Erstes Kapitel.

Das Haus Mendelssohn.

Zweimal in einem Zeitraum von kaum fünfzig Jahren sollte der Name: »Mendelssohn« mit leuchtenden, unvergänglichen Buchstaben eingetragen werden in die Geschichte deutschen Lebens und deutscher Kultur. Jener früheste Träger desselben: Moses Mendelssohn, der eine so weit reichende Bedeutung für das Judenthum gewann, nahm zugleich an den Kämpfen, welche der deutsche Geist im vorigen Jahrhundert gegen undeutsches Denken und Dichten führte, lebhaft und erfolgreich Antheil; wie der Enkel des ausgezeichneten Mannes, wie Felix Mendelssohn-Bartholdy, dieser grosse Meister der Töne, der Musik unserer Tage eine neue und eigenthümliche Richtung gab und ihr erneuten Aufschwung verleihen half, das nachzuweisen ist der Zweck des vorliegenden Werkes.

Jener grosse Philosoph und aufopfernde Erzieher und Anwalt seines Volkes wurde zugleich der eigentliche Begründer des Namens wie des Hauses Mendelssohn. Noch bis zum Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts war es unter den Juden nicht Sitte, einen erblichen Familiennamen zu führen; der Sohn erhielt vielmehr nur einen Vornamen, dem er dann den seines Vaters zufügte. Erst durch Verordnung der Regierung (1805) wurden die Juden in Preussen veranlasst, Familiennamen anzunehmen.

[3] Moses Mendelssohn ist in Dessau, wo sein Vater Namens Mendel als Lehrer an der jüdischen Gemeinde und Thorarollenschreiber wirkte, am 26. September 1729 geboren. Da die Kenntnisse des Vaters sehr bald dem regen Wissensdrange des Sohnes nicht mehr zu genügen vermochten, nahm sich seiner ferneren Unterweisung der Oberrabbiner der Dessauer Gemeinde David Hirschel Fränkel an, und als dieser 1743 nach Berlin berufen wurde, folgte ihm auch, gegen den Willen des Vaters, sein Schüler dorthin. Hier verlebte er Jahre der bittersten Sorgen und Entbehrungen, bis ihn 1750 der reiche Seidenwaaren-Fabrikant Isaak Bernhard als Lehrer und Erzieher in sein Haus aufnahm. Diese Stellung schützte ihn nicht nur vor weiteren Sorgen, sondern liess ihm auch hinlänglich Zeit zu jenen ernsten Studien, die ihn zu einem der bedeutendsten Männer seiner Zeit machten. Als er vier Jahre später seine Aufgabe als Lehrer und Erzieher erfüllt hatte, nahm ihn Bernhard als Buchhalter und Correspondent in sein Geschäft, das er in späteren Jahren dann als Factor leitete und dem er nach Bernhard's Tode als Theilhaber angehörte.

Noch vor Erlass der erwähnten Regierungsverordnung hatte er den Familiennamen »Mendelssohn« angenommen. Seine Freunde: Lessing, Nicolai, Abbt u.a. nannten ihn nur » Moses«, wie er seine Briefe unterschrieb. In einem Briefe an eine Leipziger Freundin unterzeichnet sich seine Frau: »Fromet, Frau des Moses Dessau«1 Als Schriftsteller führte er den Namen: »Moses Mendelssohn.«2

Bereits in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte er unter seinen Glaubensgenossen eine Bedeutung gewonnen, dass man auf ihn wie auf einen neu erstandenen Propheten sah. [4] Welch grossen Antheil er überhaupt an der geistigen Entwickelung der letzten Decennien seines Jahrhunderts nahm, ist hinlänglich bekannt. Von speciellem Interesse für unsern Zweck ist sein Verhältniss zur Tonkunst. Der berühmte Philosoph und Mathematiker war auch ein Freund der Musik. Namentlich das Studium der Mathematik mochte ihn veranlasst haben, die Musik auch practisch zu erlernen. Er nahm bei dem bekannten Theoretiker Kirnberger, mit dem er seit 1757 freundschaftlich verkehrte, Unterricht im Clavierspiel; stellte ihn jedoch nach wenigen Monaten wieder ein, namentlich deshalb, weil er in die Darstellung der verschiedenen Tactarten sich nicht zu finden vermochte. Doch verringerte das seine Theilnahme an der Musik, namentlich an ihrem mathematischen Theile, keineswegs, wie wir aus seinen philosophischen Untersuchungen ersehen.

»Göttliche Tonkunst«, sagt er in dem elften Briefe (Ueber die Empfindungen), »du bist die einzige, die uns mit allen Arten von Vergnügen überrascht! Welch süsse Verwirrung von Vollkommenheit sinnlicher Lust und Schönheit! Die Nachahmungen der menschlichen Leidenschaften, die künstliche Verbindung zwischen widersinnigen Uebellauten: Quellen der Vollkommenheit! Die leichten Verhältnisse in den Schwingungen; das Ebenmaass in den Beziehungen der Theile auf einander und auf das Ganze; die Beschäftigung der Geisteskräfte in Zweifeln, Vermuthen und Vorhersehen: Quellen der Schönheit! Die mit allen Saiten harmonische Spannung der nervigen Gefässe: eine Quelle der sinnlichen Lust! Alle diese Ergötzlichkeiten bieten sich schwesterlich die Hand und bewerben sich wetteifernd um ihre Gunst. Wundert man sich nun noch über die Zauberkraft der Harmonie? Kann es uns befremden, dass ihre Annehmlichkeiten [5] mit so mächtigem Reize in die Gemüther wirken, dass sie rauhe ungesittete Menschen bezähmt, rasende besänftigt und traurige zur Freude belebt?«

Moses Mendelssohn war seit Anfang Juni des Jahres 1762 mit Fromet Gugenheim, der Tochter des Abraham Gugenheim in Hamburg vermählt. Von den Kindern, die aus dieser Ehe hervorgingen, überlebten ihn sechs, drei Söhne und drei Töchter, denen er eine sorgfältige Erziehung angedeihen liess. Den allgemeinen Unterricht leiteten Hauslehrer, bei deren Wahl er sehr vorsichtig zu Werke ging, und dass er selbst sich viel mit seinen Kindern beschäftigte, beweisen unter anderm die »Morgenstunden« – Unterhaltungen über das Dasein Gottes – die er in den frühen Morgenstunden (von 5–9 Uhr) mit seinem Schwiegersohne, seinem Sohne Abraham und dessen Schulkameraden, dem nachmaligen Kapellmeister Wessely, pflog und ihnen grösstentheils in die Feder dictirte.

Den Unterricht in Musik, Zeichnen und fremden Sprachen ertheilten besondere Lehrer. Von nachhaltig segensreichem Einfluss auf die Erziehung der Kinder musste der geistige Verkehr im Hause des grossen Philosophen werden. Die hervorragendsten Männer des gelehrten Berlins versammelten sich bei ihm, und aus den Sonnabend-Versammlungen, die er in seinem Hause3 eingerichtet hatte und welche der belehrenden Unterhaltung gewidmet waren, gingen begeisterte Apostel seiner Ideen hervor, wie: David Friedländer, Euchel, Lindau, Wolfssohn, Bendavid u.a. Unter solch günstigen Verhältnissen wuchsen die Kinder zu seiner Freude empor, und wir finden sie alle in ehrenvoller Lebensstellung. Abraham der zweite Sohn, am 10. December 1776 geboren, gründete im Verein mit seinem ältern Bruder Joseph (geb. am 11. Aug. 1770, gest. am 24. Novbr. 1835) 1805 das Berliner Bankhaus Mendelssohn & Co. Der jüngste Sohn, Nathan, zeichnete sich als Mechaniker aus. Die älteste Tochter vermählte sich mit Friedrich von Schlegel, und die jüngste, unverheirathete [6] ist bekannt als Erzieherin der Tochter des Generals Sebastiani, der nachmaligen unglücklichen Herzogin von Praslin.

Doch erst in dem Enkel – Felix Mendelssohn – sollte der alte Glanz des Namens sich erneuern; der Vater, jener zweite Sohn des grossen Philosophen, erwarb das unsterbliche Verdienst: die Entfaltung des Genies seines Felix allseitig gefördert zu haben. Er selbst sagt darüber: »Früher war ich der Sohn meines Vaters, jetzt bin ich der Vater meines Sohnes.«

Nach den gleichen leitenden Grundsätzen, durch welche der grosse Philosoph aus niedrigster Dürftigkeit zu Glück und Wohlstand gelangt war, hatte auch Abraham Mendelssohn den eigenen Heerd begründet, und seinen rastlosen mit grosser Umsicht gepaarten Fleiss vermochten selbst die bald darauf eintretenden schweren Zeiten nicht zu hindern, unausgesetzt an der Aufrichtung und Befestigung der materiellen Stützen seines Hauses zu arbeiten. Daneben war er gleich seinem grossen Vater bemüht, den innern Ausbau mit der grössten Sorgfalt zu überwachen und zu leiten. Hierbei wurde er von seiner Frau, Lea, Tochter des Bankier Salomon, mit welcher er sich am 26. December 1804 in Hamburg verheirathete, thatkräftig unterstützt. Ebenso kunstsinnig wie fein gebildet, wusste sie die Musen und Grazien an den häuslichen Heerd zu fesseln, die, im Bunde mit weihevoller Frömmigkeit, reinstes Lebensglück begründen und die besten Hüter und Bildner der Kindesseele sind. Von dem grossen und nachhaltigen Einfluss, den das Elternpaar auf ihre Kinder gewann, geben namentlich eine Reihe von Briefen unseres Felix, giebt vor Allem die wahrhaft rührende Anhänglichkeit, die auch der Künstler seiner Familie bewahrt, laute und beredte Kunde. Auch der gefeierte Meister der Töne ist sofort bereit, dem Vater sich unterzuordnen, nur schüchtern wagt er ihm gegenüber seine eigenen Wünsche laut werden zu lassen, und als dann der Vater dahingeschieden ist, erkennt er gern den jüngern Bruder als den einigenden Stützpunkt der Familie an.

»Ihr wisst,« schreibt er von Rom unterm 22. November 1830,4 »wie sehr ich es hasse, auf 200 Meilen weit und über [7] vierzehn Tage fort, guten Rath zu geben, will es aber selbst einmal thun.

Ich glaube nämlich, Ihr macht einen Fehler im Betragen, und zwar denselben, den ich auch einmal ge macht habe. Ich habe nämlich in meinem Leben Vater nicht so verstimmt schreiben gesehen, wie seit ich hier in Rom bin, und da wollte ich Euch denn fragen, ob Ihr nicht vielleicht durch einige Hausmittel ein wenig lindern könnt? Ich meine so etwa durch Schonen und Nachgeben, und dadurch, dass ihr von den Sachen die Seite, die der Vater gern hat, mehr vorkehrt, als die andere, – vieles, was ihn ärgert, ganz verschweigt, und statt: schändlich sagt: unangenehm, oder statt prächtig, erträglich. Es hilft zuweilen unglaublich viel und ich will also leise anfragen, ob nicht auch vielleicht in diesem Falle? Denn, die gewaltigen Weltereignisse abgerechnet, scheint mir die Verstimmung auch davon herzukommen, wie damals, als ich meine musikalische Thätigkeit auf meinem eigenen Wege anfing, und als Vater fortwährend in der übelsten Laune war, auf Beethoven und alle Phantasten schalt und mich damit oft betrübte und oft ungeberdig machte. Es kam eben damals etwas Neues, und das war dem Vater nicht ganz recht, und auch wohl etwas ängstlich, glaub' ich. So lange ich denn nun immer meinen Beethoven pries, wurde das Uebel ärger, und ich – wenn mir recht ist – einmal von Tisch gewiesen. Nun fiel mir aber ein, ich könnte sehr viel Wahrheit sprechen und doch nicht gerade die, die Vater nicht leiden mag, und da ging es besser und besser und endlich gut. Vielleicht habt Ihr ein bischen vergessen, dass ihr hier schonen und nicht antippen müsst – dass sich Vater für älter und verstimmter hält, als er es wohl, Gottlob, ist, und dass es an uns allen ist, ihm auch einmal nachzugeben, sei das Recht auch noch so sehr auf unserer Seite, wie er es so oft gegen uns that. So lobt denn ein wenig, was er gern hat, und tadelt nicht, was ihm ans Herz gewachsen ist, namentlich nicht Altes, Bestehendes. Lobt auch das neue nur erst dann, wenn es etwas in der Welt äusserlich erreicht hat und heisst, denn bis dahin kommt es immer auf Geschmackssache hinaus, – zieht mir Vater hübsch in euren [8] Kreis, und tanzt um ihn herum, – kurz sucht wieder einmal auszugleichen und auszuglätten, und bedenkt, dass ich, der ich ein gereister Weltmann bin, noch nie eine Familie gefunden habe, die, alle Schwächen und Verdriesslichkeiten und Fehler eingerechnet, so glücklich gewesen wäre, als wir bis jetzt.«

Wir glaubten unverkürzt die Stelle mittheilen zu müssen, weil sie den Boden, auf welchem Mendelssohns Genius zu reichster und herrlichster Entfaltung hervortrieb, am besten characterisirt.

»Nun an Dich«, schreibt er in einem andern Briefe (von Neapel unterm 20. April 1831)5, »lieber Vater, noch ein Paar Worte. Du hast mir geschrieben, dass Du es nicht gern sehen würdest, wenn ich nach Sicilien ginge, und ich habe demnach diesen Plan aufgegeben, obgleich ich nicht leugnen kann, dass es mir etwas schwer wird; denn es war wirklich mehr als einErstes Kapitelhim‹ von mir. – Deine Vorschriften haben indess bis jetzt immer so sehr mit meinen Wünschen übereingestimmt, dass ich gewiss die erste Gelegenheit, Dir auch gegen meinen augenblicklichen Wunsch gehorsam zu sein, nicht vorbei gehen lassen werde, und somit habe ich Sicilien von meiner Reiseroute gestrichen. Vielleicht können wir uns um desto eher wiedersehen.«

Von der liebenden Sorgfalt, mit welcher der Vater auch den Jüngling noch leitete, giebt ein Brief Mendelssohns aus Paris (vom 21. Februar 1832)6 Zeugniss: »Es ist nun aber einmal wieder Zeit, dass ich Dir, lieber Vater, über meinen Reiseplan ein Paar Worte schreibe, und zwar dieses mal aus vielen Gründen ernster als gewöhnlich. Da möchte ich denn erst einmal das Allgemeinste zusammenfassen, und an das denken was Du mir vor meiner Abreise als meine Zwecke hingestellt hast, und fest zu halten befahlst: ich sollte mir nämlich die verschiedenen Länder genau betrachten, um mir das auszusuchen, wo ich wohnen und wirken wolle, ich solle ferner meinem Namen, und das was ich kann bekannt machen, damit die [9] Menschen mich da, wo ich bleiben wolle, gern aufnehmen, und ihnen mein Treiben nicht fremd sei; und endlich, ich solle mein Glück und Deine Güte benutzen, um meinem späteren Wirken vorzuarbeiten. Es ist mir ein freudiges Gefühl, Dir nun sagen zu können, ich glaube, das sei geschehen. Die Fehler abgerechnet, die man zu spät einsieht, denke ich diese Deine hingestellten Zwecke erfüllt zu haben.«

Das hellste Licht über die engen Beziehungen zwischen Vater und Sohn verbreitet endlich jener (Seite 83 ff. des zweiten Bandes der Briefe Mendelssohns mitgetheilte) Brief des Vaters, der eine Fülle feinsinnigster Bemerkungen über Musik enthält, und das Bruchstück (Bd. II. Seite 66), in welchem der Vater die Art und Weise, wie Mendelssohn in der Düsseldorfer Theaterangelegenheit verfahren war, einer ziemlich schonungslosen Kritik unterwirft.

Mendelssohn verkannte auch nie, welch hohes Glück es ist, unter der sorgenden und leitenden Hand eines solchen Vaters zu stehen. Er bewahrte ihm stets eine kindliche, fast abgöttische Verehrung. »Ich bin stolz«, schreibt er von Bonn aus (den 28. December 1833)7 an ihn, »dass Du mich eines so freundschaftlichen Tons für würdig hältst«, und (unterm 28. März 1834)8 bittet er den Vater zu entscheiden, ob er sich ein Pferd halten soll. »Dafür spricht, dass ich glaube, die regelmässige Bewegung würde mir gut thun, dagegen, dass es mir vielleicht unbequem und tyrannisirend werden möchte, da man das Pferd doch womöglich alle Tage reiten müsste, und dann wollte ich fragen, ob Du es für mich und meine Jahre nicht ein bischen gar zu genteel findest, mir schon ein Pferd zu halten? Kurz ich bin unschlüssig und bitte Dich, wie ich wohl oft gethan, um Deine Entscheidung, nach der ich mich dann richten werde.« Noch inniger und wahrer fast spricht seine Liebe zum Vater in dem Briefe, den er nach dem Tode desselben an den Prediger Bauer in Belzig richtet.9

[10] Ein nicht weniger treues Bild erhalten wir durch Mendelssohns Briefe von der Mutter. Dem Vater gegenüber bewahrt er immer jenen Ernst, mit welchem dieser das Leben aufzufassen gewöhnt war; ihm hält er sich verpflichtet Rechenschaft zu geben von dem, was er angestrebt und erreicht hat; bei ihm holt er sich Rath in wichtigen Lebensfragen. Der Mutter gegenüber fühlt er sich nur als Sohn, als der »Stolz ihres Herzens«. Ihr erzählt er: »Wie der reisende Musikus in Salzburg seinen grossen Pechtag abhielt«10; mit ihr plaudert er von seinen kleineren Erlebnissen11 und seinen Erfolgen. »Du weisst«, (schreibt er unterm 4. November 1834 von Düsseldorf an sie) »wie Du mich durch Deine Zeilen gar so sehr erfreust, und hoffentlich greift Dich Dein Schreiben nicht an, denn Du schreibst so klein und deutlich und klassisch am Ende des Briefes, wie in der ersten Zeile, und wie immer; – drum bitte ich Dich nur, lass mich diese Freude recht oft haben; dass ich dankbar dafür bin, kannst Du mir glauben. Du führst mich immer so recht wieder nach Hause, und ich bin da, so lange ich Deinen Brief lese, freue mich des Sommers im Garten, besuche die Ausstellung und streite mit Dir über Bendemanns kleines Bild; necke Gans über seine Satisfaction, dass ihn Metternich eingeladen, und mache fast den hübschen Russinnen wieder den Hof.« – Und wenn er ihr erzählt, wie er sich freut, dass er in Deutschland festen Fuss gefasst hat, dass er seiner Existenz halber nicht nach dem Auslande zu wandern brauche; (Brief vom 1. Juni 1836) dass er bei den musikalischen Leuten durch seine Ouvertüren und Lieder ein gewaltiges Thier geworden; dass die »Melusine« und »Hebriden« ihnen so geläufig geworden, wie bei uns zu Haus (d.h. in der Leipziger Strasse No. 3) und dass die Dilettanten stark über seine Intentionen disputiren, dann meint er wohl: »das schmeckt zwar etwas nach renommage, aber ich weiss, Du liesest dergleichen gern und lässest mir es hingehn.«

[11] So erscheint das Elternpaar wie auserlesen, den im Sohne schlummernden Genius zu wecken, zu hüten und zu pflegen und zugleich zu fruchtreicher glänzender Entfaltung zu bringen. Die Lehre und das Beispiel des Vaters gaben ihm früh jene Richtung nach den höchsten Zielen männlicher Thätigkeit und erzeugten in ihm die grosse Energie der Arbeit, wie den hohen, edlen Sinn, welcher seine Wirksamkeit durchzieht. Die weichere mütterliche Hand pflegte dagegen die zarteren Seiten seines Herzens und weckte zugleich in ihm jene reine Freude, welche das Schaffen und das Geschaffene bereitet und die seine Werke meist so sonnighell und herzgewinnend klar erscheinen lässt. Dabei war die ganze Erziehung eine so gewissenhaft planvolle, dass er vor jenen heftigen Conflicten der Neigungen und Pflichten, die aus solcher Doppelleitung entstehen konnten, bewahrt wurde, und dass doch auch keine der beiden Richtungen ihn ausschliesslich zu beherrschen vermochte. Der Geist der Mutter bildet den Grundzug seiner Individualität, aber durchdrungen und gekräftigt vom Geist des Vaters; und wie hieraus jene süsse Wehmuth, jene bezaubernde Melancholie, die wiederum so recht Merkmal der Muse Mendelssohns geworden ist, erwächst, das soll hier bei der speciellen Betrachtung der einzelnen Werke des Meisters und ihrer innern Entwickelungsgeschichte nachgewiesen werden.

Wie einst im Hause des grossen Philosophen, so bildete die Liebe zu Kunst und Wissenschaft, von welcher die beiden Gatten gleichmässig beseelt waren, ein Hauptelement nicht nur in ihrem häuslichen Leben, sondern auch in der Erziehung ihrer Kinder. Die Kunst, welche jetzt mit dem Leben in engste Beziehung getreten ist, die Musik fand natürlich zunächst sorgsame Pflege, um so mehr als die Mutter in ihr so weit erfahren war, dass sie ihren Kindern den ersten Musikunterricht selbst zu ertheilen vermochte. Als dann die herrliche Begabung der erstgeborenen Tochter Fanny (geboren am 14. November 1805) sich immer glänzender herausstellte, vor allem aber als der Genius des erstgeborenen Sohnes:


[12] Jacob Ludwig Felix12


(geboren am 3. Februar 1809) sich staunenerregend früh und gewaltig offenbarte, gewann die Tonkunst im elterlichen Hause eine immer sorgfältigere Pflege. Wir stehen hier vor der, so äusserst seltenen Erscheinung, dass die Eltern der Neigung ihrer Kinder für den Künstlerberuf nicht nur keinen Widerstand entgegensetzen, sondern vorurtheilsfrei und grosssinnig sie allseitig fördern und unterstützen. Die vortrefflichsten Lehrer wurden ausgewählt, Notabilitäten herangezogen, um das Talent der Kinder früh in die rechten Bahnen zu leiten, und früh schon weckten die zahlreichen Aufführungen von grössern Tonstücken aller Art im elterlichen Hause den Schaffensdrang in den jungen Kunstnovizen. Dabei wurden auch die andern Künste und selbst die Wissenschaften nicht vernachlässigt. Von 1819–27 war Dr. Carl Wilhelm Ludwig Heyse – der sich später durch seine zahlreichen Schriften über die deutsche Sprache grossen Ruf er warb – Hauslehrer in der Familie Mendelssohns, und er förderte die wissenschaftliche Ausbildung unseres Felix bis zum Universitätsexamen, mit aller ihm eigenen Gründlichkeit. Ein Zeugniss hiervon giebt unter andern jene Uebersetzung, welche 1826 in Berlin bei Ferdinand Dümmler erschien: »Das Mädchen von Andros, eine Comödie des Terentius in den Versmaassen des Originals übersetzt von F****.« Der Herausgeber (Heyse) sagt ausdrücklich in der Vorrede, dass der junge Uebersetzer, Felix Mendelssohn, den natürlicher Beruf und demselben angemessene Bildung zu einer verwandten Musenkunst bestimmten, dieser Arbeit nur wenige Musestunden widmete. Auch die Schwestern nahmen an diesen ernsten Studien Theil, und namentlich Rebecca – später an den Professor Dirichlet verheirathet – trieb mit ihm fleissig griechische Sprachstudien, gegen die [13] Felix eine gewisse Abneigung empfand. Professor Rösel unterrichtete im Zeichnen, und wie bedeutende Fertigkeit Felix auch in dieser Kunst gewann, ist hinlänglich bekannt. Viele seiner nächsten Freunde besitzen von ihm eine Reihe trefflicher Handzeichnungen. Professor Zelter war der musikalische Hauptlehrer des Hauses, Ludwig Berger ertheilte den Clavierunterricht, und der Concertmeister Henning unterrichtete Felix im Geigenspiel. Später trat an dessen Stelle der junge talentvolle Violinspieler Eduard Rietz, mit welchem der Schüler bald ein inniges Freundschaftsbündniss schloss.

Bei alle dem war das Mendelssohnsche Haus jener Zeit auch ein Sammelplatz der hervorragendsten Notabilitäten in Kunst und Wissenschaft. Namentlich verabsäumten auch die bedeutendsten Künstler nicht, welche in Berlin nur vorübergehend weilten, ihm ihren Besuch zu machen.

Eine gleich günstige Pflanzstätte, eine gleich sorgsame Pflege, wie hier, hat der deutsche Genius wohl nie wieder gefunden. Alle Angehörigen des Hauses öffneten ihre Herzen willig seinem Wehen, alle Hände waren bereit und bemüht, ihm eine behagliche Stätte zu bereiten und alles entfernt zn halten, was ihn verscheuchen oder auch nur in seiner Entfaltung hemmen könnte. Wie tief das Kunstwerk Mendelssohns hier, im Vaterhause wurzelt, das zu erweisen ist Aufgabe des vorliegenden Werkes; sein ganzes Leben aber giebt Zeugniss, wie fest er ihm in unwandelbar dankbarer Liebe verbunden war. Er unternimmt kaum etwas ohne die Zustimmung der Seinigen; wenn »er ein Stück beendigt, gelungen oder misslungen,« sind sie es immer, deren Eindruck davon er sich denken möchte.13 Den im December 1835 erfolgten Tod des Vaters glaubt er nicht ertragen zu können, und nur das Bewusstsein von dem, was ihm noch geblieben, lässt ihn allmählich die alte Fröhlichkeit wiedergewinnen, »aber nach wie vor will er seine Schuldigkeit thun, um nach der Zufriedenheit des Vaters zu streben.«14 Schwerer [14] wird ihm daher schon der Verlust der Mutter, welcher ihn gegen Ende des Jahres 1842 traf. Er empfindet tief und schmerzlich, »dass nun der Vereinigungspunkt fehlt, in welchem wir uns immer noch als Kinder fühlen durften,« schreibt er an den Bruder Paul.15 »Waren wir es nicht mehr den Jahren nach, so durften wir es dem Gefühle nach sein. Wenn ich an die Mutter schrieb, so hatte ich damit an Euch Alle geschrieben, und ihr wusstet es auch; aber Kinder sind wir nun nicht mehr und haben es auch genossen, was es heisst, das zu sein. Es ist nun vorbei.« Und obgleich er bereits selbst einen eigenen Heerd gegründet hatte, auf dem ihm die reichsten Freuden erwuchsen, so verwindet er den schweren Verlust der Mutter nur langsam. Sein eigenes Sein war zu tief verwachsen mit dem elterlichen Hause; so konnte die Lostrennung nur gewaltsam erfolgen. Daher ertrug er auch den letzten Schlag, den am 14. Mai 1847 erfolgten plötzlichen Tod der ihm im gleichen künstlerischen Streben verbundenen Schwester Fanny, »die ihm in jedem Augenblicke so gegenwärtig war mit ihrer Güte und Liebe, deren Mitfreude ihm die Freude erst zu einer rechten machte, die ihn von jeher verzogen und übermüthig gemacht hatte und von der er glaubte, es könne ihr nie etwas fehlen,« nicht lange. Er glaubt noch immer, »die Trauernachricht würde plötzlich widerrufen, obwohl er weiss, dass das alles wahr ist,« aber daran gewöhnen konnte er sich nicht; wenige Monate darnach folgte er der Vorangegangenen.

Wir hielten diese Andeutungen, obwohl sie der Darstellung weit vorauseilen, doch hier schon für nothwendig, weil sie erst im Stande sind, das Bild vom Vaterhause Mendelssohns zu vervollständigen und uns so zugleich den Standpunkt gewinnen zu helfen, von dem aus die Entwickelung des genialen Künstlers und die besondere Bedeutung der von ihm geschaffenen Kunstwerke darzulegen und zu würdigen ist. Mendelssohn gehört zu den grossen Künstlern der jüngeren Vergangenheit, deren [15] eigene Subjectivität dem Kunstwerk Form und Klang giebt; diese aber zog ihre reichste Nahrung dort aus jenem von uns charakterisirten Boden, und wie sie weiterhin noch von dort aus bestimmt und geleitet wird, bestätigen die oben erwähnten Briefe bis zu vollster Gewissheit.

Fußnoten

1 Kayserling: Moses Mendelssohn Seite 137.


2 Den Namen »Bartholdy« fügte erst sein Sohn Abraham hinzu, dessen Schwager Salomon hatte sich früh taufen lassen und dabei den Namen »Bartholdy« angenommen. Er lebte als preussischer Generalconsul in Rom und wurde dort einer der eifrigsten Beschützer der deutschen Maler. Die am Monte Pincio gelegene »Casa Bartholdy« war für Jahrzehnte der Sammelplatz aller jungen Künstler aus Deutschland, und Moritz von Schwind, Peter von Cornelius, Overbeck u.a. haben sie mit kostbaren Fresken ausgeschmückt. Testamentarisch hatte der Besitzer verfügt, dass Abraham Mendelssohn, der Vater von Felix, seinem Namen den »Bartholdy« hinzufügte, und so erbat und erhielt er von der Regierung die Erlaubniss, von nun an den Namen »Mendelssohn-Bartholdy« führen zu dürfen.


3 Er wohnte Spandauerstr. 68.


4 Reisebriefe Seite 59.


5 Reisebriefe Seite 140.


6 Ebend. Seite 321.


7 Briefe Bd. II. Seite 17.


8 Ebend. Seite 35.


9 Ebend. Seite 107.


10 Reisebriefe Seite 16.


11 Briefe Bd. II. Seite 41, 121, 124, 128, 130 u.s.w.


12 Die Namen »Jacob Ludwig« trug Felix erst nach seiner, viel später erfolgenden Taufe. Die vier Kinder: Fanny, Rebecca, Felix und Paul wurden erst am 21. März 1816 in der neuen Kirche zu Berlin durch den Prediger Stegemann getauft. Der Vater Abraham trat noch später 1822 in Frankfurt a.M. zum Christenthum über.


13 Briefe Bd. II. Seite 22.


14 Ebend. Seite 108.


15 Ebend. Seite 362.

Quelle:
Reissmann, August: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sein Leben und seine Werke. Leipzig: List & Francke, 1893..
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