Vater und Mutter

[13] Im April 1843 wurde die Eisenbahnstrecke Karlsruhe-Heidelberg eröffnet. In eine neue Welt der Wunder führte die eiserne Schienenspur. Die von allen Seiten herbeigeströmten Neugierigen wunderten sich über die unerhörte Geschwindigkeit, mit der die Dampfmaschine samt den angekuppelten Wagen über die Schienen rollte.

Auf der Maschine aber steht einer, den die treibend süße Wandersehnsucht im Herzen einst von den Tannenhängen seines stillen Waldtales hinausgeführt hatte in das laute Wirtschafts- und Verkehrsleben der Stadt. Es ist unser Hansjörg. Glückstrahlend steht er da oben. Seine Jugendträume sind erfüllt. Stolz ist er darauf, daß man die Führung des neuen, eisernen Verkehrsriesen seinen Händen anvertraut hat. Aber auch ich bin stolz auf diesen Mann, der auf einer der ersten Lokomotiven Badens einer neuen Zeit[13] entgegenfuhr, jener Zeit, die ein eisernes Schienennetz um den Erdball spannte.

Ich bin stolz auf ihn, wenn ich ihn auch nie gekannt habe; denn er ist mein Vater.

Leider habe ich ihn nie gekannt. Am 26. November 1844 bin ich in Karlsruhe zur Welt gekommen. Und schon 1846 kamen eines Tages schwarze Männer und trugen meinen Vater fort, dorthin, woher keiner mehr zurückkehrt, auf den Friedhof. Sie trugen ihn fort und mit ihm unser Glück. Den glückstrahlenden Führer hatte der Tod auf der Maschine an die Hand genommen und ließ ihn nicht mehr los. Als Opfer seines Berufes ist er gleichsam in den Sielen gestorben.

Wer von Karlsruhe nach Heidelberg fährt, der kommt vorbei an der Station St. Ilgen. Hier war es, wo ein Weichenwärter zu meines Vaters Zeiten eine Weiche falsch gestellt hatte. Infolgedessen entgleiste eine Maschine, nicht die des Vaters, sondern die eines Kollegen. Aber der Vater wurde von dem Führer der entgleisten Lokomotive und dem Weichenwärter zu Hilfe gerufen. Diese fürchteten nämlich eine empfindliche dienstliche Strafe zu bekommen. Mein Vater konnte ihnen die Bitte nicht abschlagen, obwohl bei den wenigen ins Vertrauen gezogenen Männern die Hebearbeiten sich recht anstrengend und schwierig gestalten mußten. Unter Aufbietung aller Kräfte half der Vater die Lokomotive wieder auf die Schienen stellen. Schweißtropfen rinnen dem hilfsbereiten Mann über die Stirne. Man sieht ihm an, daß er das Letzte hergegeben hat. Aber er darf nicht säumen. Seine Aufenthaltszeit ist abgelaufen. Stark erhitzt stellt er sich auf seine eigene Maschine. Der verantwortungsbewußte Führer kennt keine Rücksicht auf sich und seinen erhitzten[14] Zustand. Er kennt auf der eisernen Schiene nur die eiserne Pflicht. Das aber wird ihm zum Verhängnis. Denn sein Führerstand ist noch – zum Unterschied von heute – ungeschützt.

Einige Tage später. Mein Vater hat den Führerstand vertauscht mit dem Krankenbette. Eine heftige Lungenentzündung warf ihn infolge der zugezogenen Erkältung nieder. Aber seiner Lokomotive ist er treu geblieben. Sie steht neben ihm am Krankenlager. Sie schwebt ihm vor in Schmerzensträumen. Und in den höchsten Fiebern spricht er immer wieder von seiner Lokomotive.

Auf einmal wird es still in ihm, ganz still. Die Lokomotive ist verschwunden und mit ihr alles Fiebern und Denken und Träumen. Die schlimme Krankheit hat den willensstarken Sechsunddreißigjährigen rasch hinweggerafft.

Was mir der tote Vater als Erbe zurückließ, war fast nichts als das leuchtende Beispiel der ethischen Forderung: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.«

So war ich denn mit zwei Jahren vaterlos geworden. Aber ich hatte ja noch eine Mutter. Sie war die beste Mutter von der Welt.

Ich schließe die rechte Schublade meines Schreibtisches auf. Drin liegt etwas. Das habe ich gehütet wie ein Kleinod mein Leben lang. Eine Linse – einst geschenkt von meiner armen Mutter. Wenn ich durch diese Linse schaue- und ich habe es in den 80 Jahren meines Lebens mehr als tausendmal getan –, da sehe ich sie wieder vor mir, ganz wie sie war, groß wie ein Held. Nur ein Held konnte das traurige Schicksal, in das wir nach des Vaters frühem Tode geraten waren, so meistern, wie diese tapfere Frau es meisterte.[15] Nichts ist im Kampfe gegen die Not so stark wie Mutterliebe. Wie eine Mutter schon bei der Geburt ihr Leben einsetzt für das Kind, so kann sie hungern und frieren, kann leiden, entbehren, sorgen, sparen und lachen unter Tränen, wenn nur das Kind lacht und fröhlich ist.

Als der Vater die Augen geschlossen hatte, da wollte mir meine treffliche Mutter beides zugleich sein: Vater und Mutter.

»Kommt, laßt uns unseren Kindern leben«, dies schöne Wort beseelte sie nun ganz und gar. Sie war groß, schlank, schlicht. Aus ihren Augen leuchtete die Herzensgüte. Aber auf ihrer Stirn lag ein Ausdruck von Kraft, von Willenskraft und Tatkraft.

Sie hatte selbst eine harte Jugend hinter sich. Ihr Vater war der Eroberungssucht jenes Mannes zum Opfer gefallen, unter dessen klirrendem Schritt die halbe Welt erdröhnte. Bekanntlich lastete das korsische Joch der Fremdherrschaft so schwer auf uns, daß unsere Großväter gezwungen werden konnten, mit Napoleons »Großer Armee« nach Rußland zu ziehen. Dort, wo unter dem Eishauche des Todes die Leichen der Erschlagenen, Erfrorenen und Verhungerten den Weg säumten, blieb auch der badische »Feldgendarm«, der Vater meiner Mutter. Nur einmal hat man noch über sein Schicksal von einem anderen Kriegsteilnehmer etwas gehört. Demnach soll mein Großvater mütterlicherseits mit anderen Reitern in einem Schuppen über Nacht geblieben sein. Die Pferde standen unten, und darüber auf einem Heuboden schliefen die Reiter. In der Nacht zeigten sich die Pferde unruhig. Der Großvater ging hinunter, um nach der Ursache zu sehen, und war von da an – seine Kameraden[16] kümmerten sich nicht weiter um sein Schicksal – verschwunden. Es ist anzunehmen, daß er bei einem feindlichen Überfall niedergemacht wurde.

Das war die korsische Faust; sie preßte Blut aus und Tränen. Und von diesen Tränen der Sorge und der Not wußte meine Mutter aus ihren Kindheitstagen gar viel zu erzählen.

Jetzt wollte sich die leidgebeugte, aber von ihrer Jugend her auch leidgestählte Frau auf meinem Lebenswege neben mich stellen, zunächst als Vorkämpferin, später als Mitkämpferin. Denn bei der kleinen Pension, die sie vom Staate bekam, hatte das Wort vom »Kampf ums Dasein« einen sorgenvollen Klang. Alles opferte sie, selbst ihr bescheidenes Vermögen, um ihrem Sohne eine gute Erziehung und Bildung zu geben. Mit weichen Händen – Mutterhände sind immer weich – hob sie das kleine Stück Leben hinauf ins Licht, damit es wachse und gedeihe. Nicht wild sollte es der Sonne entgegenwachsen. Frühzeitig gab sie ihm eine feste Stütze zum Empor- und Weiterranken. Und diese wegweisende Stütze hieß: Gymnasium. Doch ich eile voraus. Verweilen wir zunächst noch beim kleinen Carl.

Quelle:
Benz, Carl Friedrich: Lebensfahrt eines deutschen Erfinders. Die Erfindung des Automobils, Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Leipzig 1936, S. 13-17.
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