Einfluß der Beobachtungen Weber's in Wien aus die Gesammtanlage der »Euryanthe«

[417] Es konnte also den scharfen und im Beobachten des Publikums geübten Blicken Weber's, nachdem er von All' dem Kenntniß genommen und gesehen hatte, wie tüchtig und echt sich der Kunstgeschmack Wiens in den Concerten zeige, im Gegensatze zu der Zerfahrenheit desselben, der sich im Theater kund gab, nicht entgehen, daß die Basis des Musiksinns in dieser schönen Stadt noch dieselbe gute sei wie früher, und das derzeitige Mißverstehen des Amtes der dramatischen Musik, verbunden mit dem unseligen Experimentiren mit der Verwaltung der Theater, Schuld daran habe, daß man, in Bezug auf den Werth der dramatischen Tonkunst, den Maßstab verloren hatte und, unsicher tastend, nach dem Rechten umhersuchte. Wenn Weber hörte, wie andächtig das Publikum Beethoven, Haydn, Cherubini, Mozart, Spohr im Concertsaale lauschte, wie es dort mit Herz und Geist empfing, während es im Theater seinen Liebling Rossini wie ein schönes, ungezogenes Kind mit dem Zuckerbrode tobenden Jubels verhätschelte, schien es ihm sehr möglich, daß eine wahrhaft gute, neue, ernste Oper auch jenen guten, ernsten Sinn und den dauernden Erfolg für sich gewinnen werde, der sich dort für die Meisterwerke kund gab. Saßen doch fast dieselben Leute im Theater und im Concertsaale! Es galt nur, im rechten Takte an die Herzen zu klopfen!

Der matte Erfolg von Beethoven's »Fidelio« konnte ihn hierbei nicht schrecken, denn er fühlte sehr wohl, daß dieß Werk, bei allen seinen[417] Herrlichkeiten, doch dem regen Gefühle der Wiener für dramatische Belebtheit nicht gemäß sein konnte.

Es ist unzweifelhaft, daß die »Euryanthe« die Grundgestalt, in der sie jetzt vorhanden ist, Weber's Studium über die Richtung des Musikgeschmacks in Wien in vielen Beziehungen verdankt, und daß er, der stets in seiner Zeit stehend, zuerst dieser und dann der Nachwelt gefallen wollte, zugleich daran verzweifelnd und es verschmähend, sich die Herzen von der Seite zu erobern, an der Rossini stürmte, beschloß, unter Zuziehung eines mächtigen, aus dem Lager der andern Künste geholten Belagerungsapparats, den Angriff von der schwierigeren, aber auch glorreicheren Seite der klassischen Musik her zu wagen, für die er die Brust des Wieners sich im Concertsaale entzünden sah. Zugleich hoffte er, durch die Neuheit der dem Werke zu Grunde zu legenden Prinzipien, für dasselbe die Stimmung schaffen zu können. die der Wiener in's Concert mitbrachte. im Theater aber in sich erweckt haben wollte.

Immerhin ist es als ein Glück bei alle dem zu betrachten, daß Barbaja, bei Weber's Anwesenheit in Wien 1822, seine glänzende Gesellschaft noch nicht beisammen hatte, denn es ist zweifelhaft, ob Weber dann, bei all' seinem gerechten Stolze auf die siegende Kraft seines Genius und seiner Prinzipien, den ihm von Rossini und den Italienern hingeworfenen Fehdehandschuh würde aufgenommen haben.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 2, Leipzig: Ernst Keil, 1866, S. 417-418.
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