II.

Leipzig besaß in jener Zeit drei öffentliche Unterrichts-Anstalten: die Thomas-, Nikolai- und Waisenhausschule1. Von ihnen war die erstgenannte bei weitem die älteste, sie reicht als Stiftsschule der regulirten Augustiner zu St. Thomae bis ins 13. Jahrhundert hinab2. Städtisch wurde sie indessen erst vier Jahre nach Einführung der Reformation in Leipzig, indem im Jahre 1543 der Rath sie mit dem sogenannten Thomaskloster und den zugehörigen Klostergütern als Eigenthum erwarb. Das Kloster hatte ein Alumneum gehabt, in welchem zur Ausführung des liturgischen Gesanges und anderer Cultushandlungen eine Anzahl von Knaben unterhalten [11] wurde. Als protestantische Lehranstalt erfuhr die Schule bald bedeutende Erweiterungen. Zunächst hatte sie vier Classen und eben so viele Lehrer. Als die im Jahre 1511 gegründete Nikolaischule die lernbegierige Jugend nicht mehr fassen konnte, gestattete der Rath, zuerst bis auf weitere Verordnung, auch kleine Knaben in die Thomasschule aufzunehmen. Die Unterweisung mußte anfangs wiederum durch Schüler geschehen, sogenannte Locaten; später traten an deren Stelle Collaboratoren. Die Schule umfaßte nun sieben Classen, von denen namentlich die drei niedrigsten eine Zeit lang sehr gefüllt waren. Das Alumnat war geblieben, die Zahl der Stellen wurde durch eine Reihe von Stiftungen allmählig bedeutend vergrößert. Eine Weile betrug sie 32, wuchs dann auf 54 und endlich durch die Stiftung eines Geheimraths Born auf 55 an3. Der Hauptzweck, welchen man bei der Erhaltung und Vermehrung des Alumnats im Auge hatte, war die Pflege der Kirchenmusik. Schon den regulirten Augustiner-Chorherren war die Mehrzahl der Leipziger Kirchen, unter ihnen die Thomas- und Nikolai-Kirche, unterstellt gewesen. Die Reformation hielt an einer engen Verbindung von Kirche und Schule fest, und die Alumnen der Thomasschule waren demnach für eine musikalische Ausstattung des protestantischen Gottesdienstes die nächstgegebenen Organe. Mit wie großem Nachdrucke aber Luther die Übung der Musik empfahl, wie er grade von ihr sich große Erfolge für die Ausbreitung der neuen Lehre versprach, ist bekannt.

Der Cantor einer solchen Anstalt war also eine wichtige Persönlichkeit, doppelt wichtig, da er von jeher auch wissenschaftlichen Unterricht zu ertheilen gehabt hatte. Dies drückte sich auch in der Stellung aus, welche er im Lehrer-Collegium einnahm. Die Rangordnung wies ihm in demselben den dritten Platz an4, und während [12] die übrigen Lehrer täglich je vier Stunden geben mußten, war er nebst dem Rector nur zu je dreien verpflichtet. In dieser geringeren Belastung, die sich mit der Zeit noch mehr verringerte, liegt auch wohl der Grund, weshalb man zu sieben Schulclassen schließlich acht Lehrer nöthig hatte. Die Unterrichtszeit war Morgens von 7–10 Uhr und Mittags von 12–3 Uhr. Vor Erlaß der Schulordnung vom Jahre 1634 hatte der Cantor täglich von 7–8 Uhr lateinische Grammatik – nur am Sonnabend Luthers lateinischen Katechismus –, von 12–1 Uhr Musik, von 1–2 lateinische Syntax mit den Tertianern zu treiben. In Gemäßheit der erwähnten Schulordnung wurde die Zahl seiner Gesangstunden um etwas erhöht, diejenige der lateinischen Stunden bedeutend vermindert und von der üblichen Ertheilung von drei Lectionen täglich einfach abgesehen. Der Gesangunterricht fand jetzt am Montag, Dienstag und Mittwoch um 9 und 12 Uhr, am Freitage nur um 12 Uhr statt. Er erstreckte sich auf alle Classen zusammen, d.h. auf die vier obersten und ursprünglichen, denn die Alumnen gehörten nur diesen an. Am Donnerstag früh um 7 Uhr hatte der Cantor die Schüler zur Kirche zu führen, und war übrigens den ganzen Tag frei; am Sonnabend mußte er zu derselben Stunde den Tertianern und Quartanern den lateinischen Katechismus erklären; an den übrigen Tagen hatte er in Tertia je eine lateinische Stunde zu geben. Dieser Lectionsplan erhielt sich mit merkwürdiger Stetigkeit bis zu Bachs Eintritt und trat einstweilen auch für ihn unverändert in Kraft, nur mußte er am Freitag früh mit den Schülern die Kirche besuchen, und war dafür am Donnerstage vollständig frei5. Gesangunterricht ertheilte der Cantor nur in den vier oberen Classen, seine wenigen wissenschaftlichen Lectionen fast nur in der dritten Classe, deren Hauptlehrer sonst der sogenannte Tertius war. Mit diesem, dem Rector und dem Conrector [13] bildete er den Kreis der vier oberen Lehrer (superiores), welche sich gegen die übrigen, den Baccalaureus funerum, Baccalaureus nosocomii, den ersten und zweiten Collaborator, oder, wie sie seit 1723 hießen, den Quartus, Quintus, Sextus und Septimus vornehm abschlossen. Den elementaren Gesangunterricht in den drei unteren Classen pflegte der zweite Collaborator zu ertheilen6. Die vier oberen Lehrer, und also auch der Cantor, waren überdies noch zur Inspection der Alumnen verpflichtet, welche unter ihnen wochenweise wechselte. Sie wohnten dann zeitweilig ganz mit ihnen zusammen und mußten der herrschenden Hausordnung sich anbequemen, nach welcher Morgens um 5 Uhr (des Winters um 6 Uhr) aufgestanden, um 10 Uhr zu Mittag, um 5 Uhr Nachmittags zu Abend gegessen und um 8 Uhr schlafen gegangen wurde7.

Dieses war es, was dem Cantor innerhalb der Schule oblag. Der Oeffentlichkeit gegenüber erwuchsen ihm weitere Verpflichtungen aus der Stellung, welche er als Director verschiedener durch die Alumnen gebildeter Kirchenchöre einnahm. Die beiden Hauptkirchen der Stadt waren die Thomas- und Nikolai-Kirche. Im Jahre 1699 war aber die reparirte Barfüßer-Kirche unter dem Namen »Neue Kirche« dem Gebrauche wieder übergeben und seit Telemanns Anstellung (1704) mit einer eignen Musik ausgestattet worden. Sodann hatte man 1711 den ganz eingegangenen Gottesdienst in der Peterskirche wieder hergestellt8. Seit dieser Zeit hatten die Alumnen der Thomasschule sonntäglich in vier Kirchen die Musik zu besorgen, an den hohen Festtagen außerdem in der Kirche des Hospitals zu St. Johannis9. Sie theilten sich demgemäß in vier Chöre. [14] Der Peterskirche, in welcher nur Choral-Musik zu singen war, wurden die Anfänger und Schwachen zugewiesen; vermuthlich bediente dieser Chor zugleich die Johanniskirche, deren Fest-Gottesdienst mit dem der Peterskirche nicht collidirte10. Die übrigen Sänger wurden wohl ziemlich gleich vertheilt, doch war der Dienst in der Neuen Kirche ein verhältnißmäßig leichter, da hier die Schüler nur Motetten und Choräle unter Direction des Chorpräfecten zu singen hatten, an den Festtagen aber und während der Meßen mit anderen Kräften eine concertirende Kirchenmusik aufgeführt wurde11. Dirigent der letzteren war seit Telemanns Zeit der jedesmalige Organist; die Functionen des Thomas-Cantors reichten hier nicht weiter, als daß er die Kirchenlieder und wahrscheinlich auch die Motetten zu bestimmen hatte, welche gesungen werden sollten12. In der Peters- und Johannis-Kirche war er gar nicht beschäftigt; mithin blieb ihm die Direction der Musik in der Thomas- und Nikolai-Kirche. An den gewöhnlichen Sonntagen wurden immer nur in einer der beiden Kirchen eine Cantate und Motetten aufgeführt und zwar in regelmäßiger Abwechslung; die Cantate sang der erste Chor unter Direction des Cantors. An den beiden ersten Tagen der drei hohen Feste aber, sowie am Neujahr-, Epiphanias-, Himmelfahrts- und Trinitatis-Tage, desgleichen am Tage Mariä Verkündigung wurde in beiden Kirchen gleichzeitig zweimal concertirende Musik gemacht, so nämlich, daß der erste Chor dieselbe Cantate, welche er Vormittags in der Nikolaikirche gesungen hatte, am Nachmittage in der Thomaskirche vortrug, an einem darauf folgenden zweiten Festtage aber des Vormittags in der Thomaskirche sang und seine Cantate des Nachmittags in der Nikolaikirche wiederholte, während der zweite Chor es umgekehrt machte. Letzterer sang unter Leitung seines Präfecten13. Die Proben zu den sonntäglichen Kirchenmusiken fanden[15] regelmäßig des Sonnabends nach dem auf 2 Uhr Nachmittags festgesetzten Vespergottesdienste in der Kirche statt und pflegten bis 4 Uhr zu dauern14.

An die mit dem öffentlichen Gottesdienste in unmittelbarer Verbindung stehenden Amtsgeschäfte schlossen sich als kirchliche Obliegenheiten außerordentlicher Art die Musikaufführungen bei Trauungen und Leichenbegängnissen. Waren die Leichenbegängnisse solennen Charakters, so daß die ganze Schule oder wenigstens die genannte große halbe Schule, d.h. die drei obersten Classen nebst der fünften die Leiche begleiteten, so pflegte vor dem Trauerhause eine Motette gesungen zu werden. Während der Procession nach dem Kirchhofe sangen die der Leiche vorausgehenden Schüler einfache Choräle, Figural-Musik nur in besonders ausgezeichneten, feierlichen Fällen. Der Cantor mußte bei den Leichenbegängnissen immer zugegen sein, er hatte zu bestimmen, was gesungen werden sollte und dirigirte wohl die Motette in der Regel selbst. Daß er sich indessen nicht selten auch dieser Verpflichtung entzog und seine musikalischen Functionen dem Chorpräfecten überließ, lassen verschiedene amtliche Bestimmungen deutlich erkennen: auch Bach wurde es durch seinen Revers eingeschärft, bei Leichenbegängnissen jederzeit so viel wie möglich neben den Schülern herzugehen15. Was die Brautmessen betrifft, so war in ihnen die Verwendung der Musik gleichfalls eine verschiedenartige, je nach Stand und Wunsch der betreffenden Persönlichkeiten. Dem Cantor lag in allen Fällen die Anordnung der Musik ob, wenngleich er sich, wann es nur einfachen Choralgesang galt, an dem Acte selbst garnicht immer betheiligte. Er hatte in den Präfecten der verschiedenen Chöre seine Stellvertreter, welche ihn nicht nur der Mühe des Dirigirens sondern auch des Einstudirens vielfach überhoben. Dieser Brauch herrschte schon im 17. Jahrhundert. Nachdem durch die Schulordnung von 1634 für die ersten drei Wochentage je zwei Singstunden eingerichtet [16] waren, petitionirten bald darauf Rector, Conrector und Tertius beim Rathe, man solle doch dem Cantor die auf 12 Uhr festgesetzte Singstunde wieder nehmen und ihm dafür eine Stunde wissenschaftlichen Unterrichts zulegen; diese Singstunde sei ihm unbequem wegen des Mittagsessens und deshalb komme er nur selten in dieselbe; übrigens sei er auch nichts nütze darin, denn die Knaben vermöchten und pflegten auch zu singen ohne ihn16. Es blieb aber bei der einmal getroffenen Einrichtung und sie bestand, wie wir sahen, noch zu Bachs Zeit. Ebenso freilich die laxe Praxis des Cantors, wie denn auch Bach seinem Rector Joh. Aug. Ernesti Anlaß zu der Klage gab, er halte nur eine Singstunde, während er doch deren zwei zu halten schuldig, und folglich würden die Knaben in der Musik nicht genug geübt17. Es lag aber in der Natur der Sache, daß den Präfecten Raum zur Entwicklung einer gewissen Selbständigkeit gewährt wurde. Denn abgesehen davon, daß ein Schülerchor nicht selten von Persönlichkeiten, welche der Schule nahe standen, zu Hochzeits- oder andern Festlichkeiten verlangt wurde, um während der Tafel durch den Vortrag einiger Gesangstücke zu erfreuen18, so hatten auch die Schüler regelmäßig zu bestimmten Zeiten des Jahres ihre Gesangsumgänge durch die Stadt zu halten; in diesem wie in jenem Falle waren sie bei der Ausführung der Gesänge ganz auf sich selbst angewiesen. Die Umgänge fanden in der Zeit um Michaelis und Neujahr, so wie an den Tagen Martini und Gregorii statt19. Die singfähige Masse der Alumnen unterlag auch bei dieser Gelegenheit einer Zertheilung in vier Chöre oder Cantoreien; wahrscheinlich wurde einem jeden derselben eines der vier Stadtviertel [17] als Feld seiner Wirksamkeit bestimmt. Im Jahr 1718 waren beispielsweise die vier Cantoreien folgendermaßen besetzt: die erste zählte drei Bassisten, drei Tenoristen, zwei Altisten und drei Discantisten; die zweite je zwei Sänger für jede Stimme; die dritte je zwei Sänger für Bass, Tenor und Alt und drei für den Discant; die vierte zwei Bassisten, drei Tenoristen, zwei Altisten und drei Discantisten; jede Cantorei hatte außerdem einen oder zwei Luminanten20. Die Thätigkeit des Cantors beschränkte sich darauf, die Cantoreien zusammenzusetzen, im allgemeinen zu bestimmen, was bei den Umgängen gesungen werden sollte und allenfalls bei den zu diesem Zweck gehaltenen Uebungen bisweilen zu inspiciren; das übrige war Sache der Präfecten. Namentlich die Präfecten der ersten beiden Chöre21 bekleideten wichtige Posten. Sie mußten die sonn- und festtäglichen Motetten dirigiren und die Lieder in der Kirche anfangen, der Präfect des zweiten Chors hatte an Festtagen in der Kirche, in welcher der Cantor sich nicht befand, die Cantate zu dirigiren, während der erste sich dadurch auszeichnete, daß ihm die Leitung der Gesangsstücke bei Hochzeitstafeln und ähnlichen Gelegenheiten oblag, daß er in der Michaeliszeit mit seinem Chor allein singen ging, und daß er bei Verhinderung des Cantors diesen in der Direction der Cantate vertrat22.

Fügt man nun noch hinzu, daß der Cantor als Musikdirector an den beiden städtischen Hauptkirchen auch die Inspection über die Organisten derselben und über die Stadtpfeifer und Kunstgeiger [18] hatte, welche bei den Kirchenmusiken mitwirken mußten23, so sind seine Berufspflichten sämmtlich genannt. Daß dieselben sehr drückend gewesen wären, wird nicht behauptet werden können. Außer fünf lateinischen Lectionen, von denen wie wir sahen Bach sich bald frei machte, waren wöchentlich sieben Gesangstunden zu ertheilen, aber die Nachmittagsstunden unter diesen blieben häufig ganz den Präfecten überlassen. Ferien gab es an der Thomasschule nicht wenige. Während jeder Messe, also um Ostern, Michaelis und Neujahr, war eine Woche völlig und eine zweite an den Nachmittagen frei. In den Hundstagen fielen vier Wochen lang die Nachmittagsstunden aus. Bei der Feier der Aposteltage, bei Parentationen in der Universitätskirche und den vierteljährlichen akademischen Redeacten kamen die Vormittagsstunden in Wegfall. Bei den Namenstagen der vier oberen Lehrer war je ein Tag frei. Zur Einübung auf das Neujahr-, Gregorii- und Martini-Singen sollten jedesmal acht Tage freigegeben werden, doch so, daß Montag, Dienstag, Mittwoch und Sonnabend Vormittagsstunden wären, »und niemals dabey ausgeschlafen« würde. So bestimmte es die Schulordnung24. Thatsächlich aber waren zur Vorbereitung auf das Neujahrsingen nicht weniger als vier Wochen genommen worden. Im Jahre 1733 machte dann der Rector den Versuch, die Vorbereitungszeit für den Gregorius-Tag auf sechs bis acht Nachmittage, für den Martinus-Tag auf vier, für die Neujahrs-Umgänge auf zwölf bis vierzehn Nachmittage einzuschränken. Während dieser Vorbereitungen fielen sämmtliche Nachmittags-Singstunden des Cantors aus25. Auch der Kirchendienst dauerte nicht das ganze Jahr hindurch. In der Fastenzeit wurde keine concertirende Kirchenmusik gemacht, ausgenommen am Feste der Verkündigung Mariä; dasselbe galt von den drei letzten Adventsonntagen26. Sonst hatte der Cantor jeden Sonntag eine Cantate [19] aufzuführen. Nur an Festtagen war er stark in Anspruch genommen, besonders zur Zeit der drei hohen Feste, wo er für je zwei Fest-Tage je zwei Kirchenmusiken zu besorgen, und von einer jeden derselben zwei Aufführungen zu veranlassen hatte, wenn ihm auch der zweite Chorpräfect täglich die Direction der einen von ihnen abnahm.

Der Cantor hatte, wie schon berührt worden ist, eine freie Dienstwohnung. Sein übriges Jahreseinkommen belief sich ungefähr auf 700 Thaler27, entzog sich indessen seiner Natur nach einer ganz genauen Berechnung. Der feste Gehalt betrug von Seiten des Raths nur 100 Gülden = 87 Thlr. 12 ggr. und 13 Thlr. 3 ggr. Holz- und Lichtgeld. Außerdem erhielt der Cantor, wenigstens zu Bachs Zeit, 1 Thlr. 16 ggr. aus der Bergerschen, die gleiche Summe wie es scheint aus der Frau Bergerschen, die gleiche Summe aus der Adlershelmschen und 5 ggr. jährlich aus der Meyerschen Stiftung, ferner nahm er mit größeren oder kleineren Beträgen (3 Thlr. 18 ggr., 21 ggr., 10 ggr. 6 Pf. u.s.w.) an einigen der Thomasschule zugewendeten Legaten Theil, endlich wurden ihm an Naturalien 16 Scheffel Korn, 2 Klafter Scheitholz und aus den Mitteln der Thomaskirche je zwei Kannen Wein à 10 ggr. zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten geliefert28. Alles übrige waren Accidentien. Diese flossen zunächst aus dem Schulgelde. Wöchentlich zweimal gingen acht Thomasschüler mit Büchsen durch die Stadt, um von einer bestimmten Anzahl von Wohlthätern der Schule milde Gaben – das sogenannte Currende-Geld – einzusammeln. Hiervon wurden für jeden Schüler sechs Pfennige als wöchentliches Schulgeld abgezogen und dieses monatlich unter die vier oberen Lehrer vertheilt29. Der sehr geringe Satz[20] findet seine Erklärung in dem Principe, vorzugsweise die Kinder unbemittelter Eltern in der Thomasschule zu erziehen. Von dem Gelde, welches bei den Michaelis- und Neujahr-Umgängen gesammelt wurde, erhielt, nach Abzug eines Thalers für den Rector, der Cantor zunächst 1/11, und nach Abzug von 1/11 für den Conrector und 16/33 für die Sänger nochmals 1/4 des Restbetrages. In ähnlicher Weise wurde ein gewisses im Sommer gesammeltes Geld vertheilt30. Was am Gregorius-Tage einkam, diente zu 1/10 zunächst dem Rector für Anrichtung eines Conviviums, das er den vier obern Lehrern zu geben hatte, von dem Rest erhielt der Cantor 1/331. Eine weitere Einnahme waren die Leichengelder. Ging die ganze Schule mit und wurde vor dem Trauerhause eine Motette gesungen, so erhielt der Cantor 1 Thlr. 15 ggr., ohne Motette 15 ggr., bei der großen halben Schule bekam er 1 Thlr., bei der kleinen halben Schule 4 ggr., bei der Viertels-Schule 6 Pfennige32. Von Brautmessen erhielt der Cantor 2 Thlr.33 Ein größtentheils auf Accidentien gegründetes Einkommen hatte natürlich seine mißlichen Eigenschaften. Es ließ sich niemals mit Sicherheit im Voraus überschlagen und war von allen möglichen Zufälligkeiten, ja buchstäblich von Wind und Wetter abhängig. Denn, schreibt Bach an Erdmann, wenn eine gesunde Luft in Leipzig herrscht, so giebt es weniger Leichen und folglich eine empfindliche Einbuße in den Einkünften des Cantors. Nach dieser Theorie hätte eigentlich das Behagen des Cantors mit der zunehmenden Sterblichkeit der Bürgerschaft wachsen müssen. Viele versuchten auch, durch Umgehung der gesetzlichen Vorschriften und Durchbrechung althergebrachter Sitten den Cantor um seine Gebühren zu bringen. Kuhnau mußte es dem Rathe klagen, daß viele vornehme Brautpaare sich ohne Sang und Klang oder gar auf dem Lande trauen ließen, daß an den Sonn- und Wochentags-Stunden, an welchen sonst nur solenne, einträgliche Brautmessen hätten stattfinden dürfen, jetzt alles und jedes zur Trauung zugelassen werde, daß viele auch ihre Verstorbenen [21] mit der kleinen halben Schule, aber weil sie sich dessen vor der Öffentlichkeit schämten, in der Stille beisetzen ließen; neue Compositionen für solche Gelegenheiten würden vollends selten noch bei ihm bestellt34. Auch für das Unwürdige einer Einrichtung, welche geschehen ließ, daß einem hervorragenden Kirchen- und Schul-Beamten seine Subsistenzmittel bei Groschen und Pfennigen, und zum Theil gar durch Vermittlung spendensammelnder Schüler ins Haus gebracht wurden, fehlte trotz mancher Verschiedenheit jetziger und früherer Anschauungen die Empfindung nicht. Bei der zunehmenden Naseweisheit der Jugend, meinte der Rector Gesner, würde es sehr wünschenswerth sein und vieler üblen Nachrede die Wurzel abschneiden, wenn das Unterrichtsgeld für die Lehrer nicht mehr von den Currende-Geldern abgezogen würde. Die Vertheilung der Leichengelder hatte Joh. Heinr. Ernesti selbst übernommen, um nur das viele Klagen, den Verdruß und die Unruhe zu vermeiden, die jeder Zeit dieses Geldes wegen erregt worden seien. Hierbei müsse er aber viel leiden und sich auf dem Rathhause und in der ganzen Stadt als der ungerechteste Mann verleumden lassen35. Aber, wie dem auch sein mochte, so viel stand fest, daß das Einkommen des Thomas-Cantors selbst einem Bach mit seiner zahlreichen Familie in bürgerlich einfachen Verhältnissen bequem zu leben gestattete. Zeugen dafür sind die wohlgeordneten Finanzen und das solid ausgestattete Hauswesen, welches Bach bei seinem Tode zurückließ.

In Beziehung also auf amtliche Stellung und Beschäftigung, sowie auf materielle Versorgung war die Lage des Thomascantors eine günstige zu nennen. Blickt man über das Zunächstliegende hinaus, so fallen freilich in das helle Bild verschiedene tiefe Schatten. Die Thomasschule war seit dem Beginne des 18. Jahrhunderts in einem Zustande erschreckenden Verfalles. Zum Theil lag die Schuld an ihrer Organisation. In Gemäßheit der Stiftungen, auf welche sie sich gründete, sollte sie einerseits eine Pflegestätte kirchlicher Musik, andrerseits vorzugsweise eine schola pauperum sein. Gründlichkeit und Stetigkeit der geistigen Ausbildung, strenge und unablässige Ueberwachung der Schüler wurden durch die vielfachen Verwendungen, [22] welche dieselben zu musikalischen Zwecken fanden, fast unmöglich gemacht. Und doch war solches bei den Kindern der niedern Classen, und vollends unter der damaligen Generation, doppelt von nöthen. Allein es hatte auch unter den Lehrern zu lange an den Persönlichkeiten gefehlt, welche ihrer Stellung gewachsen waren. Als Bach sein Amt antrat, fand er als Rector der Schule einen Greis, der diese Stelle schon nahezu 40 Jahre bekleidete. Johann Heinrich Ernesti war im Jahre 1652 als Sohn eines sächsischen Dorfpredigers geboren, studirte in Leipzig Theologie und Philosophie, wurde 1680 Sonnabendsprediger an der Nikolaikirche und Conrector an der Thomasschule, 1684 an dieser Anstalt Rector, 1691 zugleich Professor poeseos an der Leipziger Universität36. Ein nicht ungelehrter Mann scheint er übrigens zur Leitung einer öffentlichen Unterrichtsanstalt dieser Art wenig geeignet gewesen zu sein. Weder Lehrer noch Schüler wußte er im Takte zu halten. Das Lehrercollegium lebte in Uneinigkeit, Eifersucht und mangelhafter Pflichterfüllung dahin, die Schüler verkamen in Zuchtlosigkeit und Unreinlichkeit. Jahrelang war die Thomasschule ein Heerd widerlicher Krankheiten, die sich um so tiefer einnisten mochten, als – wofür freilich der Rector endlich nicht verantwortlich war – in den Räumlichkeiten der Schule die größte Beschränktheit herrschte: vor dem im Jahre 1731 unternommenen Ausbau des Schulhauses wurden die Secundaner und Tertianer einerseits, und andrerseits die Quintaner, Sextaner und Septimaner in einem und demselben Locale von ihren verschiedenen Lehrern zu gleicher Zeit unterrichtet37. Die Folge war, daß die Frequenz der Schule sich sehr verringerte. Allerdings auf das Alumnat waren immer genug Aspiranten vorhanden, sicherte dieses doch eine fast kostenfreie Existenz und überdies einen nicht unbeträchtlichen Verdienst. Wie zu der Schule des reich dotirten Michaelisklosters in Lüneburg so zogen auch zu dem Alumnat der Thomasschule selbst aus entlegenen Gegenden die Knaben heran. Aber im übrigen fing die bessere Welt an, sich von der übel beleumdeten Anstalt fern zu halten. Am klarsten ließ sich dies aus dem [23] Besuch der drei untersten Classen erkennen. Sie, die in Ernestis früheren Jahren zusammen oft über 120 Schüler gezählt hatten, wiesen im Jahre 1717 im Ganzen nur 53 Schüler auf38. Wer seine Kinder in der Nikolaischule nicht unterbrachte, gab sie lieber in eine der zahlreichen Winkelschulen oder hielt sich einen Privatlehrer, was auch nicht allzu kostspielig war, denn eine Privatstunde wurde damals in Leipzig mit 12 bis 18 Pfennigen bezahlt. In die untern Classen der Thomasschule gingen nur Knaben der allerschlechtesten Qualitäten, die sich aus dem Leichensingen einen Verdienst machen wollten, von den Lehrern angehalten werden mußten, nicht barfuß neben den Leichenzügen herzulaufen, und die gelegentlich in der Stadt umherbettelten39. Vor diesem verwahrlosten Zustande konnte der Rath endlich nicht mehr die Augen verschließen. Es wurde eine Visitation der Schule und eine Revision der Schulordnung beschlossen. Einstweilen blieb es bei dem guten Vorsatze. Der vom Rathe bestellte Vorsteher der Schule, Dr. Baudiß, mahnte im Jahre 1709, die Schule habe die längst beschlossene Visitation sowohl der Lehrer als der Schüler wegen höchst nöthig40; man scheute sich offenbar, die Sache anzurühren und ließ die wüste Wirthschaft fortdauern. Endlich im Jahre 1717 wurde mit der Reform scheinbar Ernst gemacht. Die Visitation erfolgte, außerdem hatte jeder Lehrer ein Gutachten über den Stand der Schule abzugeben und seine Wünsche auf Verbesserungen vorzutragen. Hier kamen denn sehr unerfreuliche Dinge zu Tage. Der alte Ernesti mußte selbst gestehen: »Sonsten kann ich bey dieser Gelegenheit nicht verhalten, wasmaßen bey denen Classibus inferioribus ein gar betrübter Zustand bishero sich hervorgethan, und sind sie beynahe dahin. So kann ich auch nicht anders, als mit Wehmuth schreiben, daß bey Beschaffenheit dieser Zeiten unter den superioribus, sonderlich bey dem Choro musico [24] mehr schlimmes zu besorgen, als gutes zu hoffen«41. Dann vergingen wieder einige Jahre. 1721 lag der Entwurf einer neuen Schulordnung vor, 1723 wurde er publicirt. Thatsächlich wurde dadurch wenig oder garnichts gebessert. Ernesti sträubte sich aufs äußerste gegen alle Änderungen. Soweit sie sich auf die Vertheilung des Schul- und Sing-Geldes und andre pecuniäre Dinge bezogen, sah er darin eine Kränkung seines Alters und eine Verkürzung seiner Emolumente, und von dem Cantor wurde ihm hierin secundirt. Man glaubte wohl Grund zu haben, dem alten Manne nicht allzu wehe thun zu sollen. So blieb denn bis zu seinem Tode (16. Oct. 1729) ziemlich alles beim Alten, oder richtiger, die Zustände verschlimmerten sich noch mehr. Am 11. Nov. des Jahres der Reorganisation mußten schon wieder sämmtliche Alumnen vor den Rath citirt und wegen ungebührlichen Lebenswandels und Unbotmäßigkeit gegen ihre Lehrer ernstlich vermahnt werden42. Am 30. Aug. 1730 berichtete der Schulvorsteher, Appellationsrath Dr. Stiglitz, die Uneinigkeit der Herren Praeceptoren und wie nicht alle und jede ihres Amtes gehörig wahrnähmen, ebenso der Verfall der Disciplin und die Unordnung in dem Leben und Wandel der Alumnen seien nur allzubekannt. Die Schule sei »sonderlich in Abfall und beynahe in verwildertes Wesen gerathen«43. Bald darauf war die Frequenz der Schülerzahl in den drei unteren Classen so gesunken, daß der Vorschlag gemacht werden konnte, sie ganz eingehen zu lassen.

Natürlicherweise wirkten diese Zustände auf die Beschaffenheit der Singchöre zurück. Man darf ohnehin von den Leistungen der Schulchöre im 17. und 18. Jahrhundert nicht allzu günstig denken. Das freimüthige Wort an das deutsche Volk, mit welchem J.A. Hiller seine »Anweisung zum musikalisch richtigen Gesange« (1774) eröffnete: »Jedermann singt, und der größte Theil singt – schlecht«, war fünfzig und hundert Jahre früher eine noch viel zutreffendere Wahrheit. Damals gab es wirklich überall unter den Deutschen keine echte Gesangskunst, geschweige daß sie in den Schülerchören eine Heimath gefunden hätte. Aus ungebildeten Knaben- und unreifen [25] Männerstimmen wäre ein vorzügliches Chormaterial auch dann nicht zu gewinnen gewesen, wenn günstigere allgemeine Culturverhältnisse und höhere Kunstanschauungen geherrscht hätten, als daß nächst der Ehre Gottes die Gesangstunden im Lectionsplan dem Zwecke dienten, die Verdauung der Schüler zu befördern44. Die allgemeine, Jahrhunderte alte Sitte des Current-Singens hat unzweifelhaft sehr viel beigetragen, im Volke die Liebe zur Musik zu nähren und den innern Zusammenhang zwischen Volk und Tonkunst zu wahren. Unzweifelhaft ist aber auch, daß das Current-Singen die Entwicklung der Gesangskunst mindestens in gleichem Maße gehindert hat. Diese langdauernden, fast immer in die rauheste Jahreszeit fallenden Umgänge, bei welchen die Schüler entweder in nebliger, kalter Luft stundenlang von Haus zu Haus sangen, oder in athemloser Hast durch alle Stockwerke kletterten, um vor der Thür eines jeden Bewohners ihre Lieder hören zu lassen, waren ein Ruin für die Stimmen. Kuhnau sprach aus langjähriger Erfahrung, wenn er 1717 berichtete, daß die besten Sänger und besonders die Discantisten, wenn sie bei dem vielen Leichen-, Hochzeits- und Current-Singen nicht geschont werden könnten, ihre Stimmen eher verlören, als sie es auch nur zu einer mäßigen Geschicklichkeit im Gesange gebracht hätten45. Nun denke man sich als diese Sänger zuchtlose junge Leute, die das durch ihren Gesang erworbene Geld in unerlaubten Vergnügungen vergeudeten, außerdem durch Krankheiten geplagt und geschwächt waren. Es mußte wenig erfreulich sein, mit einem solchen Materiale zu arbeiten.

Es kam noch etwas hinzu, was in den ersten Decennien des 18. Jahrhunderts den Thomanerchor vollständig herunter brachte. Leipzig lag in gefährlicher Nähe von Dresden und Weißenfels, zwei der Opernmusik sehr ergebenen Höfen. Bei dem starken Fremdenzufluß [26] erschien es ein zeitgemäßes Unternehmen, als im Jahre 1693 Nikolaus Strungk am Brühl ein eignes Opernhaus einrichtete, um in demselben während der Zeit der Messen »gewisse Operetten zu halten«. Die Leipziger Oper hat freilich ebensowenig Bestand gehabt, wie die Hamburger, hinter der sie übrigens schon deshalb weit zurückstand, weil sie nur in bestimmten kurzen Zeiten des Jahres existirte. Sie wurde im Jahre 1729 geschlossen und das Opernhaus abgetragen. Aber sie dauerte doch lange genug, um einige Jahrzehnte hindurch das dortige Musikleben merklich zu beeinflussen. In dem Erlaubniß-Decret hatte der Churfürst die Hoffnung ausgesprochen, es werde die Leipziger Oper zur Beförderung der Kunst beitragen und zugleich eine Art Vorschule für die Dresdener Oper abgeben, er meinte hinsichtlich der Instrumentalisten, denn deutsche Sänger konnte er unter seinen Italiänern nicht brauchen46. Sicher ist zunächst, daß die Oper die originalen Musikeinrichtungen Leipzigs für längere Zeit ruinirte. Derjenige, welcher, vielleicht unbewußt, den ersten entscheidenden Stoß gegen sie führte, war Telemann, und es ist eine eigne Fügung, daß nach Kuhnaus Tode der Rath sich eifrigst bemühte, grade ihn an die Spitze desjenigen Instituts zu bringen, dem er so sehr geschadet hatte. Es ist erwähnt worden, daß Telemann, während er in Leipzig studirte, eine rege Thätigkeit als Dichter, Componist und Darsteller von Opern entwickelte. Im Jahre 1704 wurde ihm mit dem Organistenamt auch die Direction der Kirchenmusik an der Neuen Kirche übertragen. Den gewöhnlichen Kirchenchor bildeten Thomaner, und daß man den Thomascantor bei der Directionsfrage ganz ignorirte, empfand Kuhnau mit Recht als eine Kränkung. Die directe Verbindung, welche in Telemanns Person zwischen Oper und Kirche hergestellt war, übte sofort ihren unheilvollen Einfluß. Früher hatten die Thomanerchöre durch musikalische, stimmbegabte Studenten, die zum Theil selbst der Schule angehört hatten und Anhänglichkeit an sie bewahrten, eine nicht unbeträchtliche Verstärkung erfahren. Auch als die Oper eingerichtet war und die gesangsfähigen Studenten in ihr Vergnügen und Gewinn suchten, blieb die Sitte, sich für die Sonn- und Festtags-Aufführungen dem Thomanerchore anzuschließen, [27] unter ihnen bestehen. Seit aber einer der Ihrigen die Opern für sie schrieb, einen Musikverein unter ihnen gründete und Kirchenmusiken dirigirte, gingen sie mit diesem und ließen Kuhnau im Stich47. Die Aufführungen in der Neuen Kirche fanden eine rasch wachsende Theilnahme. Hier konnte man nicht nur muntere, opernhafte Weisen hören, sondern sich auch an einer frischen, trefflichen Execution erfreuen. Der Musikverein, welcher diese Aufführungen veranstaltete, nahm bald bedeutende Dimensionen an; zwanzig Jahre hindurch und länger war er Leipzigs hervorragendstes musikalisches Institut. Seine Dirigenten waren die Organisten an der Neuen Kirche, es machte sich somit von selbst, daß der Verein mit dieser Kirche in engsten Beziehungen blieb. Unter dem Nachfolger Telemanns, Melchior Hoffmann (1705–1715), scheint er seine Glanzperiode erlebt zu haben. Er zählte oft gegen 60 Personen, welche sich wöchentlich zweimal, nämlich Mittwochs und Freitags, von 8 bis 10 Uhr Abends zu gemeinschaftlichen Übungen versammelten. Seine Productionen, die nur an den hohen Festen und in der Meßzeit stattfanden, waren für das musikliebende Publicum jedesmal ein Ereigniß. Mit der Oper hielt er sich schon durch seinen Dirigenten in Verbindung, der auch hierin in Telemanns Fußstapfen trat, daß er für die Leipziger Bühne componirte. Überhaupt aber ging es in jenem Kreise lustig her: des Tages musicirte man in fröhlichen Gesellschaften, des Nachts auf den Gassen, und auch bei den regelmäßigen Übungen, die in einem Kaffeehause am Markte stattfanden, und Zuhörer nicht ausschlossen48, herrschte eine Heiterkeit, die gegen Schul-Singestunden scharf contrastirte. Die Hoffnung, welche der Churfürst Johann Georg auf die Leipziger Oper gesetzt hatte, ging zum Theil an dem Collegium musicum der dortigen Studenten in Erfüllung. Verschiedene Male, wenn die sächsischen und andre Landesherren nach Leipzig kamen, durfte es sich vor ihnen hören lassen, und seine besten Kräfte fanden Engagements an fürstlichen und andern Capellen. So gingen Pisendel und Blochwitz [28] nach Dresden, Böhm nach Darmstadt, die Sänger Bendler und Petzhold nach Wolfenbüttel und Hamburg. Andere, die schon anderswo in Opern gesungen hatten, traten, wenn sie nach Leipzig kamen, in das Collegium ein. Übrigens war der Gesang darin schwächer vertreten, als das Instrumentenspiel, wie es in jener Zeit das gewöhnliche war. Bei den Aufführungen in der Neuen Kirche war jede Singstimme nur einfach besetzt. Stölzel, der zwischen 1707 und 1710 dem Vereine ebenfalls angehörte, hat uns die Namen der vier damaligen Sänger aufbewahrt. Bassist war Langmasius, später Kammerrath zu Eisenach, Tenorist Helbig, nachmals Regierungs-Secretär zu Eisenach und Dichter von Cantaten-Texten49, Sopranist Markgraf, der hernach als Conrector in Augsburg wirkte, und als Altistens glaubte sich Stölzel eines gewissen Krone zu erinnern, welcher als Kammermusiker in Weimar starb. Hoffmann selbst war ein feiner Musicus, der sich auch bemühte, seine Kunst in der Fremde zu zeigen: er soll 1710 eine zweijährige Kunstreise unternommen und auf ihr auch England besucht haben. Unterdessen vertrat ihn im Musikverein der treffliche Geiger Pisendel50. Hoffmanns Nachfolger wurde Johann Gottfried Vogler, »ein muntrer Componist und starker Violinist«, wie Telemann sagt. Eine gewisse »Munterkeit« scheint ihm auch im Leben eigenthümlich gewesen zu sein; er gerieth in Schulden und 1719 zur Zeit der Michaelismesse machte er sich heimlich aus dem Staube51. Die Sache erregte bedeutendes Aufsehen; man scheint ihn auch wieder eingefangen zu haben, denn er erhielt noch Besoldung bis zum ersten Quartale des folgenden Jahres einschließlich, für das zweite Quartal wurde sie zurückbehalten, weil er der Kirche einige Instrumente entfremdet und noch nicht wieder herbeigeschafft hatte52. Mit dem dritten Quartale trat [29] dann Georg Balthasar Schott ein, den wir als Mitbewerber Bachs um das Thomas-Cantorat schon genannt haben.

Während so der studentische Musikverein und die Oper den Ton angaben, hatte der Thomascantor schlechte Tage. Der Ausfall an Mitwirkenden war für ihn um so empfindlicher, als er immer an den Festtagen und in der Meßzeit am sichersten eintrat, wo er selbst zahlreicherer Kräfte bedurfte und vor den Fremden gern im günstigen Lichte erscheinen wollte. Da konnte er denn zusehen, wie er sich mit einem wüsten Haufen krätziger Schüler, die sich auf den Gassen heiser geschrieen hatten, und einigen mittelmäßigen Stadtmusikanten behalf. Kunstvollere Stücke konnte er garnicht mehr singen lassen; wenn er es einmal versuchte, fiel die Ausführung so jämmerlich aus, daß er sich vor der Zuhörerschaft nur schämen mußte. Früher hatte der Rath der Stadt zur Hebung des Chores wohl ein Übriges gethan. Zu Johann Schelles Zeiten hatte er gestattet, daß immer vier bis fünf Alumnen mehr, als den Stipendien nach geschehen sollte, in der Thomasschule Aufnahme fanden. Mittel zu ihrer Versorgung waren reichlich vorhanden, und der Musik kam die Toleranz zu gute. Als aber Schelle starb und seine Wittwe die Schulspeisung erhielt, bezeigte ihr der Rath sein Wohlwollen dadurch, daß er die überzähligen Alumnen abschaffte; sie brauchte für dasselbe Geld nun weniger zu kochen. Kuhnau bemühte sich unablässig um Wiederherstellung der früheren Einrichtung, oder irgend einen Ersatz für dieselbe. Er stellte vor, wie eine Vermehrung der musicirenden Kräfte niemals nöthiger gewesen sei, als jetzt; der Schulvorsteher unterstützte seine Vorstellungen – sie blieben ohne nennenswerthen Erfolg. Nicht einmal soviel konnte er erreichen, daß zwei Discantisten nur für die Kirchenmusik verwendet und aller andern Gesangsverpflichtungen enthoben wurden. Da sie dann an den Leichen- und Current-Geldern keinen Theil hätten haben können, so wäre eine Entschädigung nöthig gewesen. Das Geld dafür wollte der Rath nicht aufwenden. Es bestand die Einrichtung, jedesmal zwei Knaben nur von den Neujahrsumgängen, welche die angreifendsten waren, zu dispensiren; sie erhielten dagegen jährlich im Ganzen vier Gülden. Hierbei blieb es53. Augenscheinlich fehlte [30] das Interesse, die Musik in der Thomas- und Nikolai-Kirche zu unterstützen, nachdem man in der Neuen Kirche so viel Besseres zu hören glaubte. Nach Voglers Rücktritt machte Kuhnau den letzten Versuch, die verlorene Position wieder zu gewinnen. Er legte dar, wie das Treiben der »Operisten« in der Neuen Kirche der Bürgerschaft allen Sinn für echte Kirchenmusik benähme, wie die Orgel zu ihrem Verderben bald von diesen, bald von jenen »ungewaschenen Händen« bearbeitet würde, da der Musikdirector entweder nicht selbst spielen könnte, oder, nach Operisten-Art, alle Augenblick verreiset sei. Es wäre besser, wenn ein wirklicher beständiger Organist dort waltete, die Direction der Musik aber dem Thomascantor übertragen würde. Dann könne man, wie jetzt sonntäglich in zwei Kirchen abgewechselt werde, so künftighin in dreien reiheum musiciren. Und wenn an den Festtagen, wie bisher, in allen drei Kirchen Cantaten aufgeführt werden sollten, so vermöge der Cantor auch dieses zu leisten, denn er habe dann freie Verfügung über eine Menge von Studenten und könne sie nach seinem Ermessen in die Kirchen vertheilen. Den Studenten müsse ein Gratial gewährt werden, damit sie Lust zur Sache behielten; auch als Organisten in der Neuen Kirche könne man einen Studenten anstellen. Wolle aber der Rath auf alles dieses sich nicht einlassen, so müsse wenigstens auf ein Mittel gesonnen werden, diejenigen jungen Leute, welche von der Thomasschule die Universität bezögen, an den Thomanerchor zu fesseln54. Auch dieses Mal hatte Kuhnau vergeblich geschrieben. Schott erhielt das Organistenamt nebst der Direction, und es blieb alles beim Alten. Machte Kuhnau einmal einen schüchternen Oppositionsversuch, wie 1722, wo er sich wegen Herleihung der Thomaner zur Passionsmusik in der Neuen Kirche schwierig zeigte, so wurde er vom Rathe rücksichtslos zur Ordnung gerufen55.

Um die Zerrüttung vollständig zu machen, wurden die Thomasschüler selbst vom Opernfieber ergriffen. Es war eigentlich kein Wunder, da sie das verlockende Treiben immer vor Augen hatten. Sobald sie auf der Schule zu einer gewissen Fertigkeit im Gesange und in der Musik gekommen waren, sehnten sie sich aus der Enge des Alumnats hinaus in die Freiheit, träumten von Künstlerlorbeeren, [31] und waren auf der Schulbank nichts nütze mehr. Machten sie dann mit Opernunternehmern Bekanntschaft, so erhielten die Tüchtigsten unter ihnen wohl auch Anerbietungen. Nun verlangten sie flugs ihre Entlassung aus dem Schulverbande und wurde diese nicht gewährt, so liefen sie eigenmächtiger Weise davon, kamen mit irgend einer Operntruppe in der Meßzeit wieder und erregten durch ihr Auftreten im Theater und in der Neuen Kirche den Neid ihrer einstigen Schulkameraden. Ein Discantist, Namens Pechuel, war mit Erlaubniß des Rathes bisweilen nach Weißenfels gegangen, um in der Oper mitzuwirken. Er wollte mit der Zeit diese Kunstreisen weiter ausdehnen und auch in Naumburg Gastrollen geben. Das verbot der Rath; das junge Genie sprengte die unwürdigen Fesseln und entfloh. Dies geschah im Jahre 1706. Zwei Jahre später lief ihm ein Bassist, Namens Pezold, nach56. Bei beiden hatte ein ehrsamer Leipziger Bürger den Helfershelfer gemacht57. Man ersieht unschwer, auf welcher Seite damals die Sympathien des Publicums waren. Als Kuhnau für immer die Augen schloß, lag die Musik des Thomanerchors gänzlich am Boden, und das einjährige Interregnum, welches bis zum Eintritt des neuen Cantors herrschte, trug sicherlich nichts dazu bei, sie wieder aufzurichten.

Es ist unmöglich, daß Bach von allen diesen Dingen nicht genaue Kenntniß gehabt haben sollte, da er doch ein Bekannter Kuhnaus und mehre Male selbst in Leipzig gewesen war. Wie oben erzählt worden ist, schwankte er längere Zeit, ob er wohl daran thäte, Kuhnaus Nachfolger zu werden. Sein Schwanken war in mehr als einer Beziehung wohl begründet. Bot Leipzig sonst noch etwas, das ihn als Musiker hätte locken, ihm Anregung und Handhabe zu ersprießlichem künstlerischen Wirken hätte bieten können? Die Frage läßt sich kaum bejahen. Bedeutende Tonkünstler gab es damals dort nicht. Der einzige, der in seinem Fache neben Kuhnau etwas hervorragenderes geleistet hatte, Daniel Vetter58, war vor zwei Jahren [32] als Organist der Nikolai-Kirche gestorben. Diesen Mangel konnte Bach, ein Mann von so gewaltiger Productionskraft und so entschiedener Selbständigkeit, allerdings verschmerzen, hätte er nur irgend brauchbare Organe zur Verfügung gehabt, um selbst etwas zu gestalten. Leipzig war eine volkreiche, viel besuchte, durch verschiedenfache Interessen belebte Stadt; ein Kunstmittelpunkt, wie Dresden, Wien, München, ja selbst Hamburg, war sie nicht. Es wurde allerdings ziemlich viel musicirt, aber das geschah in Deutschland überall. Von einem Bestreben der Bürgerschaft, aus ihren Mitteln heraus etwas kunstförderliches zu schaffen, ist in jener Zeit garnichts zu merken; erst als Bach dem Greisenalter nahe stand und es für ihn zu spät war, beginnt ein andrer Sinn sich geltend zu machen. Einzig unter der Studentenschaft herrschte Lust und Frische zur Musik. Es hätte Kuhnau wohl gelingen können, die akademische Jugend an sich zu fesseln, wenn er etwas weniger zaghaft und conservativ gewesen wäre. Selbst neben dem so mächtig emporblühenden Telemannschen Musikverein war das noch möglich. Aber er wußte die Sache nicht richtig anzugreifen. Er sah, wie sein langjähriger Schüler Fasch ein zweites Collegium musicum unter den Studenten gründete, mit diesem in der Universitätskirche Musikaufführungen veranstaltete, trotzdem Kuhnau selbst der eigentliche Universitäts-Musikdirector war. Nur mit Anstrengung gelang es ihm, wenigstens vorläufig zu verhindern, daß dieses Collegium musicum sich in der Universitätskirche eben so festsetzte, wie das Telemannsche in der Neuen Kirche59. Zu der im Herbst 1716 vollendeten neuen Orgel wurde in Johann Gottlieb Görner ein höchst rühriges Individuum berufen. Es ist nicht nachzuweisen, ob es Faschs Musikverein war, dessen Direction Görner übernahm, und ob jener Verein überhaupt bis dahin Bestand gehabt hat. Nur das wissen wir bestimmt, daß Görner an der Spitze eines zweiten durchaus lebenskräftigen Collegium musicum stand, als Bach die Stelle an der Thomasschule antrat60. Görner, geb. 1697, war nach Vetters Tode Organist an der Nikolai-Kirche geworden. Als im Herbst 1729 der [33] alte Christian Gräbner gestorben war, folgte er ihm im Januar 1730 als Organist der Thomaskirche61. Er war also gewissermaßen Bachs Untergebener. Aber es fiel ihm nicht ein, sich bescheiden vor diesem Großen zurückzuhalten. Vielmehr trat er keck als Rival auf. Als einmal (im Winter 1727/28) Landestrauer herrschte, erbat er sich die Erlaubniß, trotzdem seine musikalischen Versammlungen weiter halten zu dürfen. Denn, gab er an, in seinem Vereine brächten die von den Schulen kommenden Studenten die musikalischen Fertigkeiten, welche sie sich bis dahin erworben hätten, zur Vollkommenheit, präsentirten sich durch die Aufführungen zur Meßzeit den Fremden und fänden auf diese Weise den Weg zu Cantoren- und Organisten-Stellen62. Also wenn ein Thomaner die Bachsche Lehre verließ, wollte ihm Görner den letzten Schliff geben. Sein dreistes Betragen nimmt um so mehr Wunder, als er im Grunde nur ein recht mittelmäßiger Musiker gewesen zu sein scheint. Ein Leipziger Kunstgenosse, Johann Adolph Scheibe, fällt im Jahre 1737 über Görner ein sehr herbes Urtheil, das vielleicht durch persönliche Gereiztheit etwas beeinflußt worden ist, aber im Ganzen doch die Wahrheit nicht allzuweit verfehlt haben kann. »Er hat die Musik seit vielen Jahren getrieben, und man sollte meinen, die Erfahrung habe ihn einmal auf den rechten Weg gebracht; allein, es ist nichts unordentlicheres, als seine Musik. Das innere Wesen der verschiedenen Schreibarten nach ihren verschiedenen Abtheilungen ist ihm ganz und gar unbekannt. Die Regeln sind solche Sachen, die er täglich entbehren kann, weil er sie nicht weiß. Er setzet keine reine Zeile; die gröbsten Schnitzer sind die Zierrathen aller Takte. Mit einem Worte: er weiß die Unordnung in der Musik am allerbesten vorzustellen«. Dann, zu seinem Charakter übergehend: »Der Hochmuth und die Grobheit haben ihn dabei so eingenommen, daß er sich vor dem ersten selbst nicht kennt, durch das andre aber unter einer großen Menge seinesgleichen den Vorzug erhält«. Bei einer späteren Gelegenheit verschärft Scheibe dieses Urtheil noch und fügt hinzu: »Er würde dasjenige nicht sein, was er doch ist, wenn nicht ein gewisser Mann alles für ihn gethan hätte. Dennoch hat der Erfolg [34] gezeigt, daß er bei einer gewissen Gelegenheit, da er sich auf eine edle Art hätte dankbar erzeigen können und sollen, nichts weniger als dankbar gewesen ist, sondern daß er vielmehr das erzeigte Gute durch eine heimtückische Bosheit vergolten hat«63. Wer unter jenem Wohlthäter zu verstehen ist, läßt sich nicht angeben. Für die Leipziger Zustände aber ist es bezeichnend, daß ein Mann wie dieser Görner ein Menschenalter hindurch dort neben Bach eine Rolle spielen konnte. Auch an der Universitätskirche hatte er rechtzeitig so festen Fuß zu fassen gewußt, daß es Bach trotz der Macht seines Namens und seiner Persönlichkeit nicht gelingen sollte, ihn aus dieser Stellung zu verdrängen.

Wir werden nun die Lage Bachs wohl nach allen Richtungen hin überschauen. Mehr als bei jedem früheren Orts- und Berufswechsel hatte er dieses Mal einen Schritt ins Ungewisse gethan. Er hatte ihn, um mit seinen eignen Worten zu reden, in des Höchsten Namen gewagt. Der Drang seiner Künstlerseele, wieder in Verhältnissen zu leben, wo es für die Musik der Kirche bedeutendes zu wirken gäbe, schien in Leipzig Befriedigung finden zu können. Der Schritt vom Capellmeister zum Cantor abwärts – denn ein solcher war es nach der Schätzung jener Zeit – wurde ihm erleichtert durch das hohe Ansehen, in welchem das Thomas-Cantorat unter den Musikern stand. Seth Calvisius, Hermann Schein, Tobias Michael, Sebastian Knüpffer, Johann Schelle und Johann Kuhnau, die nacheinander während der letzten 125 Jahre die Stelle bekleidet hatten, waren sämmtlich hervorragende, zum Theil sehr hervorragende praktische Künstler und gelehrte Männer gewesen. Ihre Reihe fortzusetzen war eine Ehre und Bach empfand sie als eine solche. Außerdem aber bot das Cantorat praktische Vortheile, und es scheint, daß diese den Ausschlag gegeben haben. Die Stelle galt für gut dotirt, und der Dienst war kein schwerer. Es soll damit nicht gesagt sein, daß er zur exacten Erfüllung aller Pflichten nicht seinen Mann erfordert hätte. Aber eine Überbürdung mit Amtsgeschäften war nicht vorhanden, es blieb für Bach zum eignen Schaffen freie Zeit genug. Endlich war ihm jetzt gestattet, ohne allzu empfindliche Opfer seinen [35] Söhnen eine höhere Ausbildung zu verschaffen. Wie sehr ihm grade dieses letztere am Herzen lag, geht aus einem rührenden kleinen Zuge hervor. Am 22. December 1723 – er war also ungefähr ein halbes Jahr in Leipzig – begab er sich nach der Universität und ließ den Namen des dreizehnjährigen Wilhelm Friedemann als künftigen akademischen Bürgers in das Studentenverzeichniß eintragen, obwohl derselbe thatsächlich erst am 5. April 1729 die Universität bezog64. Solche frühzeitige Anmeldungen waren nichts unerhörtes; es kam auch vor, daß die Universitäts-Matrikel als Pathengeschenk gegeben wurde; Bach scheint sie seinem Lieblingssohne haben zum Weihnachten schenken wollen. Erwog er gegenüber allen diesen Vortheilen die sehr erheblichen Schattenseiten der Stellung, so hoffte er wohl, vermittelst des großen Rufes, den er genoß, und durch die Kraft seiner Persönlichkeit bessere musikalische Zustände in dem Thomanerchor herbeiführen und die Leitung der musikalischen Angelegenheiten Leipzigs allmählig ganz in seine Hand bekommen zu können. Von wie großer Tüchtigkeit auch seine Amtsvorgänger gewesen waren, an Glanz des Namens überstrahlte der weitberühmte, von einem Fürstenhofe kommende und an Fürstenhöfen wohlgelittene Virtuose sie ohne Frage weit. Auch blieb er nicht nur cöthenischer Capellmeister von Haus aus, sondern wurde in dem Jahre seines Eintritts in Leipzig vom Weißenfelser Hofe mit derselben Auszeichnung bedacht65.

Fußnoten

1 Das jetzt lebende und florirende Leipzig. 1723. S. 84 ff.


2 Gretschel, Kirchliche Zustände Leipzigs vor und während der Reformation. Leipzig, 1839. S. 128 ff.


3 Acten des Leipziger Raths »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.« und »Fasc. II. sign. VIII, B. 6.« – Stallbaum, Die Thomasschule zu Leipzig. Leipzig, 1839. – Derselbe, Über den innern Zusammenhang musikalischer Bildung der Jugend mit dem Gesammtzwecke des Gymnasiums. Nebst biographischen Nachrichten über die Cantoren an der Thomasschule zu Leipzig. Leipzig, Fritzsche (1842).


4 Im Wahlprotokoll (s. Anhang B, I) nennt einer der Rathsherren den Cantor Collega quartus. Dies ist ein ungenauer Ausdruck und soll sich nur auf den wissenschaftlichen Unterricht beziehen, in welchem allerdings der Cantor thatsächlich dem Tertius nachstand. Ordnungsmäßig folgte er auf den Conrector, dieser auf den Rector; s. Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 10 ff. Wenn aber die Schulordnung angiebt, es habe vorher außer dem Rector noch acht Lehrer an der Anstalt gegeben, so gilt dieses mindestens nicht für Kuhnaus Zeit. Nach Ausweis der Acten von 1717 existirten damals außer dem Rector nur sieben Lehrer, grade so wie es auch zu Bachs Zeit war; einen Quartus über den beiden Baccalaureen gab es nicht.


5 Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 30.


6 Acten des Leipziger Raths »Schuel zu S. Thomas.Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 16 und 41a, vrgl. Fol. 63, 113 und 114. – »Acta, Die Verhältnisse des Pfarrers der Nicolai-Kirche zu Leipzig zu dem Superintendenten daselbst betr.«, auf dem Ephoral-Archiv zu Leipzig, einen Lectionsplan aus dem Jahre 1714 enthaltend.


7 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. VIII. B. 6.«, Notiz J.M. Gesners. S. außerdem Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 27 ff. Unter Gesners Rectorat wurde die Hausordnung etwas verändert. S. Gesetze der Schule zu S. Thomae. 1733. S. 12 ff.


8 Rathsacten VII. B. 110. Fol. 77.


9 Sie erhielten hierfür ein besonderes Gratial, früher Speisen und Kuchen, später jährlich 13 Thlr. 3 gr. Rechnungen des Hospitals im Archiv der Stiftungsbuchhalterei auf dem Rathhause zu Leipzig.


10 Bach bemerkt in einer von ihm aufgestellten Tabelle der vier Chöre zu dem vierten: »Und dieses letztere Chor muß auch [NB] die Petri Kirche besorgen«. Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 520.


11 S. Anhang B, IV, A. – Sicul, Neo-Annalium Lipsiensium Continuatio II. 2. Aufl. 1719. S. 568. – Außerdem die Actenstücke zum Streit zwischen Bach und Ernesti im sechsten Buche des vorliegenden Werkes.


12 S. Anhang B, IV, A.


13 Sicul, a.a.O. S. 568 f.


14 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«, hinten unter »Anmerkungen über die Ordnung der Schule zu St. Thomas, 1. Des HerrnGesners Lit. A. 2. Des Herrn Rect. Ernesti Lit. B.« S. 2. – S. Anhang B, IV, B unter 9 und IV, D.


15 Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 45 ff., 35 f., 71. – Anhang B, II unter 13.


16 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 113 und 114.


17 S. das unter Anmerk. 14 angeführte Actenstück, unter den Anmerkungen Ernestis zu Cap. V, §. 13 der Schulordnung.


18 Gesetze der Schule zu S. Thomae. 1733. S. 23, und aus den Actenstücken zum Streit Bachs gegen Ernesti das Promemoria des letzteren vom 13. Sept. 1736.


19 Nach dem Protokoll über die im Jahre 1717 gehaltene Schulvisitation. Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.« In der Schulordnung von 1723 ist auf S. 53 auch von einem »Music-Gelde« die Rede, »so im Sommer colligiret wird«. Wann und in welcher Art diese sommerlichen Umgänge stattfanden, weiß ich nicht zu sagen.


20 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


21 Es ist anzunehmen, daß die vier Kirchenchöre etwas anders zusammengesetzt waren, als die behufs der Gesangsumgänge gebildeten vier Cantoreien. Auch letztere können nicht bei allen Umgängen gleich stark gewesen sein: zu Neujahr sangen im Ganzen nur 32 Alumnen, also 8 in jeder Cantorei, eine Einrichtung, die offenbar aus der Zeit beibehalten worden war, da es in der Anstalt überhaupt nur 32 Alumnenstellen gab. Hieraus erklärt es sich auch, wenn in den Acten und der Schulordnung hin und wieder von den 8 Concentores die Rede ist.


22 S. aus den in Anmerk. 18 erwähnten Actenstücken die Eingabe Bachs vom 12. Aug. 1736 und Ernestis Promemoria vom 13. Sept. 1736. – Das Anstimmen der Lieder gehörte eigentlich zu den Obliegenheiten des Cantors, aber dem Herkommen gemäß thaten es die Präfecten und dabei blieb es auch, wie in so manchen andern Dingen ebenfalls, trotz den Bestimmungen der Schulordnung von 1723.


23 Schulordnung von 1723, S. 37.


24 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 36.


25 Bemerkungen Joh. Aug. Ernestis zu Cap. V, §. 13 der Schulordnung von 1723, in dem unter Anmerk. 14 angeführten Actenfascikel.


26 »Leipziger Kirchen-Staat, Das ist Deutlicher Unterricht vom Gottes-Dienst in Leipzig, wie es bey solchem so wohl an hohen und andern Festen, als auch an denen Sonntagen ingleichen die gantze Woche über gehalten wird,« u.s.w. »LEIPZIG verlegts Friedrich Groschuff, 1710.« 8. (Befindlich auf der Ponickauschen Bibliothek zu Halle.) S. 32 und 34.


27 Nach eigner Angabe Bachs in seinem Briefe an Erdmann.


28 »Jahres Rechnung des Raths der Stadt Leipzig über Einnahme und Ausgabe vom 29. Augusti 1723. bis 26. dito 1724.« – »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II.« VIII, B. 6. – Rechnungen der Schule zu St. Thomae von Lichtmeß 1723 bis Lichtmeß 1724.


29 So wurde es unter dem Rectorat Joh. Heinr. Ernestis gehalten, auch nachdem die Schulordnung von 1723 bestimmt hatte, daß nur für jeden Alumnen Schulgeld, und zwar im Betrage von wöchentlich 12 Pfennigen berechnet werden sollte. Überhaupt giebt die obenstehende Darstellung die Verhältnisse, wie sie zur Zeit von Bachs Eintritt wirklich waren, nicht wie sie den Vorschriften des Rathes gemäß sein sollten; ersteres deckte sich keineswegs überall mit letzterem.


30 S. darüber Anmerk. 19.


31 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


32 Schulordnung von 1723. S. 47 ff.


33 Zu Kuhnaus und seiner Vorgänger Zeit, s. Rathsacten unter Anmerk. 31. Die Schulordnung von 1723, S. 36, widerspricht dem freilich und setzt 1 Thlr. fest.


34 S. Anhang B, IV, D.


35 Rathsacten unter Anmerk. 31.


36 Sicul, Leipziger Jahrbuch. 4. Bd. S. 920 ff., und Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig, 1729. S. 791 f.


37 S. Anhang B, IV, B, 11, und IV, D. – Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. sign. VIII, B. 6.«


38 Protokoll über die am 5. und 6. April 1717 gehaltene Schulvisitation, in den Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


39 Nach einem wahrscheinlich von Gesner herrührenden Entwurf, wie man die drei untersten Classen der Thomasschule ganz eingehen lassen könnte, in den Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. sign. VIII, B. 6.« – Außerdem s. Schulordnung von 1723, S. 46.


40 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol. III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 364b.


41 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


42 Rathsacten »Ersetzung Derer Schul-Dienste in beyden Schulen zu St. Thomae und St. Nicolai. Vol. II. VII. B. 117.« Fol. 260.


43 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. sign. VIII, B. 6.«


44 Die hora Cantoris war allgemein von 12–1 Uhr, also gleich nach dem Mittagsessen; s. Ungewitter, Die Entwickelung des Gesangunterrichtes in den Gymnasien seit der Reformationszeit. Königsberg i. Pr. 1872. S. 11. Auf der Thomasschule war dies freilich nicht der Fall, da hier um 10 Uhr zu Mittag gegessen wurde. Aber noch ein so feiner Geist, wie Gesner, konnte vorschlagen, das Mittagsessen um eine Stunde hinauszuschieben und unmittelbar nach demselben Singstunde zu halten, denn die Singstunde diene zur gesündesten Bewegung nach Tische (Rathsacten unter Anmerk. 39).


45 S. Anhang B, IV, D.


46 Geschichte des Theaters in Leipzig. Von dessen ersten Spuren bis auf die neueste Zeit. Leipzig, 1818 (Verfasser: B.[lümner]). S. 32 ff.


47 S. Anhang B, IV, A.


48 Musikalische Bibliothek Oder Gründliche Nachricht, nebst unpartheyischem Urtheil von Musikalischen Schrifften und Büchern. Erster Theil. Leipzig,Anno 1736. 8. S. 64.


49 S. Bd. I, S. 624.


50 Mattheson, Große General-Bass-Schule, S. 173. – Derselbe, Ehrenpforte, S. 117 f. – »Das Anno 1713. florirende Leipzig. Zu finden bei C.F. Rumpffen.« 8. S. 30. – Sicul, »Des Leipziger Jahr-Buchs Andere Probe, Auf das 1716 Jahr ausgefertiget«. 12. S. 414. – Gerber, L. I, Sp. 656. – Anhang B, IV, A, B und E.


51 »Continuation Derer Leipzigischen Jahrbücher von Anno 1714 bis 1728.« Manuscript in Fol. auf der Leipziger Stadtbibliothek. Fol. 18.


52 Rechnungen der Neuen Kirche zu Leipzig von Lichtmeß 1719–1720, S. 27; von Lichtmeß 1720–1721, S. 28.


53 S. Anhang B, IV, D; ferner die Rechnungen der Thomas- und Nikolai-Kirche.


54 S. Anhang B, IV, E.


55 Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VII, B. 117.« Fol. 218.


56 Wahrscheinlich derselbe, welcher sich später imCollegium musicum hervorthat.


57 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 348b und 351. – Anhang B, IV, B.


58 »Herr Vetter, als der vornehmste Organicus allhier.« Bericht über die neue Pauliner-Orgel in »Die Andere Beylage zu dem Leipziger Jahr-Buche, aufs Jahr 1718«. S. 198 f.


59 S. Anhang B, IV, C; dazu die später folgenden Schriftstücke Bachs in seinem Conflict mit der Universität.


60 Das jetzt lebende und florirende Leipzig. Leipzig, bey Joh. Theodori Boetii seel. Kindern. 1723. 8. S. 59.


61 Rathsacten VII. B. 108. Fol. 91. Ebenda Fol. III.


62 Ephoralarchiv zu Leipzig »Trauer-Feiern beim Absterben der sächsischen Fürsten. Vol. I«.


63 Johann Adolph Scheibens Critischer Musikus. Neue Auflage. Leipzig, 1745. S. 60. S. Anhang A. Nr. 2.


64 »Bach, Wilhelm Friedemann, Vinario-Thuringensis« unter den Depositi, nondum inscripti vom 22. Dec. 1723.


65 Walther, Lexicon S. 64. Unter den Bestellungen des Weißenfelser Hofes von 1712–1745, welche im Staatsarchiv zu Dresden aufbewahrt werden, fehlen alle in das Jahr 1723 gehörige, und somit auch diejenige Bachs.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880..
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