Zweites Kapitel.

Die Uebersiedelung nach Berlin.

Hauptsächlich war es wohl der Druck der französischen Herrschaft, unter welchem Hamburg schmachtete, was den Vater bewogen haben mochte, 1811 diesen bedeutendsten Handelsplatz der Welt zu verlassen und nach einem kurzen Aufenthalt in Paris nach Berlin überzusiedeln, zu einer Zeit, als diese Stadt gleichfalls unter den Wirren und Schrecken des Krieges hart darniederlag. Doch hatte die Rücksicht auf die Ausbildung der Kinder wohl auch keinen geringen Antheil an der Uebersiedelung Berlin zeichnete sich damals schon durch seine grosse Regsamkeit auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft vor den übrigen Städten des Nordens aus. Die politische Niederlage Preussens hatte namentlich hier einen neuen Geist erzeugt, aus dem heraus der ganze Staat sich neu gestalten sollte, und rascher als jede andere Stadt erholte sich daher auch Berlin nach den Stürmen der Freiheitskriege. »Ich hatte Berlin«, schreibt Varnhagen von Ense1 »seit zwei Jahren nicht gesehen und fand in jeder Beziehung viel verändert. Der Friede zeigte seine mächtigen Wirkungen; aller gerettete und erworbene Wohlstand machte sich geltend; alte und neue Ansprüche traten hervor; hundert zurückgedrängte Thätigkeiten strebten neben und gegen einander. Macht und Einfluss setzten sich zurecht; der Hof nahm eine glänzendere Fassung; die höhere Gesellschaft gruppirte sich um ihn.«

[17] Auch das öffentliche Musikleben gewann dadurch wieder bald einen erhöhten Aufschwung.

Die Oper, jener Zeit eine der vorzüglichsten in Deutschland, widmete den Meisterwerken Glucks noch eine eingehende sorgfältige Pflege, wie wohl kein andres derartiges Institut. Namentlich durch Joh. Friedr. Reichardt war in Berlin ein förmlicher Gluckcultus eingeführt worden, der dann in Anselm Bernhard Weber noch einen würdigen Vertreter fand und selbst durch die eigenthümliche Auffassung und Darstellung, welche Glucks Principien in Spontini fanden, nicht vollständig beseitigt werden konnte, so dass er sich bis heute noch hier, wie in keiner andern Stadt Deutschlands, erhalten hat. Glucks »Alceste«, beide »Iphigenien«, »Armide« und »Orpheus« waren neben Spontini's: »Olympia«, »Cortez« und »Vestalin« und Sacchini's »Oedip« oder Rossini's »Othello« die Carnevalsopern der letzten Jahre des zweiten, und der Anfangsjahre des dritten Decenniums unseres Jahrhunderts. Allmählich erlangten die Opern Spontini's durch dessen persönlichen Einfluss bei Hofe fast ausschliesslich die Herrschaft auf der Berliner Opernbühne. Ein Referent der Musikzeitschrift »Cäcilia«2, welcher das musikalische Leben Berlins im Jahre 1825 bespricht, beklagt bitter, dass Glucks: »Alceste« oder »Iphigenie«, Mozarts: »Don Juan«, Spohrs: »Faust« oder Webers »Euryanthe« nur schlecht einstudirt werden können, weil die Proben zu: Olympia, Nurmahal, Cortez, Alcidor u.s.w. keine Zeit dazu lassen. Allein in jener Zeit, als Mendelssohn in das öffentliche Musikleben eintrat, um auch aus ihm Nahrung für seine eigene Individualität zu holen, war jener Gluckcultus noch in voller Blüthe; und wie gering immerhin Mendelssohns directe Beziehung zur dramatischen Musik gewesen ist, wir wissen, dass er in seiner frühesten Entwickelung sich gerade von ihr sehr angezogen fühlte; die vier Opern seiner Jugend bezeugen dies, und wir werden selbst einen Einfluss der Weise Spontini's auf die Entfaltung seines Naturells nachweisen können.

[18] Um dieselbe Zeit eroberte einer der wunderbarsten der Romantiker: Carl Maria von Weber von Berlin aus die deutsche und einen Theil der ausserdeutschen Bühnen. Schon im Frühjahr 18213 kam mit dem glücklichsten Erfolge »Preziosa« mit der Musik von Carl Maria von Weber auf der Berliner Bühne zur Aufführung; doch erst die Oper: »Der Freischütz«, welche am 18. Juni 1821 zum ersten Male in Berlin gegeben wurde, machte den Meister populär im edelsten Sinne und führte ihn ein in die Reihe der vorzüglichsten Vertreter musikalischer Romantik. Wie mächtig die Weise Webers auf den genialen Knaben Mendelssohn einwirkte, ersehen wir namentlich an seinen reifsten Werken. Der grosse Glanz und der üppige Wohllaut sind meist durch jenen ältern Meister des Colorits angeregt.

Von ungleich grösserer Bedeutung noch wurde natürlich für ihn jenes Institut, dem er selbst eine Reihe von Jahren angehörte, die Berliner Sing-Akademie.

Diese, von Carl Friedrich Christian Fasch gestiftet, hatte sich seit ihrer Begründung die Pflege des Kirchengesanges zum ausschliesslichen Ziel gesetzt. Seit dem Jahre 1789 versammelten sich in dem Hause einer Schülerin von Fasch mehrere gesangund musikliebende Freunde und Freundinnen zu gemeinsamer Ausübung ernsterer Vocalwerke unter Fasch's Leitung. Allmählich war ihre Anzahl grösser geworden, so dass ein geräumigeres Local nöthig wurde, und so setzte die Gesellschaft seit dem Jahre 1791 in dem grössern Saale der Frau Generalchirurgus Voitus ihre gemeinschaftlichen Gesangübungen fort, bis ihr Ende des Jahres 1792 ein Saal im Akademie-Gebäude für ihre Zusammenkünfte eingeräumt wurde. Der künstlerischen Leitung des so festbegründeten Instituts widmete Fasch von nun an ausschliesslich die letzten Jahre seines Lebens. Er wusste nicht nur es innerlich lebensfähig zu gestalten, sondern er gab ihm auch äusserlich immer erhöhtere Bedeutung. Die hervorragendsten Tonkünstler seiner Zeit, wie Naumann, Reichardt, Himmel und J.A.P. Schulz componirten einzelne Tonstücke speciell für den [19] Verein. Hauptziel war und ist noch bis heute geblieben: die Belebung und Pflege des ältern Kirchengesanges. Ausser Durante, Leo, Benevoli, Allegri, Marcello und Palestrina, deren Werke der Kunstanschauung Fasch's am meisten entsprachen, waren es Johann Sebastian Bach, Johann Gottfried Händel, Graun und Hasse und neben einigen Zeitgenossen auch Mozart, welche eingehende Pflege in diesem Verein fanden. Bei dem am 3. August 1800 erfolgten Tode des Stifters – Fasch – zählte die Sing-Akademie 148 Mitglieder. Sein Nachfolger, Carl Friedrich Zelter, der ihm in treuer Anhänglichkeit verbunden war, führte die Sing-Akademie im Geiste des Stifters zu einer, von diesem wohl kaum geahnten Blüthe. Die Gründung der Männerliedertafel (1808) wie die der Ripienschule (1807) wurden auch für die Sing-Akademie förderlich und zweckdienlich, und in jener Zeit, als Felix Mendelssohn als Altist aufgenommen wurde (am 11. April 1819), hatte sie schon einen ausgebreiteten Ruf erworben als das bedeutsamste Institut zur Pflege echt klassischer Musik. Selbstverständlich wurden die Werke von Bach und Händel wie die der alten Italiener vorwiegend geübt; daneben fanden damals auch, mehr als jetzt, die Werke der Zeitgenossen Berücksichtigung. Die Psalmen von Romberg, die Messen von Himmel und geistliche Gesänge von Fesca, Seyfried und Neukomm, wie die Oratorien von Fr. Schneider, wurden nicht weniger sorgfältig studirt als die Werke der älteren Meister. Ein solcher lebendiger Verkehr mit den Kunstwerken der verschiedensten Zeiten und Richtungen ist für den Kunstjünger von unschätzbarem Werth. Ganz von selbst bildet sich eine Art von Gefühls- und Verstandeskritik, welche für den schaffenden Künstler zur unerlässlichen Bedingung geworden ist. Unwillkürlich wird er zur Vergleichung einzelner Kunstwerke gedrängt und hieraus erwächst ihm nicht nur eine tiefere Erkenntniss derselben, sondern auch die seiner eigenen Individualität. Was in ihr noch unausgesprochen verborgen liegt, kommt so allmählich zu sicherem Erfassen und Gestalten zum Bewusstsein. Wie namentlich Mendelssohns Kirchenmusik durch diese kritische Thätigkeit beeinflusst wird, soll in den nachfolgenden [20] Kapiteln dargelegt werden. Daneben hatte Zelter in seiner Wohnung auch die sogenannten Freitagsmusiken eingerichtet, in denen sich eine kleinere Zahl Mitglieder der Sing-Akademie versammelten, um ältere schwierige Werke einzustudiren. Fanny und Felix sangen hier gleichfalls mit, und beide vertraten nicht selten auch Zelter am Klavier. Hier lernte Mendelssohn die ersten Stücke aus der Matthäus-Passion kennen, und sie erregten in ihm den Wunsch nach der vollständigen Partitur, den ihm die Grossmutter erfüllte, indem sie ihm Weihnachten 1823 eine Abschrift zum Geschenk machte.

Eine weder so systematische noch so reiche Pflege fand in Berlin die Instrumentalmusik. Die Quartettversammlungen, welche der Concertmeister Möser 1813 eingerichtet hatte, waren wohl die einzigen derartigen Concerte, in welchen die Quartette Haydns, Mozarts und Beethovens und der jüngern: Onslow, Spohr, Fesca und Romberg in sorgfältiger Ausführung vorgetragen wurden. Seit 1816 waren diese Concerte dann derartig erweitert worden, dass abwechselnd auch Symphonien und Ouverturen für grosses Orchester auf dem Programm Platz fanden. In dieser Erweiterung erwarben sie sich dadurch grosse Verdienste, dass sie vorzugsweise die ersten Symphonien Beethovens dem Norden bekannt machten. Neben ihnen wären noch die Abonnements-Concerte des Kammermusikers Friedr. Aug. Bliesener zu nennen, in welchen ein, meist aus Dilettanten bestehendes Orchester gleichfalls Symphonien und andere Orchesterwerke zur Aufführung brachte, und die namentlich in den Jahren von 1810–20 blühten. Doch vermochten beide Unternehmungen nicht den erhöhten Anforderungen der Zeit zu entsprechen. Jener erwähnte Referent der Cäcilia klagt, dass schon seit Menschengedenken Haydns Symphonien in Berlin nicht gehört worden seien.

Um so zahlreicher waren die Virtuosen-Concerte in jener Zeit. In Berlin selbst wohnte eine Reihe namhafter Virtuosen, noch aber war die Virtuosität nicht bis zu jener staunenerregenden Höhe geführt, bis zu welcher sie in den zwanziger Jahren durch Paganini gelangte. Daher wurden jetzt auch noch mehr die [21] virtuosen Ensemble's, wie sie die Kammermusik jener Zeit bot, gepflegt. Neben den Meistern: Haydn, Mozart und Beethoven begegnen wir namentlich den Männern des Zeitgeschmacks: Wölffl, Steibelt, Dussek, Conr. Kreutzer, deren Werke häufig in diesen Concerten ausgeführt wurden. Auch von fremden bedeutenden Virtuosen concertirten alljährlich eine ansehnliche Reihe in Berlin; so 1817 der berühmte Meister des Clavierspiels und Gründer einer besondern Schule: Hummel; der grosse Flötenvirtuos Fürstenau und Andere.

Emsiger und sorgfältiger noch als das öffentliche Musikleben wurde die Hausmusik in jener Zeit gepflegt. Die gesammte Kunstübung war mehr geselliger Art, und selbst die Uebungen und Aufführungen der Sing-Akademie trugen damals noch mehr den Charakter von Familienfesten; öffentliche Aufführungen wurden immer noch nur selten von ihr veranstaltet.

Noch hatte ferner das Pianoforte in Haus und Familie nicht ausschliesslich die Herrschaft gewonnen; Streich- und selbst Blasinstrumente waren hier immer noch heimisch, Streichquartette und Kammermusik aller Art wurden neben der Vocalmusik geübt. Von dem reichen musikalischen Leben im Hause des Bankiers Mendelssohn haben wir mehrfach Zeugniss. In dem Maasse nun, in welchem sich das eminente Talent Felix's und die reiche Begabung der Schwester entwickelten, stieg natürlich auch der musikalische Verkehr im Vaterhause. Als der Vater 1816 veranlasst wurde, in Angelegenheit der von den Franzosen zu zahlenden Kriegscontribution, längeren Aufenthalt in Paris zu nehmen, begleiteten ihn Fanny und Felix dorthin, wohl nur damit sie den Unterricht von Frau Bigot de Marogues, einer der berühmtesten Mozartspielerinnen jener Zeit, geniessen sollten, und es scheint, dass dieser seine guten Früchte auch bei Felix trug.

Besonders erfolgreich erwies sich ihm aber der Unterricht von Ludwig Berger, dem ebenso vorzüglichen Clavierspieler wie reichbegabten und verdienstvollen Componisten.

Ludwig Berger – am 18. April 1777 geboren – war aus der Schule Clementi's hervorgegangen und dieser vornehmlich verdankte er jene auf der natürlichsten Grundlage ruhende [22] Technik, wie seine praktische Methode des Fingersatzes Von John Field, mit dem er in Petersburg, wohin er seinen Meister Clementi begleitet hatte, zusammengetroffen war, eignete er sich dann namentlich die weiche und poesievolle Weise des Anschlags an, die er gleichfalls wieder auf seinen genialsten Schüler – Felix Mendelssohn – vererbte. Nachdem er mehrere Jahre in Petersburg und London als Musiklehrer gelebt hatte, kehrte er 1815 nach Berlin zurück, und bald zählte er auch den genialen Knaben Mendelssohn zu seinen Schülern. Dieser machte so wunderbare Fortschritte, dass er bereits in seinem neunten Jahre das »Concert militaire« von Dussek öffentlich vortrug. Am 28. October 1818 spielte er in einem Concert eines Herrn Gugel ein Trio für Piano und zwei Waldhörner von Wölffl.

Nach mehreren Seiten zugleich entwickelte sich seine reiche Begabung mit staunenswerther Schnelligkeit und Sicherheit. Der kaum neunjährige Knabe überwand mit Leichtigkeit alle technischen Schwierigkeiten im Clavierspiel, soweit das die kleinen Hände überhaupt nur irgend zuliessen. Er spielte schon vielstimmige Partituren, transponierte aus dem Gedächtniss oder vom Blatt selbst schwierige Exercitien und zeigte ein wunderbar fein entwickeltes Ohr, dem nicht leicht eine leise Trübung des Wohlklanges entging.

Obwohl Berger nur den Unterricht im Clavierspiel bei Felix übernommen hatte, so ist doch auch der Einfluss, den er als Componist auf seinen Schüler ausübte, unverkennbar. Sein Lehrer im Contrapunkt: Carl Friedr. Zelter (geboren am 11. December 1758, gestorben am 15. Mai 1832) hatte zur Instrumentalmusik, auf deren Gebiet Mendelssohn das Höchste leisten sollte, weniger Beziehung. Seine Bedeutung ruht, wie die seines Freundes und Lehrers Fasch, im Vocalen, und auch auf dem Gebiete des Liedes, auf dem Mendelssohn wie Zelter Bedeutendes zu leisten bestimmt war, steht der jüngere Meister wiederum zu Ludwig Berger näher, als zu Zelter. Dieser vermochte ihn nur in die Technik der Vocalmusik einzuführen, während ihm jener mehr den ideellen Gehalt der Musik und ihrer Formen erschloss. »Wie ein grosser Maler das Auge [23] seines Schülers zu belehren weiss, so belehrte Berger das Ohr. Er wusste die Feinheit desselben für kleine Unterschiede in der Wirkung, die oft nur durch den Fingersatz erzeugt werden, im äussersten Grade zu schärfen.«4

Schon die frühesten Schöpfungen Mendelssohns bezeugen, dass die Richtung Bergers anziehender für ihn war, als die Zelters. In jenen direct aus der Unterweisung Zelters hervorgegangenen Werken a capella selbst lebt schon etwas, was dem eigentlichen Boden nicht mehr angehört. Zelter deutet selbst darauf hin in einer Anmerkung zu einem am 18. September 1821 in der Sing-Akademie aufgeführten Psalm (XIX): »Kam schon so ziemlich heraus und wird sich noch mehr heben, wie der Componist selber, dem es weder an Talent noch an Fleiss, wohl aber an Ruhe und Geduld fehlt.« Wohl erkannte Zelter die grosse und reiche Begabung des genialen Knaben,5 allein für die eigentümliche Richtung, nach welcher dieser die gesamte Kunstentwickelung weiter führen sollte, hatte er doch zu wenig Beziehungen, um sie recht zu erfassen. Wo sie sich ihm an dem Jünger offenbart, erscheint sie ihm als »Ungeduld und Unruhe«. Zelter war kein selbstschöpferisches, sondern nur ein verständig combinirendes Talent, das, um Grösseres und Bedeutenderes zu leisten, von früh an einer weit sorgfältigeren Pflege bedurft hätte, als ihm zu Theil geworden war. Es ist hinlänglich bekannt, dass ihm bis in sein hohes Mannesalter die Beschäftigung mit der Kunst nur in Mussestunden gestattet war, und als er dann sich ihr ganz widmete, als Director der Sing-Akademie und Professor der Musik, waren seine Beziehungen schon zu sehr äusserer Art, um noch etwas Grosses, Unvergängliches zu schaffen. Nur für die Entwickelung des Liedes wurde er [24] bedeutungsvoll, als einer der ersten bedeutenderen Tondichter, die dem, durch Goethe hervorgezauberten »Liederfrühling« auch musikalisch Klang und Form zu geben versuchten. Zwar hatten schon die grössern Meister: Mozart und Beethoven diese musikalische Wiedergeburt versucht, allein in einer dem lyrischen Liede weniger entsprechenden Weise. Sie erfassen und stellen den poetischen Inhalt vollständig erschöpfend dar, aber nicht mit der Prägnanz der ursprünglichen Liedform. In dem Bestreben, die einzelnen im Texte angeregten Tonbilder zu möglichst charakteristischen Gruppen herauszubilden, verlieren sie die knappe Form, in welcher sich der Inhalt bei dem Dichter darstellt. Nur in der scenischen Erweiterung des Liedes vermochten sie demselben vollkommen erschöpfenden Ausdruck zu geben. Dem gegenüber waren eine Reihe Berliner Liedersänger bemüht, die knappe Form des strophischen Versgebäudes auch musikalisch darzustellen. Die Stimmung hat in den Worten schon einen so bedeutsamen Ausdruck gefunden, dass die Musik sich eng und fest an sie anschliessen muss, um allgemeine Verständlichkeit und Ausdrucksfähigkeit zu erlangen. Das Goethesche Lied quillt so unmittelbar aus dem unendlich reichen und tief bewegten Innern des Dichters hervor, dass in den Worten selbst schon eine bezaubernde Sprachmelodie liegt, welcher der Componist nur nachzugehen braucht, um eine, die Stimmung vollständig, wenn auch nur oberflächlich characterisirende Melodie zu finden. Mit Erfolg thut das schon jener Berliner Vertreter der Principien Glucks: Joh. Friedr. Reichardt. Einigen Liedern Goethe's hat er in vortrefflicher Weise die Sprachmelodie abgelauscht und diese mit der volksthümlichen Liedform verschmolzen. Allein in den meisten gelingt ihm diese Verschmelzung nicht. Er bleibt dann an der tönenden Gesangsphrase haften, ohne zum klaren Bewusstsein des Gefühlinhalts, noch zur rechten Erkenntniss der bestimmt heraustretenden Form zu gelangen. Doch war mit diesen Bestrebungen der Weg gebahnt und gefunden, auf welchem die musikalische Darstellung des Liederfrühlings erreicht werden konnte, und Zelter geht den ersten Schritt weiter vorwärts. Er hat [25] zunächst dem Volksliede nicht nur einige glanzvolle Phrasen, sondern das ganze Formgefüge abgelernt, und indem er das strophische Gebäude des Liedes auch musikalisch sorgfältig herausbildet, kommt in das Ganze ein einheitlicher Zug der Stimmung, der den Liedern von Reichardt meist fehlt. Wortaccent und Volksliedweise durchdringen sich jetzt schon so, dass die Melodie innig und doch charakteristisch und leicht fasslich dem Text sich anschmiegt und die Bedeutung einer wirklichen Interpretation gewinnt. Die Volksliedweise entspricht mehr der Grundstimmung des Gedichts, und in der Aufnahme der Sprachaccente gewinnt diese dann eine grössere Bestimmtheit des Ausdrucks Auch die Clavierbegleitung wird selbständiger und freier. Reichardt wählt seine Motive mehr nur in dem Bestreben, die harmonische Grundlage claviermässig aufzulesen: Zelter erfindet schon charakteristische, der Stimmung entsprungene Motive und führt damit das Lied auf eine höhere Stufe. Doch auch bei ihm war dieser Process mehr das Ergebniss der kühl berechnenden und abwägenden Reflexion, als wirklich innerlicher Erregung. Mit weit grösserer Innerlichkeit schloss sich Ludwig Berger all diesen Bestrebungen an. Auch er deklamirt seine Lieder so vorwiegend, dass oft nur die Clavierbegleitung und die harmonische Grundlage die Form auszugestalten übernehmen. Doch bildet er seine Accente harmonisch und melodisch weit klangvoller heraus und kommt dadurch einer tiefern Auffassung näher. Dabei gewinnt die Clavierbegleitung abermals an Bedeutsamkeit, freilich noch nicht bis zu dem Grade, dass sie das instrumental auszuführen trachtete, was im Vocalen noch unausgesprochen zurückgeblieben ist. Höchstens begegnen wir jener oft besprochenen Situationsmalerei, die sich eben nur decorirend verhält. Immerhin weiss er durch die instrumentalen Klangfarben dem Ganzen eine Süsse, Innigkeit und Weichheit aufzuprägen, welche dem Vocalen meist fehlt. Berger erweist sich überall von der ganzen Richtung seiner Zeit und der durch Haydn, Mozart und Beethoven bedingten Entwickelung seiner Kunst wie selbst durch die in Clementi, Hummel oder Field repräsentirten Specialitäten derselben mächtig beeinflusst, während [26] Zelter all diesen Erscheinungen ziemlich fremd gegenüber steht. In den frühesten Arbeiten seines genialsten Schülers Felix Mendelssohn offenbart sich ein viel intimeres Verhältniss zu jenen genannten Meistern, als in den bedeutendsten Werken Zelters. Dieser hat eigentlich keinen andern Standpunkt gewonnen als sein Meister Fasch. Der Contrapunkt der neapolitanischen Schule erscheint bei ihm nur mit volksthümlichen Elementen verschmolzen, ihre Weise dem neuen deutschen Geiste vermittelt. In diesem Sinne wagt er auch den grössten Meister der Tonkunst und des Contrapunkts im Besondern, Johann Sebastian Bach, zu corrigieren und zu schulmeistern. Wie tief auch seine Verehrung für diesen Meister erscheint, innerlich steht er dessen Sohn Philipp Emanuel dennoch näher. Dabei war aber seine Innerlichkeit nicht stark genug, um wie die eines Haydn sich zu besonderer Ausstattung der Formen begeistern und anleiten zu lassen. Nüchtern verständig, wie er sein Handwerk eine Reihe von Jahren betreiben musste, diente er auch seiner Kunst und erzog er seine Schüler. Eine eigenartigere Natur würde gegen eine solche Unterweisung sich früh aufgelehnt, ihrem beengenden Einfluss sich früh entzogen haben; eine weniger reich und bedeutend ausgestattete aber leicht den schönsten und besten Theil individueller Züge eingebüsst haben. Für Mendelssohns Genius wurde sie ein nothwendiger Factor jener harmonischen Durchbildung, die ihm seit seiner ersten Regung zu Theil ward. Er fügte sich mit dem emsigsten Fleiss der Unterweisung seines Lehrers, ohne sich den anderweitig befruchtenden Elementen, welche ihm der Unterricht Bergers, das reiche künstlerische und wissenschaftliche Leben des Elternhauses und das öffentliche Kunstleben Berlins zuführten, zu verschliessen. Zelter unterwies ihn nur im Formen und schnitt alles hinweg, was ihm als Auswuchs, als Schössling einer üppigen Naturkraft erschien; den Stoff für seine Darstellungen aber holte der frühreife Knabe schon aus seiner, an den mannigfachsten Richtungen des Lebens, der Kunst und der Wissenschaft genährten Individualität, und so musste diese allmählich in ihrer ganzen berückenden Schönheit und edlen Verklärung zur Erscheinung kommen. [27] Neben den grossen Meistern der Töne waren Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller und die griechischen und römischen Classiker die Gefährten seiner Jugend. Daneben wurden auch andere Künste nicht vernachlässigt, namentlich zeichnete und malte er fleissig, übersetzte Byron und andere englische Dichter in dem Versmaasse des Originals und erwarb selbst Gewandtheit und Ausdauer in den untergeordneten Künsten, im Tanzen, Schwimmen, Fechten und Reiten.

In dem Maasse, in welchem sich das eminente Talent Felix's und die reiche Begabung der Schwester Fanny entwickelten, stieg auch der musikalische Verkehr in der Familie. So weit dies nur die noch beschränkte Wohnung, welche die Familie bei ihrer Uebersiedelung nach Berlin im Hause der Schwiegereltern – Neue Promenade 7 – genommen hatte, zuliess, wurden Freunde und Verwandte zur möglichst reichen Ausführung der Hausmusik hinzugezogen. Von unschätzbarem Werth für die Entwickelung des schöpferischen Triebes, der sich in dem genialen Knaben so früh regte, war es, dass ihm auch früh im Elternhause die Gelegenheit gegeben wurde, die Wirkung dessen, was er schrieb, in lebendiger Ausführung erproben zu können. Zu diesem Zwecke wurden die auserlesensten Musiker herbeigezogen, um im Verein mit den Kindern neben den Meisterwerken der verschiedensten Gattungen auch die neuen Arbeiten der Kinder auszuführen. So entwickelte sich namentlich die schöpferische Kraft des Knaben Felix ebenso rasch und glänzend wie seine seltenen Gaben der Ausübung.

So erregte der geniale Knabe die Bewunderung seiner Umgebung vielleicht nicht weniger als einst der Knabe Mozart. Von Zelter im November 1821 bei Goethe in Weimar eingeführt, gewann er auch des unsterblichen Dichters Zuneigung sofort. »Die erste Probe«, so berichtet Dr. Carl Mendelssohn, der Sohn des grossen Tonmeisters, nach den Aufzeichnungen des Vaters6, »welche Goethe dem jungen Künstler auferlegte, bestand darin, [28] dass er ihn auf ein von Zelter gegebenes Thema frei phantasiren hiess.« Zelter setzte sich an den Flügel und spielte mit seinen steifen gelähmten Fingern ein sehr einfaches Lied in Triolenbewegung: »Ich träumte einst von Hannchen«, dessen Melodie so zahm und trivial als möglich lautete, und Mendelssohn behandelte es im wildesten Allegro, dass, als er geendet hatte, Zelter ziemlich verwundert ausrief: »Na! Du hast wohl vom Kobold oder Drachen geträumt. Das ging ja über Stock und Block.« Goethe aber »nahm den Kopf des kleinen Künstlers zwischen die Hände, streichelte ihn und sprach scherzend: ›Aber damit kommst du nicht durch, du musst noch mehr spielen, bevor wir dich ganz erkennen.‹« Bachsche Fugen, das Menuett aus »Don Juan« und die Ouvertüre zu »Figaro«, die ihm Felix darauf spielte, »machten den Dichter immer heiterer und freundlicher und liessen ihn Scherz und Neckerei mit seinem kleinen Gaste treiben.« Als letzte Probe seiner erworbenen aussergewöhnlichen Fertigkeit als Clavierspieler legte ihm Goethe dann noch mehrere Manuskripte vor, unter denen ihm namentlich die von Beethoven unentzifferbar erschienen; schliesslich brachte Felix auch dies heraus zur vollen Befriedigung des Dichters, der sich, ihn neckend, freute, dass auch er an einzelnen Stellen gestockt hätte. Als der Wunderknabe ihm aber am andern Tage sein erstes Quartett für Clavier und Streichinstrumente vorführte, sprach sich der Dichter gegenüber den dabei betheiligten Weimarer Kammermusikern bewundernd anerkennend darüber folgendermassen aus: »Die musikalischen Wunderkinder sind zwar hinsichtlich der technischen Fertigkeit heutzutage keine so grosse Seltenheit mehr; was aber dieser kleine Mann im Phantasiren und Primavistaspielen vermag, das grenzt an's Wunderbare und ich habe es bei so jungen Jahren nicht für möglich gehalten.«

Die ganz gleiche Bewunderung erregte der junge Genius auch am Weimarischen Hofe beim Grossherzog, wie namentlich bei der Erbgrossherzogin, der kunstliebenden russischen Grossfürstin Marie Paulowna, wie bei dem grossen Claviermeister Hummel – damals Weimarischem Hof-Capellmeister. Besonderer Gunst erfreute sich der lebensprühende, kecke Knabe bei den [29] Damen nicht nur in Goethes Hause, sondern auch am grossherzoglichen Hofe.

Charakteristisch für die Selbständigkeit seines Urtheils, das sich selbst durch den, wie einen Gott verehrten Goethe nicht beeinflussen liess, ist, was Felix über die Claviervirtuosin Szymanowska, die jener Zeit in Weimar weilte und die auch auf den grossen Dichter einen tiefen Eindruck machte, schreibt: »Die Szymanowska wird über Hummel gesetzt. Man hat ihr hübsches Gesicht mit ihrem Spiel verwechselt.« Auch Goethes Hausfreund Riemer muss sich eine ziemlich burschikose Kritik gefallen lassen; als er mit ihm zu Mittag essen musste, »ward ihm dabei ganz griechisch zu Muthe«, und er meint, »das Lexiconmachen ist ihm gut angeschlagen. Er ist dick, fett, glänzend wie ein Prälat oder ein Vollmond.«

Auch nach erfolgter Rückkehr in's Elternhaus blieb er in Verkehr mit Goethe und seinem Hause. Auf Wunsch der Schwiegertochter Goethes, der Frau Kammerrath Ottilie von Goethe, geb. von Pogwitsch, übersandte er ihren Kindern Wolfgang und Walter das echte Berliner Weihnachtsprodukt »Waldteufel«, aber nicht ohne Gebrauchsanweisung. Felix schreibt dazu: »Doch möchte ich Ihnen rathen, diesen Brummteufel mit Bann zu bestricken, denn in der Stube gewährt er keinen Ohrenschmaus; im Freien auf dem Berliner Weihnachtsmarkte, wo man diese Lärmmacher zu Hunderten findet und hört, geht das Gebrumme noch eher an.«

Schon im nächsten Jahre im Herbst wiederholte er den Besuch bei Goethe. Diesmal in Begleitung der Eltern. Die ganze Familie hatte am 22. Juli 1822 eine Reise nach der Schweiz angetreten, deren erster Tag schon ein Abenteuer für Felix brachte, welches S. Hensel7 wie folgt erzählt:

»Gleich am ersten Reisetage wurde Felix in Potsdam vergessen. In jedem Wagen glaubte man bei der Abfahrt, er befinde sich in dem andern und erst auf der ersten Station hinter Potsdam – Grosskreuz – drei starke Meilen entfernt, bemerkte [30] man seine Abwesenheit. Herr Heyse (der Hauslehrer) fuhr sogleich zurück, und die Gesellschaft hatte sich auf 4–5 Stunden Aufenthalt gefasst gemacht, indes, schon nach Verlauf einer Stunde kam Heyse mit dem verlorenen Sohn zurück; er (d.h. Felix) war in Potsdam gerade gekommen, als die Wagen abgefahren waren; er lief sogleich nach, auf der Chaussee lange den Staub der Wagen im Auge behaltend und nicht vermögend, sie zu erreichen. Indessen wanderte er immer fort und hatte sich vorgenommen nach Brandenburg zu folgen. Ein Bauernmädchen gesellte sich zu ihm; sie brachen sich starke Stöcke ab und gingen getrost weiter, bis Heyse eine Meile vor Grosskreuz Felix fand.«

Auf der Rückreise nahm die Familie längeren Aufenthalt in Frankfurt a.M., und hier machte Felix die Bekanntschaft mit Schelble – dem trefflichen Leiter der dortigen Singacademie – die nicht ohne Einfluss auf seine weitere Entwickelung bleiben sollte.

Dann ging die Familie nach Weimar, wo sie von Goethe mit der grössten Herzlichkeit aufgenommen wurde. Die Mutter berichtet darüber: »An Goethe's und Schopenhauer's machten wir herrliche, unvergessliche Bekanntschaften. Mit inniger Mutterfreude sah ich, dass Felix sich unter den vorzüglichen Menschen ungemein beliebt gemacht hatte, und gerne verdanken ihm die glücklichen Eltern die ausgezeichnete Güte, mit der sie aufgenommen wurden. – Da er gewöhnliche Musikkunst nicht liebt, war sein Piano seit Felix Abwesenheit unberührt geblieben, und er öffnete es ihm mit den Worten: ›Komm und wecke mir all die geflügelten Geister, die lange darin geschlummert.‹«

»Und ein andermal: ›Du bist mein David, sollte ich krank und traurig werden, so banne die bösen Träume durch dein Spiel, ich werde auch nie wie Saul den Speer nach dir werfen.‹«

Nach der Rückkehr in's Elternhaus begannen die Kinder mit dem regsten Eifer wieder ihre Studien, und besonders auf Felix war der Eindruck der Reise ein ungewöhnlicher geworden. »Die Wirkungen der Reise«, schreibt Fanny, »äusserten sich bei Felix unverzüglich nach unserer Zurückkunft. Er war bedeutend grösser [31] und stärker geworden. Züge und der Ausdruck des Gesichts hatten sich mit unglaublicher Schnelligkeit entwickelt und die veränderte Haartracht (man hatte ihm seine schönen langen Locken abgeschnitten) trug nicht wenig dazu bei, sein Ansehen zu entfremden. Das schöne Kindergesicht war verschwunden, seine Gestalt hatte etwas Männliches angenommen, das ihn auch sehr gut kleidete.« Felix war inzwischen auch confirmirt worden.

Unterm 11. März 1823 schreibt dann Zelter an Goethe: »Mein Felix hat sein fünfzehntes Jahr angetreten. Er wächst unter meinen Augen. Sein erstaunliches Clavierspiel darf ich gerne als nebenher ansehen. Auf der Violine kann er gleichfalls Meister werden. Von seiner vierten Oper ist der zweite Act fertig. Alles gewinnt Gediegenheit, kaum fehlt noch Stärke und Macht; alles kommt von Innen und das Aeusserliche seiner Zeit berührt ihn auch nur äusserlich. Denke Dir meine Freude, wenn wir erleben, dass der Knabe lebt und erfüllt, was seine Unschuld verspricht« und unterm 8. Febr. 1824 meldet er an Goethe: »Gestern ist Felixens vierte Oper vollständig nebst Dialog unter uns aufgeführt worden.«

Seit 1820 waren in gleicher Weise drei einaktige Opern von ihm: »Die beiden Pädagogen« – »Soldatenliebschaft« und »Die wandernden Comödianten« im Elternhause zur Aufführung gelangt. Die Texte hatten einen jungen Arzt – Dr. Caspar, nachmals Geheimer Medizinalrath – zum Verfasser. Ueber die vierte »Der Onkel aus Boston« berichtet Zelter weiter: »Es sind drei Acte, die nebst zwei Balleten etwa drittehalb Stunden füllen. Das Werk hat seinen hübschen Beifall gefunden. Von meiner schwachen Seite kann ich meiner Bewunderung kaum Herr werden, wie der Knabe, der soeben 15 Jahre geworden ist, mit so grossen Schritten fortgeht. Neues, Eigenes, Ganzeigenes ist über all zu finden. Geist, Fluss, Ruhe, Wohlklang, Ganzheit, Dramatisches. Das Massenhafte wie von erfahrenen Händen, Orchester interessant; nicht erdrückend, ermüdend; nicht blos begleitend. Die Musici spielen es gern und ist doch eben nicht leicht. Das Bekannte kommt und geht vorüber, nicht wie genommen, vielmehr an seiner Stelle willkommen und zugehörig. Munterkeit, [32] Jubel, ohne Hast, Zärtlichkeit, Zierlichkeit, Liebe, Leidenschaft, Unschuld.«

Nach der ersten Orchesterprobe veranstaltete Zelter eine eigenthümliche Feier. Als bei dem nachfolgenden Abendessen einer der mitwirkenden Dilettanten des jungen Componisten Gesundheit ausbrachte, nahm Zelter diesen bei der Hand und sprach: »Mein lieber Sohn, von heute ab bist du kein Junge mehr, von heute an bist du Geselle. Ich mache dich zum Gesellen im Namen Mozart's, im Namen Haydn's und im Namen des alten Bach's« und darauf herzte und küsste er ihn. In der Zelterschen Liedertafel wurde dann diese Gesellensprechung noch ganz besonders gefeiert.

Nicht weniger überrascht von den ungewöhnlichen Leistungen Felix's fanden sich auch die fremden bedeutenden Künstler, welche das Haus Mendelssohn besuchten. Von Kalkbrenner, dem seiner Zeit berühmten Clavierspieler und Clavierpädagogen, der 1823 ins Haus kam, berichtet Fanny: »Er hat viel von Felixens Sachen gehört, mit Geschmack gelobt und mit Freimüthigkeit und Liebenswürdigkeit getadelt. Wir hören ihn oft und suchen von, ihm zu lernen.«

Einen nahezu enthusiastischen Verehrer aber fand der heranreifende Künstler in Ignaz Moscheles, einem der ersten Claviervirtuosen jener Zeit, der schon eine Reihe bedeutender Triumphe hinter sich hatte, als er 1824 nach Berlin kam und bald einer der gern gesehensten Gäste im Hause Mendelssohn wurde. Er schreibt darüber in seinen Tagebüchern8:

»Das ist eine Familie, wie ich noch keine gekannt habe. Der fünfzehnjährige Felix, eine Erscheinung, wie es keine mehr giebt. Was sind alle Wunderkinder neben ihm? Sie sind eben Wunderkinder und sonst nichts. Dieser Felix Mendelssohn ist schon ein reifer Künstler und dabei erst fünfzehn Jahre alt! Wir blieben gleich mehrere Stunden bei einander, ich musste[33] viel spielen, wo ich eigentlich hören und Compositionen sehen wollte, denn Felix hatte mir ein Concert in C-moll, ein Doppelconcert und mehrere Motetten zu zeigen und alles war genialisch und dabei nur korrekt und gediegen! Seine ältere Schwester Fanny, auch unendlich begabt, spielte Fugen und Passacaillen von Bach auswendig mit bewunderungswerther Genauigkeit! Ich glaube, sie ist mit Recht ein ›guter Musiker‹ zu nennen. Beide Eltern machen den Eindruck von Menschen, die den höchsten Grad von Bildung haben; denn sie sind weit entfernt, auf ihre Kinder stolz zu sein, sie machen sich Sorge wegen Felix's Zukunft, ob er wohl ausreichend Begabung habe, um Tüchtiges, wahrhaft Grosses zu leisten? Ob er nicht, wie so viele talentvolle Kinder, plötzlich wieder untergehen wird.«

Wiederholt bat die Mutter Moscheles, dem geliebten Sohne noch Unterricht zu ertheilen, wozu dieser sich nur schwer entschloss. »Der hat keine Lectionen nöthig«, schrieb er in sein Tagebuch; »will er mir etwas abmerken, was ihm neu ist, kann er es leicht.«

Besonders lebhaft wurde der Verkehr im Mendelssohnschen Hause, als der Vater im folgenden Jahre (1825) das – Leipziger Strasse 3 gelegene – grosse Haus mit dem herrlichen Park vom Minister von der Recke – das jetzige Reichstagsgebäude – gekauft und bezogen hatte. Hier konnte den genialen Kindern ein besonderer Musiksaal eingerichtet werden, in welchem sich bald ein reges Leben entwickelte. Zu den Gästen des Hauses gehörte auch Spohr, als er seine Oper »Jessonda« in Berlin einstudirte.

Doch erhoben sich in der eigenen Familie auch Stimmen dagegen: Felix Musik als Beruf erwählen zu lassen. »Ich bin«, schreibt der erwähnte Schwager Bartholdy aus Rom, »nicht ganz einverstanden, dass Du Felix keine positive Bestimmung giebst. Diese würde und könnte seiner Anlage zur Musik, über die nur eine Stimme ist, keinen Eintrag thun. – Ein Musiker von Profession will mir nicht in den Kopf, – das ist keine Carrière, kein Leben, kein Ziel; man ist im Anfang so weit, wie am Ende, und ich weiss es, ja, in der Regel besser daran. Lasse den [34] Buben ordentlich studiren, dann auf der Universität die Rechte absolviren und dann in eine Staatscarrière treten. Die Kunst bleibt ihm als Freundin und Gespielin zur Seite. So wie ich den Gang der Dinge erkenne, bedürfen wir der Leute, die ein Studium gemacht haben, bald mehr als je. Soll er aber ein Kaufmann werden, so gieb ihn früh in ein Comptoir«9.

Dem gegenüber erschien es daher dem Vater nothwendig, noch den besonderen Rath einer Autorität einzuholen, und diese glaubte er in Cherubini, dem damaligen Director des Pariser Conservatoriums gefunden zu haben. Als er daher 1825 veranlasst war, seine Schwester Henriette von Paris abzuholen, nahm er seinen Felix mit, um ihn von dem, als Componist wie als Theoretiker gleich hochberühmten Cherubini prüfen zu lassen.

Was er in Paris über diesen und seine verbitterte und vergrämte Stimmung erfuhr, war allerdings wenig vertrauenerweckend. Die mancherlei Misserfolge und Zurücksetzungen, die er hatte erfahren müssen, hatten den hochverdienten Meister fast menschenscheu und menschenfeindlich gemacht, worüber Schüler und Freunde die wunderlichsten Dinge zu berichten wussten. Um so mehr überraschte die Weise, wie er den jungen Deutschen aufnahm. Felix spielte vor ihm sein H-moll Quartett, das er damals beendet hatte und später Goethe widmete, und schrieb auf Cherubinis Veranlassung ein Kyrie für fünfstimmigen Chor und Orchester. Nachdem ihm Felix mit den französischen Musikern sein Quartett vorgespielt hatte, nickte ihm Cherubini freundlich zu, und sprach dann zu den Mitwirkenden: »Ce garçon est riche, il fera bien, il fait même déjà bien, mais il dépense trop de son argent, il met trop d'étoffe dans son habit. Je lui parlerai, alors il fera bien.«10

Dem entsprechend beseitigte auch Cherubini's Urtheil beim Vater jeden Zweifel über die Bedeutung des Talentes seines [35] Felix, aber dessen weitere Studien der Leitung des fremden Meisters zu übergeben, was dieser wünschte, vermochte der Vater nicht und er entsprach hierin nur dem Wunsche des Sohnes, der sich wenig angezogen fühlte von dem Musiktreiben in der Oeffentlichkeit, wie in den Pariser Salons. In dem Kyrie, das Mendelssohn als Probearbeit hier schrieb, wollte Zelter sogar etwas von feiner Ironie auf Cherubinis Compositionsweise wittern. »Der brave Junge«, meinte er, »hat das Stück fast ironisch in einem Geiste verfasst, der, wenn auch nicht der rechte, doch ein solcher ist, den Cherubini stets gesucht und, wenn ich nicht sehr irre, nicht gefunden hat.«

Der Aufenthalt in Paris währte vom 23. März bis zum 19. Mai. Auf der Rückreise wurde ein dritter Besuch bei Goethe gemacht, der das Band zwischen dem grossen Dichter und dem jungen Künstler nur noch fester knüpfte. In Berlin selbst wandte dieser sich von jetzt an ausschliesslich der Künstlerlaufbahn zu, ohne doch die anderweitigen Studien deshalb zu vernachlässigen; 1827 bezog er die Universität und hörte hier fleissig philosophische und historische Collegia von Gans, Ritter, Lichtenstein und Hegel.

Häufiger als bisher trat er jetzt auch mit seinen Leistungen in die Oeffentlichkeit. Schon im November 1825 führte er in einem Concert des Hannoverschen Concertmeisters Louis Maurer eine Symphonie, von ihm selbst componirt, auf und spielte die Phantasie von Beethoven. Am 29. April 1827 folgte dann im Schauspielhause die Aufführung der Oper: »Die Hochzeit des Gamacho«, zu welcher ihm der junge hannoversche Legationssecretär Klingemann – Sohn des als Dichter und Theaterdirector bekannten Professor's August Klingemann – den Text verfasst hatte und die schon seit 1825 der Aufführung harrte. Sie wurde von dem zahlreichen Publikum Anfangs mit stürmischem Applaus, gegen das Ende mit theilweiser Opposition aufgenommen. Der ganze Verlauf dieser Angelegenheit legte den Grund zu der Verstimmung, die bei Mendelssohn gegen Berlin allmählich Platz griff.

Am Dürer-Fest – den 12. April 1828 – wurde wiederum [36] eine Ouvertüre, die C-dur Trompeten-Ouvertüre, und eine Cantate – letztere aus einer Instrumentaleinleitung und vierzehn Nummern bestehend – aufgeführt und zu dem, in demselben Jahre, im September von Alexander von Humboldt den deutschen Naturforschern im Saale des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin veranstalteten Feste eine Cantate für Männerstimmen mit Begleitung von Clarinetten, Hörnern, Trompeten, Pauken, Violoncell und Contrabass, zu der Ludwig Rellstab den Text gedichtet hatte, vorgetragen. Auch die Singacademie sang jetzt mehrere seiner Compositionen öffentlich, wie ein »Te Deum« für achtstimmigen Chor am 3. Febr. 1829; ein »Hora est« für Chor im November 1830; das »Ave maris stella« in einem Concert der Milder im Juli 1829 in der Marienkirche. Sein Ruf als vortrefflicher Künstler begann bereits sich auch nach aussen zu verbreiten. So ging er in Folge an ihn ergangener Aufforderung im Febr. 1827 nach Stettin, um dort mehrere seiner Compositionen aufzuführen. In Berlin trat er auch häufig als Clavierspieler auf; namentlich begleitete er die Gesangsvorträge des trefflichen Tenoristen Bader und erwarb sich dabei die unnachahmliche Weise der Begleitung.

Auch die Verleger suchten bereits seine Compositionen für ihren Verlag zu gewinnen. So wandte sich Nägeli in Zürich im November 1826 an ihn mit der Bitte um ein Clavierstück für eine grössere, von ihm zu veranstaltende Sammlung. Mendelssohn hatte, wie er in dem Antwortschreiben bekennt11, noch nie etwas für ein Instrument geschrieben. »Sonaten mit Violine, oder Bratsche, Quartette und dergleichen«, heisst es wörtlich weiter, »hat mich immer mehr angezogen«, und es ist anzunehmen, dass Nägelis Antrag ihn veranlasste, die Sonate für Piano in E-dur (Op. 6) zu schreiben. Diese wäre demnach in das letzte Viertel des Jahres 1826 zu setzen. Am 29. Juli 1827 schreibt er an Nägeli auf dessen wiederholte Anfrage, dass er die Sonate bereits an Laue, (ein Berliner Verleger) gegeben habe12.

[37] Das bedeutendste Ereigniss dieser Zeit ist wohl unstreitig die erste öffentliche Aufführung der grossen Bachschen Passion in der Singacademie am 11. März 1829 unter seiner Leitung, welche einen solchen gewaltigen Erfolg hatte, dass sie schon am 21. März wiederholt werden konnte. Das gewaltige Werk, dem nur wenige seinesgleichen in allen Künsten an die Seite zu stellen sind, war bekanntlich seit einem Jahr hundert verschollen. Mendelssohn hatte es mit dem kleinen Chor, den er in seinem elterlichen Hause versammelte, schon einzustudiren begonnen und unterstützt durch seinen Freund Eduard Devrient war es ihm endlich gelungen, diese erste öffentliche Aufführung in der Singacademie glänzend ins Werk zu setzen.

Schwester Fanny schreibt hierüber an Klingemann13: »Felix und Devrient sprachen schon lange von der Möglichkeit einer Aufführung, aber der Plan hatte nicht Form, nicht Gestalt; an einem Abend bei uns gewann er beides und den Tag darauf wanderten die Zwei in neugekauften gelben Handschuhen (worauf sie sehr viel Gewicht legten) zu den Vorstehern der Academie. Sie traten leise auf und frugen bescheidentlich, ob man ihnen für einen wohlthätigen Zweck wohl den Saal überlassen würde. Sie wollten alsdann, da die Musik wahrscheinlich sehr gefallen würde, eine zweite Aufführung zu Gunsten der Academie veranstalten. Aber die Herren bedankten sich höflich und zogen vor, ein gewisses Honorar von fünfzig Thalern zu nehmen und den Concertgebern die Verfügung über die Einnahmen anheimzustellen. Zelter hatte nichts dagegen einzuwenden und so begannen die Proben. Die Leute staunten, gafften, bewunderten. Die Sache selbst, das Neue, Unerhörte der Form interessirte.«

Die Aufführung schon fand unter ganz ausserordentlicher Betheiligung des Publikums statt und mehr noch die Wiederholung. Der Ertrag beider Aufführungen wurde zur Stiftung zweier Nähschulen für arme Mädchen verwendet.

Zelter veranstaltete dann am Charfreitage, den 17. April, [38] eine dritte Aufführung; bisher hatte er den Charfreitag mit dem Graunschen »Tod Jesu« gefeiert.

Jetzt erschien es dem Vater angemessen, den Sohn auf Reisen zu senden; nach dem er den Rath von Moscheles darüber eingeholt hatte, ob er Italien oder England zum Reiseziel setzen solle und sich Moscheles für England entschied, folgte Mendelssohn seinem Rathe. »Felix Vater«, schreibt Moscheles14 »hatte mir im Laufe des Winters geschrieben, ob ich wohl meine, glaube, rathe, dass sein Sohn mit einigen Compositionen, worunter die ›Sommernachtstraum-Ouvertüre‹, London besuche. Wohl meinte und glaubte ich, dass der junge Mann ein Genie sei, wohl rieth ich ihm, zu Ostern zu uns zu kommen und versprach von ganzem Herzen ihn in die fremde Welt einzuführen.«

Hiermit und mit der, nach der Rückkehr unternommenen Reise nach Italien, beginnt ein neuer Abschnitt in dem Leben Mendelssohns, innerlich wie äusserlich. Er verlässt den häuslichen Heerd, entzieht sich den sorgsam leitenden Händen desselben, um in einer ihm fremden Welt seine Mündigkeit zu erproben und zu erweisen und zugleich einen Platz für seine weitere Wirksamkeit zu suchen.

Es dürfte angemessen sein, die Werke dieser abgeschlossenen Periode etwas specieller zu betrachten, weil dadurch die Weiterentwickelung des wunderbaren Künstlers leichter anschaulich wird.

Fußnoten

1 Denkwürdigkeiten. Neue Folge. Bd. II. Seite 222.


2 Bd. IV. Seite 74 ff.


3 Am 15. März.


4 Ludwig Berger. Ein Denkmal von L. Rellstab, Seite 70.


5 Mehrfach äussert er sich hierüber hoch erfreut in seinen Briefen an Goethe, wie z.B. »Er ist nahe daran, seine fünfte Oper zu vollenden und ich darf mich freuen; es ist ein hübsches Leben darin und das nicht auf Manier beruht. Er fasst seine Zeit bei den Ohren, und führt sie mit sich.« (Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Bd. IV. Seite 63.)


6 Goethe und Felix Mendelssohn-Bartholdy von Dr. Karl Mendelssohn-Bartholdy. Leipzig, S. Hirzel, 1871. S. 8 ff.


7 Die Familie Mendelssohn. Th. 1. S. 121 ff.


8 Aus Moscheles Leben. Nach Berichten und Tagebüchern herausgegeben von seiner Frau. Leipzig, Duncker u. Humblot, 1872. Bd. 1. S. 92.


9 S. Hensel, Die Familie Mendelssohn. Th. 1. S. 93.


10 Dieser Knabe ist reich begabt; er wird es gut machen; ja! er macht es jetzt schon gut, aber er geht zu verschwenderisch mit seinen Mitteln um. Ich werde mit ihm reden, dann wird er's gut machen.


11 Musikerbriefe. Leipzig, Duncker u. Humblot. S. 299.


12 Ebend. S. 300.


13 Die Familie Mendelssohn. A.a.O. I, S 207.


14 Aus meinem Leben. Bd. I, S. 206.

Quelle:
Reissmann, August: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sein Leben und seine Werke. Leipzig: List & Francke, 1893..
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