«, sagte er sich halb gekränkt in seinem Selbstgefühl, halb mißtrauisch gegen sein eigenes Können.

So kam der 17. Oktober (1825) heran – der Tag der Aufführung des »Don Sancho«. Im Opernhaus hatte ein glänzendes Publikum sich eingefunden; Rudolf Kreutzer dirigirte,1 der[81] edle und gefeierte Tenorist Adolf Nourrit sang die Hauptrolle, alle Mitwirkenden thaten ihr Bestes zur Sicherung des Erfolges und mit wachsender Theilnahme folgte das Publikum dem Erstlingswerk des jugendlichen Komponisten.

Als der Schluß kam, wollte der Beifall nicht enden. Stürmisch rief das Publikum nach seinem Liebling und nach Nourrit, dem Sänger der Hauptpartie. Da nahm letzterer, eine große stattliche Erscheinung, in übersprudelnder Liebenswürdigkeit den für seine vierzehn Sommer noch sehr kleinen Komponisten auf seine Arme und trug ihn vor das in seinem Jubel keine Grenzen kennende Auditorium. Kreutzer kam ebenfalls und umarmte und herzte ihn. Adam Liszt aber war fassungslos vor Freude. Thränenströme entstürzten seinen Augen – eine Aufnahme, wie der »Don Sancho« sie gefunden, überstieg jede seiner Erwartungen! Franz dagegen war ihrer nur des Vaters wegen froh, sein Wesen war ernst, nahezu abstoßend. Daß Nourrit trotz seines Sträubens ihn wie ein Kind vor das Publikum getragen, wurmte ihn auf das tiefste. Dabei faßte er den Applaus auf als nur seiner Jugend geltend und war kaum über sich und den Werth seiner Arbeit zu beruhigen.

Das Geschick des »Don Sancho« aber hatte bald ein Ende. Nachdem er noch zweimal unter gleich günstiger Ausnahme wie das erstemal aufgeführt worden war, wurde die Partitur dem Archiv der Académie royal übergeben, ohne wieder zur Aufführung zu kommen – das Schicksal aller Erstlingswerke jugendlicher Komponisten. Trotzdem war das Liszt's von dem Geschick noch begünstigter als Mozart's »La finta semplice«; denn obgleich im Auftrag Joseph II. geschrieben, hatte diese Oper in Folge von Kabalen gar keine Aufführung erlebt. Dagegen widerfuhr Liszt's Jugendwerk ein anderes Unglück. Als vor mehreren Jahren Feuer in der Bibliothek der großen Oper in Paris ausbrach, ward es ein Raub der Flammen – ein Ende des »Don Sancho«, das um so mehr beklagt werden muß, als keine Abschrift der Partitur vorhanden und in Folge dessen eine Beurtheilung der damaligen Reife des jugendlichen Komponisten nach lyrisch-dramatischer Seite hin unmöglich ist.

Nur das Urtheil derer bleibt, die den Aufführungen des »Don[82] Sancho« 1825 beigewohnt. Nach diesem war dessen musikalischer Theil gewandt, im vollsten musikalischen Fluß und im Stile Mozart's geschrieben. Die Feinde des jugendlichen Komponisten jedoch suchten gleich dem pariser Berichterstatter der leipziger »Allgemeinen Musikzeitung« die Ansicht. zu verbreiten, daß »dieser Mozart noch keine Partitur zu schreiben im Stande sei«, auch erfanden sie eine Niederlage des »Don Sancho«. »Das Werk erschien und – fiel«, schrieb der Referent der genannten Zeitung, eine Notiz, die, so unbedeutend und vorübergehend sie scheint, doch noch einmal, mehr als dreißig Jahre nach der Aufführung des »Don Sancho«, im Kampf musikalischer Zeitfragen auftreten und die Quelle vieler Vorurtheile und gehässiger Kritiken gegen den in seiner Reife stehenden Komponisten werden sollte2 – ein Grund mehr den Flammentod des »Don Sancho« zu bedauern.

Obwohl durch denselben ein Einblick in die dramatisch-lyrische Gestaltungsfähigkeit des Knaben für diese Epoche uns entzogen ist, so sind doch einige andere ihm angehörende Kompositionen – Klavierstücke – noch vorhanden, die uns für jenen Verlust einigermaßen schadlos halten und, wenn sie uns auch kein Urtheil über den Fluß seiner melodischen Quelle ermöglichen können, doch auf denselben, sowie auf sein Kompositionstalent mit Sicherheit zurückschließen lassen, auch neben Jugendarbeiten anderer Meister gestellt Anhaltspunkte über die Art und Entwickelung seines Genies gewähren. Eine Betrachtung derselben dürfte hier am Platze sein.

Doch zuvor noch einige die im VIII. Kapitel berührte und 1825 in Manchester ausgeführte»Grande Ouverture« für Orchester betreffende Bemerkungen. Die von mir daselbst mitgetheilte Notiz ist die einzige Spur geblieben, welche ich über sie entdeckt habe. Liszt hat in seiner Jugend überhaupt viel für Klavier sowie für Orchester komponirt, von dem nichts gedruckt worden ist. Diese Kompositionen lassen sich in zwei Klassen eintheilen, in solche, von denen wir etwas wissen, und in solche, von denen wir nichts wissen. Zu der ersten – die einzige natürlich, die[83] für unsere Betrachtung existirt – ist das seiner wiener Lehrzeit angehörende»Tantum ergo« zu zählen, sodann die Sonate, mit welcher er Rode mystificirte, seine Operette »Don Sancho« ein Klavierkoncert in Amoll (siehe nächstes Kapitel), deßgleichen obige Ouvertüre – alles Kompositionen, die uns nur dem Namen nach durch ihre Erwähnung seitens der musikalischen Tages- und Zeitgeschichte erhalten geblieben sind. Ihr Autor, bei dem ich über ihr Schicksal nachgeforscht, meinte, daß sie damals in Ermangelung eines festen Domicils verloren gegangen. Gegenüber der Sorgfalt jedoch, welche Adam Liszt über Alles breitete, was mit dem Genie seines Sohnes zusammenhing, läßt sich diese Annahme – nach meinem Dafürhalten – nicht durchweg adoptiren und ich glaube, daß manchen Tag noch mancherlei aus festen, ihm selbst unbekannten Kisten, in denen viel zur Zeit noch »versorgt« liegt, hervorkommen kann. Doch dem sei wie ihm wolle: den größten Verlust wird immer, wenn von diesen Kompositionen nichts wieder auftauchen sollte, die Würdigung des »kleinen Liszt als Komponist« dadurch erleiden, obwohl schon allein ihre Namen als Kompositionen, welche seiner Zeit gereiften Künstlern, sowie der Öffentlichkeit in Weltstädten wie Paris und London lebendig vorgeführt werden konnten, von keiner kleinen Bedeutung für sie bleiben. Was nun die »Grande Ouverture« betrifft, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß sie die zum »Don Sancho« war, daß man sie aber nicht als solche nannte, weil die Operette überhaupt ihrer Aufführung noch entgegen sah. Festeren Boden für alles Was und Wie geben selbstverständlich die Kompositionen der Jugendperiode Liszt's, welche durch ihre Veröffentlichung uns vorliegen. Flüchten wir uns zu ihnen zurück!

Hier sind es drei Klavierkompositionen (unter ihnen eine Sammlung), welche dem Knabenalter des Meisters angehören und dem Urtheil über sie, sowie einem Vergleich mit Erstlingsarbeiten anderer Meister das nöthige Material liefern.

Die jüngste derselben ist ein »Impromptu« über Themen von Rossini und Spontini. Das Kompositionsjahr desselben ist auf 1824 festzusetzen. Die Bürgschaft für die Richtigkeit dieser Annahme liegt in den Themen, welche den Opern »Donna del Lago« und »Armida« von Rossini, »Olympia« und »Ferdinand Cortez« von Spontini entnommen sind. Diese sämmtlichen Opern gehören der Zeit vor 1824 an. Hätte Liszt dieses »Impromptu«,[84] welches im Zusammenhang mit seinen Koncert- und Salonproduktionen steht, ein Jahr später komponirt, so würde er zweifellos ein Thema des neuesten Produktes des musikalischen Zeitsternes Rossini»Il Viaggio a Reims«3 – gewählt und damit den Ereignissen des Tages Rechnung getragen haben. Die zweite dieser Kompositionen, ein »Allegro di Bravura«, gehört nach der uns vom Komponisten gewordenen Angabe ohngefähr derselben Zeit an. Im Vergleich aber mit dem »Impromptu« liegt es näher, dasselbe seiner vollendeteren Form, sowie seines durchweg reiferen Inhalts wegen in ein höheres Jahr (1825) zu verlegen. Das dritte Werkchen endlich, eine Etüdensammlung, gehört dem Jahr 1826 an und wurde auf der zweiten Reise durch die französischen Departements komponirt. Dieses Werkchen ist das vielseitigste und hat musikalisch bleibenden Werth, während die vorhergehenden in Beziehung zum Komponisten, sowie zu dem damaligen modischen Stil der Klaviermusik nur einen biographischen beanspruchen können. Alle drei zusammen bilden in ihrer Reihenfolge einen Tritonus, welcher mit Liszt's innerer Entwickelung Hand in Hand ging.

Bezüglich der Opuszahlen dieser Werkchen bleibt noch eine Bemerkung zu machen. Das »Impromptu« nämlich trägt die Opuszahl 3, das »Allegro« die Opuszahl 4 und die »Etüden« die Opuszahl 1: Zahlen, welche bezüglich ihrer hier angegebenen Entstehungsfolge im Widerspruch mit dieser zu stehen scheinen. Dieser Widerspruch aber löst sich dadurch, daß nur die deutschen Ausgaben, welche sämmtlich viele Jahre später als die ersten französischen erschienen sind, diese Nummern tragen.

Interessant für die Beurtheilung der künstlerischen Entwickelung Liszt's ist der musikalische Theil dieser drei Jugendwerke. Wie es bei allen Jugendarbeiten unserer großen Tonmeister der Fall ist, zeichnen sich auch die Liszt's weniger durch Originalität als durch sichere Reproduktion des bereits Vorhandenen, innerhalb der kleineren Musikformen, aus. Haydn, Mozart, Beethoven – alle haben sich anfangs an die Hauptvertreter ihrer Zeit angelehnt. Dasselbe ist bei Liszt der Fall. Bei Mozart's Knabenarbeiten leben in jedem Lauf, in jeder Harmonienfolge die italienischen Opernkomponisten des achtzehnten Jahrhunderts. Die [85] Beethoven's könnte man, wäre der Name des Komponisten unbekannt, füglich für Arbeiten der modischen Klavierkomponisten der Zeit 1730–1780 halten. Die dem Knabenalter Liszt's angehörenden Kompositionen sind ebenfalls Reflexe der im Koncertsaal herrschenden Geschmacksrichtung der Virtuosenepoche unseres Jahrhunderts. Das


Impromptu4

sur les Thêmes de Rossini et Spontini,


welches seiner äußeren Anlage nach dem von den Virtuosen vertretenen Zeitgeschmack entsprechend ist, bringt beliebte mit Variationen umrankte Themen im potpourriartigen Nacheinander, bei denen weniger deren reinmusikalische Durcharbeitung als der Wohllaut und die Brillanz des Figurenwerks hervortretend ist. In letzterem liegt der Schwerpunkt. Nichtsdestoweniger ist dasselbe überraschend geschickt und mit bereits großer technischer Fertigkeit gearbeitet. Es ist alles leicht und flüssig, nirgends macht sich eine Schwerfälligkeit oder ein Zwang fühlbar, alles ist urmusikalisch. Sich im lyrisch-brillanten Stil, der in Mozart wurzelt, aber seine edelste Entwickelung in Clementi und Hummel gefunden hat, bewegend lehnt es sich mit seiner Brillanz und seinem Wohllaut, seiner Durchsichtigkeit und Grazie an Hummel an und verräth, ganz wie das Figurenwerk dieses Meisters, den geborenen Virtuosen. Das


Allegro di Bravura5

dédié à Msr. le Compte Thadée d'Amadé,


steht in seiner Form, wie als reinmusikalische Leistung ungleich höher als das »Impromptu«, zu welchem es sich verhält, wie ernstes Musikerthum zu liebenswürdiger Virtuosentändelei. Keine landläufigen Opernthemen liegen ihm zu Grunde. Die Themen, von ihm selbst erfundene, sind mit der den klassischen Meistern eigenen Zähigkeit verarbeitet. Kein Takt erinnert an eine vierzehnjährige Knabenhand.[86] Mit staunenswerther Sicherheit und Festigkeit ist das Hauptthema in allen Wendungen, wie der klassische Klaviersatz sie vorschreibt, durchgeführt und bestätigt alles, was die Koncertberichte über seine Improvisati sagten. Die Form des »Allegro« ist wie ein erster Sonatensatz Beethoven's, aber mit Hummel'scher Brillanz ausgeführt. Ebenfalls dem lyrisch-brillanten Klaviersatz angehörend erinnert es mehrfach an Hummel's Adur-Rondo mit Orchester. Die Modulationen aber wurzeln in denen Beethoven's. Die Erweiterungen der Verwandtschaft der Tonarten, wie sie dieser Meister praktisch durch seine Werke gelehrt, zeigt sich in dem »Allegro« bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Nach Beethoven vollzieht sich die Verwandtschaft der Tonarten nicht nur nach Quinten, wie z.B. Cdur – Gdur – Ddur etc. etc., sondern nach der Verbindung ihrer Hauptaccorde, wonach z.B. die Tonart Cdur alle dem C terzverwandten Harmonien in sich trägt: Amoll und Emoll, Adur und Edur, Asdur und Esdur. Diese Modulationsweise tritt bei den Repräsentanten des lyrisch-brillanten Stils noch nicht vollständig ausgeprägt auf. Das »Allegro di Bravura« aber bewegt sich mit großer Leichtigkeit in ihr. Schon dessen Einleitung bringt einige kräftige Züge Beethoven'scher Modulationsweise.

Die bedeutendste der Jugendarbeiten Liszt's jedoch ist seine Etüdensammlung:


Etudes (opus 1)

pour le piano en douze Exercises.6


Die Titel-Vignette der ersten Hofmeister'schen Ausgabe stellte anspielend auf den jugendlichen Komponisten ein in der Wiege liegendes Kind dar. Gewiß hätte keine andere Allegorie die eingeborene Reife des Genies in Beziehung zu seinem Jugendwerk gebracht besser ausdrücken können. Obwohl individuell noch in der Wiege liegend, sind diese Etüden bereits reife Erzeugnisse, die in mehrfacher Beziehung unsere Aufmerksamkeit beanspruchen.[87]

Geben sie einerseits zur Feststellung seines damaligen Könnens das ergiebigste Material, so sind sie andererseits zur Darlegung seiner Entwickelung als Komponist und insbesondere zur Erfassung der Umwälzungen, welche sich bezüglich ihrer in den folgenden Jahrzehnten vollzogen, eines der werthvollsten und interessantesten Dokumente geworden. Sie enthalten die Keime zu seinem späteren unerreicht dastehenden Riesenwerk: »Etudes d'exécution transcendante«. Schon hieraus ist zu ersehen, daß sie keine Etüden à la Czerny sind, deren Schätzung sich aus ihren fingererziehlichen Eigenschaften bestimmt. Bannen sie auch, wie es im Charakter der Etüdenform liegt, ein Motiv in ein sich fortspinnendes Figuren-, Lauf- und Passagennetz, so ist dasselbe doch dabei stimmungsgetränkt und im Hinblick auf den allgemeinen Standpunkt damaliger Klaviermusik sogar musikalisch interessant. Bei keiner der zwölf Etüden verleugnet sich musikalisch-schaffendes Genie. Jede hat ein geniales Gepräge, sei es im Motiv, in einer Wendung desselben, im Aufbau der Läufe oder sei es in der Kraft der Rhythmik oder im Ausdruck der Stimmung. Stimmung haben alle. Ebenso einen energischen Zug – »verve« nennt ihn der Franzose. Erstere aber ist noch gebunden durch die musikalische Form sowohl, als durch die Jugend des Komponisten, welche entfesselten Stimmungen noch ferne lag. Wie das »Allegro di Bravura«, gehören auch diese »Etudes« dem lyrisch-brillanten Stil an.

Im Hinblick auf Liszt's eigenartige Wege, welche er als Komponist einschlagen sollte, im Hinblick auch darauf, daß gerade in diesen kleinen Etüden – keine bewegt sich über die Dauer von vier Seiten – Späteres vorbereitet liegt, überrascht es ungemein, jeden Takt, jede Periode streng in den Grenzen klassischer Zucht zu finden. Jede Dissonanz geht noch ihren züchtig klassischen Weg und unter den Harmonien findet sich kaum eine Spur moderner Diskordanz. Das sind Erscheinungen überraschendster Art. Sie stellen fest, wie gediegen und historisch korrekt sein musikalisches Können war und in welchem hohen Grad er die Formen beherrschte; sie zeigen aber auch, wie gebunden seine Eigenartigkeit sich noch im Kreise dessen bewegte, was die Erziehung ihm übermittelt hatte und ihm hatte übermitteln können.

Noch nach einer anderen Seite frappiren diese »Etudes en douze Exercises«. Als Unterrichtsmaterial betrachtet können sie zu dem Glauben verführen, weniger der Erfahrung eines fünfzehnjährigen [88] Maëstro anzugehören als einem im Dienste des Lehrfachs ergrauten Veteranen. Die Wahl der Motive ist nach technischbildender Richtung mit einer Sicherheit und Weisheit getroffen, wie sie das Talent allgemeiner Rangklasse nur durch vieljährige Praxis sich erringen kann. Der Instinkt des Genies überflügelt alle Erfahrung. Ebenso ist die Art ihrer Behandlung. Keine der Etüden ist ohne eine Wendung, welche der Entwickelung der Finger nicht besonders ersprießlich wäre. Dabei tritt das virtuose Element in den Hintergrund, nur angehenden Schwierigkeiten das Feld lassend. Ihr pädagogischer Werth stellt sie neben die des Etüdenvaters Johann Baptist Cramer. Wenn trotzdem Liszt's Jugendwerk in der Literatur des Unterrichts nicht wie Cramer's Etüden eingebürgert ist, so dürfte das dem Umstand zuzuschreiben sein, daß, indem Liszt sie zehn bis zwölf Jahre später zu seinen Riesenetüden umschuf, er sie gleichsam aus der Öffentlichkeit verbannte. Auch die alles überragenden Glanzstücke seiner Virtuosenepoche mögen ihrer Verbreitung im Wege gestanden haben. Doch ist eine solche, wenn auch verzögert, voraussichtlich.

Alle drei der Knabenepoche Liszt's angehörenden Werkchen stehen seiner späteren Eigenartigkeit noch fern. Sie stehen vor den Kämpfen seiner individuellen Entwickelung bringen aber trotzdem, wenn auch ganz leise, Vorklänge späteren Schaffens. So enthält das »Impromptu« z.B. einige Takte (auf der zweiten Seite), die sehr an ungarische Musik erinnern. Im »Allegro« und in den »Etüden« hingegen finden sich keine solchen Anklänge vor – vielleicht, daß jene eine schwache Reminiscenz an die Zigeunermusik seiner Heimat waren? Im Ganzen bewegen sich diese Kompositionen auf der Höhe der Salonwerke der Zeit, sich der besten Richtung der Virtuosen anschließend.

Ein Vergleich der Jugendarbeiten Liszt's mit den Jugendarbeiten Beethoven's bietet manches Interessante. Dem »Impromptu« lassen sich zwei kleine Lieder, die Beethoven ebenfalls als dreizehn- und vierzehnjähriger Knabe 1783 und 1784 komponirt hatte – »Schilderung eines Mädchens« und »An einen Säugling« –, sowie drei 1783 komponirte Klaviersonaten7 zur[89] Seite stellen, dem »Allegro di Bravura« ein »Rondo« in Adur (komponirt 1784) und das 1785 komponirte, erst nach des Meisters Tode edirte (1836) Trio in Esdur für Klavier, Violine und Violoncell. Den »Etudes en douze Exercises« läßt sich kein Seitenstück von Beethoven geben. Das einzige wären die 1789 gesetzten »II Präludien in allen zwölf Dur-Tonarten«, welche 1803 als opus 39 veröffentlicht worden sind. Aber abgesehen davon, daß Beethoven bereits im neunzehnten Lebensjahr stand, als er sie komponirte, also vier Jahre älter war als Liszt, als dieser seine »Etudes« schrieb, sind sie so sehr nur kontrapunktisches Schulwerk ohne Erfindung, daß sie als Pendant zu den Etüden unzulässig sind.

Auch bei Beethoven's Kompositionen seiner Knabenjahre zeigt sich alles in einem überraschend musikalischen Fluß, die Form klar und fertig, alles musikalisch, aber alles ebenfalls nur als Reproduktion der herrschenden Klaviermusik. Der Geschmack und die Richtung der Zeit bilden ihren Hintergrund in gleicher Weise wie bei Liszt, nur daß diese Zeiten selbst verschiedene waren. Die zwei kleinen Lieder Beethoven's stehen in Form und Ausdruck ganz auf der naiven Stufe, welche die Lieder der »Jagd« Adam Hiller's einnehmen. Ebenso bewegen sich die drei Klaviersonaten auf demselben Terrain, auf welchem sich die damals beliebtesten Klavierkomponisten Johann Wanhal (1739–1813), Georg Christoph Wagenseil (1688–1779), Johann Franz Xaver Sterkel (1750–1817), Anton Eberl (1766–1817), alle Vorläufer und Zeitgenossen Mozart's, bewegten. – Sein »Rondo« dagegen könnte man für eines der kleinen Mozart's, wie sie bei seinen zweisätzigen Sonaten vorkommen, halten. Es ist noch sehr dürftig, aber formkorrekt und technisch-flüssig. Das Esdur-Trio beherrscht bereits eine größere Form, gehört jedoch ebenfalls mehr dem vor Mozart'schen Stil als diesem an.

Gegenüber den Leistungen ihrer Zeit steht der Werth und die Art der Leistungen der Knaben Beethoven und Liszt sich gleich. Im Vergleich miteinander aber macht sich die Frühreife des letzteren, sowie seine ihm angeborene Virtuosität bemerkbar. Die ornamentische Erfindung ist bei Liszt reicher als bei Beethoven. Er besaß bereits nach dieser Seite eine Bravour technischen Gestaltens, wie sie der letztere in gleichem Alter stehend noch nicht besaß. Auch bezüglich der Stimmung war Liszt reifer. Die Einleitung zum »Allegro di Bravura« z.B. ist von einer männlich[90] kräftigen Stimmung getragen, wie sie bis dahin noch kein Komponist in so jugendlichem Alter, auch Beethoven nicht, zum Ausdruck gebracht hat.

Überhaupt treten bei Liszt schon die Anzeichen individueller Stimmungen – die der Energie, des Schwungs und der Grazie, sowie religiöse Stimmungen – faßbar auf, bei Beethoven nicht. Die Stimmungen, welche die Arbeiten des letzteren ausdrücken, sind nur Stimmungen der musikalischen Form, jedoch nicht solche der Individualität. Bei ihm erscheinen in dieser Jugendepoche die individuellen Stimmungen noch vollständig geschlossen, während sie bei dem frühreifen Liszt schon emportreiben wollen.

Im Ganzen stehen die Jugendarbeiten beider ihrem Gehalt nach sich gleich. Und obwohl im ersten Moment das gewichtige Wort »Trio« Beethoven ein Übergewicht zu geben scheint, so wird dasselbe hinreichend aufgewogen durch Liszt's Operette, Ouvertüre, Amoll-Koncert, trotzdem diese Kompositionen verschollen sind. Und selbst wenn wir von diesen Kompositionen ganz abstrahiren wollten, würde das »Trio« kein Übergewicht vom reinmusikalischen Standpunkt aus in Anspruch nehmen können; denn es läßt sich ihm das »Allegro di Bravura« entgegenhalten.

Was das erstere durch die mehrsätzige Form (es besteht aus einem Allegro moderato, Scherzo undRondo, die jedoch in den engsten Dimensionen sich bewegen), sowie durch Breite des Klanges den Anschein hat mehr zu besitzen, das gleicht jedes Übergewicht des Trios aufhebend das »Allegro« aus durch breitere Form, durch Glanz des Tonspiels und Kraft der Stimmung. – Schließen wir von den soeben betrachteten Klavierstücken auf den Werth des »Don Sancho« zurück, so läßt sich mit Bestimmtheit annehmen, daß, obwohl diese Operette keine eigenartige Leistung sein konnte, sie des musikalischen Flusses doch keinesfalls entbehrt hat und ihr formeller und melodischer Theil im Anschluß an die nach-Mozart'sche lyrische Oper sich befand. Bei derartigen Jugendarbeiten handelt es sich nicht um originale Meisterleistungen – die gehören ausschließlich dem reisen Mannesalter –, auch nicht um bahnbrechende. Im jugendlichen Alter tritt die Schöpferkraft nur reproducirend auf. Die Art aber der Reproduktion, die Höhe der technischen Fertigkeit, das Gefühl für Stil und Form, ihr Fluß – das sind die echten Merkmale des Genies.[91]

Die Kompositionen der Jugendepoche Liszt's, welche bekannt geworden, sind in chronologischer Ordnung folgende:


  • 1823 (11 Jahre alt) Tantum ergo für Chor, Manuskript verloren.

  • 1824 (12 Jahre alt) Impromptu für Klavier, gedruckt 1824.

  • 1824 (12 Jahre alt) Operette »Don Sancho« Manuskript verbrannt.

  • 1825 (?) (13 Jahre alt) »Grande Ouverture«, Manuskript verloren (?).

  • 1825 (13 Jahre alt) Allegro di Bravura für Klavier, gedruckt 1825.

  • 1825 (?) (13 Jahre alt) Sonate für Klavier, Manuskript verloren (?).

  • 1826 (14 Jahre alt) Etudes en douze Exercises für Klavier, gedruckt 1826.

  • 1827 (?) (16 Jahre alt) Koncert für Klavier, Manuskript verloren (?).


Fußnoten

1 Die Direktion Kreutzer's mag einen pariser Berichterstatter der leipziger »Allgemeinen Musikzeitung« zu der von ihm als Thatsache ausgesprochenen Vermuthung verleitet haben, daß »Kreutzer den Don Sancho instrumentirt habe«, was nach dem Bisherigen keiner weiteren Widerlegung bedarf.


2 Als Liszt in den fünfziger Jahren seine bahnbrechenden Orchesterwerke schuf, suchte ein Theil der konservativen Partei dem Publikum seinen »Mangel an Kompositionstalent« recht anschaulich zu machen und citirte jene Notizen über die Oper des vierzehnjährigen Knaben. Ein Literat der »Grenzboten« schrieb 1857 buchstäblich: »Nicht gewarnt durch die Erfolglosigkeit der Oper von 1825 ließ er sich überreden Komponist zu werden etc. etc.«


3 Komponirt zur Krönungsfeier Karl's X.


4 Deutsche Ausgabe: als opus 3, bei Pietro Mechetti in Wien.


5 Deutsche Ausgabe: als opus 4, bei Friedrich Kistner in Leipzig.


6 Deutsche Ausgabe: als opus 1, bei Fr. Hofmeister in Leipzig 1835. Die erste französische Ausgabe er schien 1826 bei Boisselot in Marseille. – Robert Schumann (N. Zeitschrift für Musik 1839, II. Band No. 30) bezeichnet Lyon als den Verlagsort, Liszt nannte mir obige Firma. – Diese Ausgabe ist Mademoiselle Lydia Garella gewidmet.


7 Die meisten Ausgaben dieser Klaviersonaten haben auf ihrem Titel die Bemerkung. »Im zehnten Lebensjahre geschrieben«. Diese Angabe ist irrig, wie auch Beethoven's Biographen Marx, Thayer, Nohl es nachweisen. Er war dreizehn Jahre alt, als er sie komponirte.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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